Gilserberg (Hessen)
Gilserberg ist eine Kommune mit derzeit ca. 3.000 Einwohnern im hessischen Schwalm-Eder-Kreis - ca. 30 Kilometer nordöstlich von Marburg gelegen (Kartenskizze 'Schwalm-Eder-Kreis', NNW 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Juden siedelten sich im Dörfchen Gilserberg vermutlich erstmals zu Beginn des 18.Jahrhunderts an; ein Grund für ihre Niederlassung könnte die günstige Verkehrslage an der alten Fernhandels- und Poststraße gewesen sein. Die jüdischen Bewohner lebten verstreut im Dorf, besaßen dort seit dem 18.Jahrhundert eigene Anwesen und hatten auch Anteil an landwirtschaftlichen Nutzflächen; zahlreiche Höfe waren über Generationen hinweg im Besitz der jüdischen Familien.
Die Gemeinde verfügte bis ins ausgehende Jahrhundert über eine Synagoge, die sich in angemieteten Räumlichkeiten befand; um 1895 erwarb ein hiesiger Kaufmann ein nahe der Kirche gelegenes dreigeschossiges Anwesen, das nach einem Umbau zur Synagoge Jahre später der Gemeinde übertragen wurde. Im Januar 1898 fanden die Einweihungsfeierlichkeiten des neuen Synagogen- und Schulgebäudes statt; in einer Einladung dazu hieß es:
Hierdurch erlaube ich mir Euer Hochwohlgeborenen im Namen der hiesigen israelitischen Gemeinde zu der am 12.Januar 1898 Mittags 12 Uhr stattfindenden Einweihungsfeier der hiesigen neuerrichteten Synagoge und Schullokal ergebenst einzuladen.
Respecetsvoll verharret
Der Gemeindeälteste S t a h l
Aus einem Artikel der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 17.1.1898:
... Heute wurde hierselbst die neu erbaute Synagoge eingeweiht, die die hiesige aus nur 10 Familien bestehende Gemeinde unter großen Opfern erbaut hat. Die Einweihung erfolgte durch den Herrn Prov.-Rabb. Dr. Munk aus Marburg; ... Zunächst fand in der alten Synagoge der Abschiedsgottesdienst statt. Im Anschlusse an die Orte "Denn mit Freude zieht aus und in Frieden ..." verstand es der Herr Redner zu zeigen, wie die Gemeindemitglieder trotz der Freude über den nunmehr vollendeten Neubau doch von Wehmut erfüllt sein müssten, ein Haus zu verlassen, das der Erinnerungen an freudige und auch traurige Ereignisse so viele für sie habe. Kein Auge blieb bei diesen Worten tränenleer. Nachdem die Sifrei HaTora (Torarollen) unter Chorgesang ausgehoben, setzte sich der Zug von der alten Synagoge nach dem neuen Bet HaKnesset (Haus der Versammlung) in Bewegung. Unter den Worten eines sinnigen Gedichtes wurde der Schlüssel dem Herr Provinzialrabbiner überreicht, der das Gotteshaus mit den Worten öffnete: Säh HaSchaar laAdonai Zadikim jawou bo ("Dies ist das Tor zum Herrn, Gerechte ziehen durch es hinein"). Nachdem Ma Towu ("Wie lieblich...) gesungen und die Torarollen in den Aron haKodesch (Thoraschrein) eingehoben worden waren, bestieg der Herr Provinzialrabbiner die blumengeschmückte Kanzel und sprach ein warmempfundenes, inhaltreiches Gebet, welchem eine tiefdurchdachte Predigt folgte, ... In dieser zeigte der verehrte Redner, wozu das Gotteshaus dienen soll, wie die Gottesverehrung nicht nur in demselben ihren Platz hat, sondern, dass die ganze Welt den Juden ein Gotteshaus sein muß. ... Der schon genannte Pfarrer Volkenand betrat nunmehr die Kanzel, um als Lokalschulinspektor die Bedeutung der in demselben Hause untergebrachten Volksschule zu beleuchten und insbesondere die Eltern zu ermahnen, das von dem Lehrer in der Schule begonnene Werk der sittlich-religiösen Erziehung im Hause fortzusetzen und mit der Schule Hand in Hand zu gehen. Es berührte äußerst wohltuend, von einem nichtjüdischen Geistlichen an gottgeweihter Stätte derartige Worte der Anerkennung für bewiesene Opferfreudigkeit und warmherzige Ermahnung am Festhalten am ererbten Väterglauben aussprechen zu hören. Die offizielle Feier fand mit dem Mincha-Gebet ihren Schluß, der - wie üblich - Musik und Festbankett folgte.
Synagogengebäude in Gilserberg (hist. Aufn., aus: Isenberg Family Film Collection)
Über das ehem. Synagogengebäude Gebäude liegt folgende Beschreibung vor (aus: Th. Altaras, Synagogen ...): „Der Haupteingang mit Doppeltür und kleinem Windfang führte in die Synagoge, die an der nordwestlichen Seite des Gebäudes platziert war und einen beinahe quadratischen Grundriss hatte (ca. 7,5 x 6,5 m). Der Toraschrein befand sich neben dem Kamin, mittig an der nordöstlichen Wand, das Vorlespult unmittelbar davor, entsprechend waren die Sitzbänke (Stände), die 40 Männern Sitzplätze boten, angeordnet. ... Die zweiseitige, auf vier Stützen ruhende Empore war entlang der südwestlichen und nordwestlichen Wand angebracht und über den Flur im Obergeschoss erreichbar. Der Eingang zum Obergeschoss war an der Rückseite des Gebäudes vorgesehen und vom Hof aus zugänglich. Die Empore hatte 40 Frauenplätze.
