Jebenhausen (Baden-Württemberg)
Jebenhausen ist seit 1937 ein Stadtbezirk von Göppingen mit derzeit ca. 4.400 Einwohnern (Kartenskizze 'Weitere Region um Stuttgart', aus: wikiwand.com/de/Stuttgart und Kartenskizzen 'Landkreis Göppingen', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0 und Lage von Jebenhausen innerhalb Göppingens, T. 2008, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts erreichte der jüdische Bevölkerungsanteil in Jebenhausen nahzu 50% (!) der Dorfeinwohnerschaft.
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Jebenhausen um 1685 - Andreas Kieser, Landesarchiv Baden-Württ. (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
1777 wurden die ersten jüdischen Familien im kleinen reichsritterschaftlichen Dorf Jebenhausen ansässig; die Initiative dazu ging von dem jüdischen ‚Handelsmann’ Elias Gutmann aus Illereichen (bei Memmingen) aus. Er schloss mit dem Freiherrn von Liebenstein, dem Besitzer des reichsunmittelbaren Ritterguts Jebenhausen, einen zeitlich unbefristeten Vertrag, der eine jüdische Siedlung auf der Gemarkung des Dorfes erlaubte; so entstand neben dem alten Bauerndorf am Weg in Richtung Göppingen ein neuer Ortsteil. Der Zuzug war zunächst auf 20 jüdische Familien begrenzt. Die Ortsherrschaft sicherte ihnen weitgehende Selbstverwaltung und freie Religionsausübung zu. Innerhalb weniger Jahrzehnte vergrößerte sich das junge Gemeindewesen; zahlreiche jüdische Familien siedelten sich an; zudem war eine hohe Geburtenrate zu verzeichnen. 1805 ging die reichsritterschaftliche Zeit zu Ende, und es begann die der württembergischen Regierung; christliche wie jüdische Einwohner Jebenhausens leisteten nun einen Eid auf die neue königliche Herrschaft. Dies bedeutete aber nicht, dass die jüdischen Bewohner mit den christlichen rechtlich gleichgestellt wurden. Um die Mitte des 19.Jahrhunderts erreichte die jüdische Siedlung mit ca. 550 Bewohnern fast die gleiche Größe wie das christliche Jebenhausen. Es war eine der größten jüdischen Landgemeinden im Königreich Württemberg.
Jüdischer Teil Jebenhausens – rechts am Bildrand das Christendorf (Abb. aus: edjewnet.de/spuren/)
Ein Großteil der jüdischen Landbevölkerung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts war äußerst arm, lebte von Almosen oder ernährte sich mehr schlecht und recht vom Hausierhandel. In den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens bot auch die Gemeinde zu Jebenhausen in wirtschaftlicher Hinsicht ein armseliges Erscheinungsbild. Der württembergische Oberamtmann zu Göppingen, Pistorius, hob 1793 in einem Bericht an die Stuttgarter Regierung hervor: „ ... Nur eine Einzige vermögl. Juden Famille in Jebenhausen existiret, die en gros commerciret, und die Meßen zu Frankfurth und Leipzig besuchen kan, und “Aber sowohl dieser als der übrigen Juden Famillen Gewerb sich nicht bloß auf die Stadt und Oberamt Göppingen einschränket, sondern vielmehr diese Juden nicht nur in dem ganzen Schwäb. Creiß, sondern auch in der Pfalz, Niederlanden, Schweiz, Sachsen und anderen entfernten Gegenden herum irren und ihre Nahrung kümmerlich suchen.”