Da das Obergeschoss auf der Rückseite nur um 2 Stufen über der Erde erhöht lag, war der Zugang zu der Empore und zum Schulzimmer beinahe ebenerdig, ... Gegenüber der Empore, durch Flur von dieser getrennt, befand sich ... ein großer Schulraum mit einer ca. 38 qm großen Fläche. ...“
Dem Bau angeschlossen waren Schulräume mit Lehrerwohnung; ab 1841 existierte eine jüdische Elementarschule, die - mit kurzen Unterbrechungen - bis ca. 1918 bestand. Auch ein kleines Badehaus gehörte zu den rituellen Einrichtungen der Gilserberger Gemeinde; es stand am Dorfrand.
Zur Besorgung religiöser gemeindlicher Aufgaben war ein Lehrer angestellt, der neben Unterweisung der jüdischen Kinder auch als Vorbeter und Schochet tätig war.
Anzeigen in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 2. Oktober 1884 und vom 9.Februar 1891
Bis um 1900 beerdigten die Gilserberger Juden ihre verstorbenen Gemeindemitglieder auf dem israelitischen Friedhof in Hatzbach; in den beiden folgenden Jahrzehnten soll auch der jüdische Friedhof in Gemünden/Wohra genutzt worden sein; erst danach stand ein kleines Begräbnisgelände am Ort zur Verfügung.
Die Juden Gilserbergs unterstanden dem Provinzial-Rabbinat Marburg.
Juden in Gilserberg:
--- um 1770 ....................... 4 jüdische Familien,
--- 1835 .......................... 34 Juden,
--- 1861 .......................... 54 “ (ca. 11% d. Bevölk.),
--- 1885 .......................... 47 “ ,
--- 1895 .......................... 71 “ (ca. 15% d. Bevölk.),
--- 1905 .......................... 71 “ ,
--- um 1925/30 ................ ca. 70 “ (in 12 Familien),
--- 1933 .......................... 37 “ ,
--- 1938 .......................... 2 jüdische Familien,
--- 1939 (Juni) ................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 262
und Bernd Raubert, Struktur und Geschichte der ländlichen Synagogengemeinde Gilserberg
Um die Jahrhundertwende bestritten die jüdischen Familien Gilserbergs ihren Lebensunterhalt vom Vieh- und Kleinhandel; fast alle betrieben eine kleine Landwirtschaft im Nebenerwerb.
Dorfladen von Jacob Stern (aus: United States Holocaust Memorial Museum)
Bis Ende der 1930er Jahre verließen fast alle jüdischen Bewohner ihr Dorf, da ihnen in zunehmendem Maße ihre Erwerbsgrundlage entzogen wurde; sie siedelten zumeist nach Frankfurt/Main, aber auch nach Marburg über; von hier aus konnten einige emigrieren. Die Zerstörung des Synagogengebäudes durch eine aus Oberbeisheim ankommende SA-Abteilung konnten Gilserberger Bewohner weitgehend verhindern; vermutlich wurden aber Ritualgegenstände vernichtet. Die Thorarollen waren bereits zuvor nach Kassel gebracht worden, wo sie jedoch bei den dortigen Zerstörungsaktionen im November 1938 vernichtet wurden.
Eine Zeitungsnotiz vom 28.Mai 1939 vermerkte:
Gilserberg. (Unser Ort judenfrei). Von früher 11 hier ansässigen jüdischen Familien hat am Donnerstag dieser Woche die letzte unseren Ort verlassen. Gilserberg ist also judenfrei.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden nachweislich zehn aus Gilserberg stammende bzw. länger am Ort ansässig gewesene Personen mosaischen Glaubens Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gilserberg_synagoge.htm).
An die einstige jüdische Gemeinde erinnert nur noch der kleine Friedhof am Ort, der auf Grund seiner kurzen Belegungszeit nur 15 Grabsteine besitzt.
zwei Grabsteine (Aufn. J. Hahn, 2010)
Das einstige Synagogengebäude - anfänglich als Spritzenhaus der Feuerwehr, danach einige Jahre als Kindergarten benutzt - wurde nach dem Krieg grundlegend umgebaut bzw. nach einer Teilabtragung neu errichtet, so dass heute nichts mehr an das ursprüngliche Aussehen des jüdischen Gotteshauses erinnert.
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 262/263
Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945 ?, Königstein im Taunus1988, S. 73 f.
Bernd Raubert, Struktur und Geschichte der ländlichen Synagogengemeinde Gilserberg, in: H. Bambey/u.a., “Heimatvertriebene Nachbarn” - Beiträge zur Geschichte der Juden im Kreis Ziegenhain, Band 2, Verlag Stadtgeschichtlicher Arbeitskreis, Schwalmstadt-Treysa 1993, S. 723 - 783
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945. Hessen II Regierungsbezirke Gießen und Kassel, 1995, S. 172
Gilserberg, in: alemannia-judaica.de (mit zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Barbara Greve (Red.), Die Familie Heimenrath aus Gilserberg, Hessen. 1816-1942, erstellt 2016 (Anm. beinhaltet die Genealogie der Familie)