Haupterwerbszweig der jüdischen Familien Jebenhausens war der Hausier- und Viehhandel. So zogen wochentags die jüdischen Hausierer „mit dem Zwerchsack auf dem Rücken“ übers Land, um in den umliegenden Ortschaften ihre Waren, u.a. Tuche, Lederwaren, Kleintextilien, zum Kauf anzubieten. Von der christlichen Kaufmannschaft wurde diese Handelstätigkeit der Juden nicht gern gesehen; so wurden Versuche unternommen, diese von staatlicher Seite unterbinden zu lassen; so hieß es z.B. in einer Eingabe mehrerer Göppinger Kaufleute aus dem Jahre 1828:
„ ... Alles dieses gereicht nicht nur den sämtlichen vaterländischen Christen zum unersetzlichen Nachteil, sondern es strebt gegen alle, den württembergischen Kauf- und Gewerbsleuten, den sämtlichen Staatsbürgern eingeräumten Rechte, es untergräbt das Wohl des Vaterlandes, und wird so lange fortdauern, als nicht von Seiten der königlichen Regierung sehr kräftige Maßregeln dagegen ergriffen werden. “
Gegen diese Verleumdungen setzte sich der Vorsteher der Jebenhausener Judengemeinde erfolgreich zur Wehr.
Um die Mitte des 19.Jahrhunderts war ein Teil der jüdischen Dorfbevölkerung städtisch-bürgerlich akkulturiert. Die Judenschaft Jebenhausens verfügte nun nicht mehr über ein homogenes Sozialgefüge; die reich gewordenen Viehhändler bildeten z.B. eine eigene ‚Klasse’, die sich vom Rest der Gemeinde auch durch ihre religiöse Haltung abhob.
Eine der ersten jüdischen Gaststätten in Jebenhausen war die Wirtschaft „Zum König David”, in der unter Beachtung der religiösen Speise- und Reinheitsgebote eine koschere Küche angeboten wurde.
Hist. Postkarte des Wirtshauses "König David" (Abb. aus: edjewnet.de/spuren/) und Wirtshausschild „König David“
Unmittelbar nach ihrer Niederlassung richteten die hiesigen Juden einen Betsaal ein, der für die schnell wachsende jüdische Gemeinschaft bald nicht mehr ausreichte; deshalb erwarb man 1800 ein Grundstück in der Boller Straße und weihte vier Jahre später die neue Synagoge ein; der Bau wurde teilweise durch Spenden befreundeter Gemeinden finanziert.
Synagoge in Jebenhausen (hist. Aufn. um 1900) und Grundstein der Synagoge (Aufn. Stadtarchiv Göppingen)
Das Synagogengebäude war ein schlichter Saalbau mit Rundbogenfenstern. Mitglieder der Gemeinde hatten Teile der Innenausstattung gestiftet.
Motive (Stickerei) auf dem Thora-Vorhang (Sammlung Peter Müller)
Unweit der Synagoge befand sich bis in die 1870er Jahre eine Mikwe.
Eine in Jebenhausen seit 1824 existierende jüdische Volksschule wurde 1865 wegen zu geringer Schülerzahl geschlossen; die noch betriebene kleine private Konfessionsschule stellte Anfang der 1890er Jahre ihren Betrieb ein.
Stellenausschreibungen für die Lehrerstelle von 1877 und 1887
Seit 1832 war Jebenhausen Sitz eines Rabbinats; als sich 1867 die israelitische Gemeinde in Göppingen konstituierte und dem Rabbinat Jebenhausen zugeteilt wurde, zog der letzte Jebenhausener Rabbiner im Sommer 1868 nach Göppingen. Das Rabbinat Jebenhausen wurde im Jahre 1874 offiziell aufgelöst.
Der jüdische Friedhof war unmittelbar nach der Ansiedlung jüdischer Familien 1778 in Jebenhausen angelegt worden; er befand sich außerhalb der Siedlung an einem Hang an der Straße Richtung Göppingen. Bis Anfang der 20.Jahrhunderts wurden hier auch die Verstorbenen der jüdischen Gemeinde Göppingen und die der nahen Umgebung beerdigt.
alte Grabstelen (Aufn. R. Klotz, um 1970)
Juden in Jebenhausen:
--- 1777/78 ......................... 31 Juden,
--- 1790 ............................ 144 “ ,
--- um 1800 ..................... ca. 200 “ ,
--- 1807 ............................ 250 “ ,
--- 1818 ............................ 324 “ ,
--- 1830 ............................ 485 “ ,
--- 1838 ............................ 537 “ (ca. 48% d. Bevölk.),
--- 1845 ............................ 550 “ ,
--- 1854 ............................ 534 “ ,
--- 1862 ............................ 392 “ ,
--- 1871 ............................ 127 “ ,
--- 1886 ............................ 61 “ ,
--- 1895 ............................ 25 “ ,
--- 1910 ............................ 4 “ .
Angaben aus: Aron Tänzer, Die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen, S. 96/97 und S. 399
Nach 1840/1850 wanderten immer mehr Jebenhausener Juden ab; ca. 300 Personen sahen ihre wirtschaftliche Zukunft in Nordamerika und emigrierten; andere zogen in die aufstrebende Industriestadt Göppingen, die bessere ökonomische Perspektiven bot. In den 1890er Jahren wohnten nur noch wenige ältere Juden in Jebenhausen. Aus den „Schwarzwälder Dorfgeschichten” von Berthold Auerbach: „Gestorben! Ausgewandert! hört man hier ständig, wenn man nach dem und jenem fragt. Zu der Amerikasucht ist nun die Freizügigkeit auf dem Lande gekommen, und es ist wie in einer Gesellschaft: wenn Einer zum Fortgehen aufsteht, stehen die anderen auch auf und haben keine Ruhe mehr. Drüben in Schwandorf steht die Synagoge verödet und der jüdische Kirchhof verlassen, es sind keine Juden mehr da. ...”
Aus einem Erlebnisbericht um 1890: „ ... Von den Freunden der Jugendzeit sind längst die meisten aus der Heimat ausgewandert, ... Das Dorf ist nicht mehr der Ort, den ich gekannt habe. Die Menschen in den vertrauten Gassen sind Fremde. Dort, wo einst Freunde und Verwandte aus den Fenstern schauten, sehe ich nur unbekannte, unbeteiligte Gesichter. Die eine oder andere Familie wohnt noch hier, der Rest einer großen und stolzen Gemeinde. Hier und dort ist an einem Türpfosten noch der Abdruck des Haussegens geblieben, ...”
Straßenzug in Jebenhausen (aus: Sammlung P. Müller)
Die jüdische Kultusgemeinde Jebenhausen wurde im Dezember 1899 offiziell aufgelöst; die wenigen noch hier lebenden Juden schlossen sich der Kultusgemeinde Göppingen an.
Verkaufsanzeige (aus: "Der Israelit" vom 20.9.1900)
1900 wurde das Synagogengrundstück verkauft und diente anschließend als Lagerraum; 1905 wurde es abgerissen.
Abriss des Synagogengebäudes 1905 (hist. Aufn., Stadtarchiv Göppingen)
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem wurden elf aus Jebenhausen stammende jüdische Bürger Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/jebenhausen_synagoge.htm).
Von der Einrichtungen der einst blühenden jüdischen Landgemeinde überdauerte nur der Friedhof; er blieb während der NS-Zeit von Zerstörungen verschont und weist auf einer Fläche von ca. 2.400 m² heute noch etwa 350 Grabsteine auf; einige sind teilweise tief in den Erdboden versunken.
Teilansichten des jüdischen Friedhofs in Jebenhausen (Aufn. D. 2019, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
In der einstigen jüdischen Siedlung Jebenhausens, der „Judencolonie“, sind bis auf den heutigen Tag noch mehr als 50 Gebäude erhalten.
Jüdisches Museum (Aufn. aus: garni-elisabeth.de, 2002)
In der ehemaligen evangelischen Dorfkirche des Stadtteils Jebenhausen wurde 1992 ein Museum eingerichtet, das über die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen informiert und an die ehemalige hier beheimatete Judengemeinde erinnert; es war die erste museale Einrichtung ihrer Art in Baden-Württemberg.
"Stolpersteine", verlegt Vorderer Berg (Aufn. PB 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Auf dem Lern- u. Erinnerungsweg „Jüdisches Leben in Jebenhausen“ - initiiert vom "Verein Haus Lauchheimer – Erhalt und Förderung des jüdischen Kulturerbes Jebenhausen“ - sind jüngst neun großformatige gläserne, mit Text u. Bild versehene Stelen entlang der Gebäude der ehemaligen jüdischen Siedlung aufgestellt worden, die über die ehemalige jüdische Historie Jebenhausens informieren. Der Weg beginnt am Schloss und endet am Friedhof.
In Großeislingen hatte sich vor fast 500 Jahren eine jüdische Gemeinde gegründet. Unter dem Schutz der Herren von Rechberg bildete sich um 1520 die größte Ansiedlung von Juden auf heutigen Kreisgebiet – noch vor Gründung der israelitischen Gemeinde von Jebenhausen. Die jüdischen Familien sollen mitten im Dorf gelebt haben; allerdings war deren Ansiedlung nur von kurzer Dauer; nach etwa 30 Jahren sollen sie das Dorf wieder verlassen haben.
Weitere Informationen:
Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg, Dissertation Philosophische Fakultät Universität Tübingen, 1969
Aron Tänzer, Die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen, Hrg. K.H.Rueß, Anton H. Konrad-Verlag Weißenhorn 1988, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göppingen", Band 23 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1927)
Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale - Geschichte - Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1966, S. 82 - 84
Dieter Kauß, Juden in Jebenhausen und Göppingen 1777 - 1945, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göppingen", Band 16, Göppingen 1981
G. Munz/W. Lang, Die Jebenhäuser Judengemeinde und ihre Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Göppingen, in: "Geschichte regional. Quellen und Texte aus dem Kreis Göppingen", No. 2/1982 S. 134 - 153
Hermann Dicker, Aus Württembergs jüdischer Vergangenheit und Gegenwart, Bleicher Verlag, Gerlingen 1984
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 194 f.
Stefan Rohrbacher, From Wuerttemberg to America: A 19th-century village on its way to the New World, o.O. 1989
Naftali Bar-Giora Bamberger, Die jüdischen Friedhöfe Jebenhausen und Göppingen. Memor-Buch, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göppingen", Band 24, Göppingen 1990
Benigna Schönhagen, Museen des Landes: Jüdisches Museum Göppingen in der Alten Kirche Jebenhausen, in: "Schwäbische Heimat", No. 2/1993, S. 122 - 129
Gil Hüttenmeister/Karl-Heinz Rueß, Jüdisches Museum Göppingen-Jebenhausen. Begleitbuch zur Ausstellung, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göppingen", Band 29, Anton H.Konrad Verlag, Weißenhorn 1992
Gedenkstätten in Baden-Württemberg, Hrg. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 1998, S.19
Stefan Rohrbacher, Die jüdische Landgemeinde im Umbruch der Zeit. Traditionelle Lebensform, Wandel und Kontinuität im 19.Jahrhundert, Göppingen 2000
Karl-Heinz Rueß, Würdiges Gedenken und lebendige Geschichtsvermittlung: Das Jüdische Museum in Göppingen-Jebenhausen, in: Orte des Gedenkens und Erinnerns in Baden-Württemberg, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 2007, S. 134 - 139
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 155 – 158
Jebenhausen, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Gemeindehistorie)
Stadt Göppingen – Archiv u. Museen (Hrg.), Juden in Jebenhausen und Göppingen, online abrufbar unter: edjewnet.de/spuren/spuren.htm
Haus Lauchheimer – Erhalt und Förderung des jüdischen Kulturerbes Jebenhausens e.V., online abrufbar unter: haus-lauchheimer.de
Stolpersteininitiative Göppingen, Jebenhausen, online abrufbar unter: stolpersteine-gp.de
Margit Haas (Red.), Jüdischer Friedhof als Zeichen der Assimilierung, in: "NWZ - Südwestpresse" vom 16.4.2015
Margit Haas (Red.), Jebenhausen: Lernweg soll an jüdische Geschichte erinnern, in: „NWZ - Südwestpresse“ vom 28.3.2017
Margit Haas (Red.), Stelen erinnern an jüdisches Leben, in: „NWZ - Südwestpresse“ vom 6.10.2017
Corinna Meinke (Red.), Inge Auerbacher eröffnet jüdischen Erinnerungsweg – Holocaust-Überlebende in Göppingen, in: „Stuttgarter Nachrichten“ vom 15.10.2017
Hans Mayer (Red.), Erinnerung an Vergessenes – Das Jüdische Museum eröffnet mit einem neuen Ausstellungskonzept, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 7.2.2019