Johannisburg (Ostpreußen)
Die ehemalige Kreisstadt Johannisburg lag im masurischen Grenzgebiet und hatte sich im Schutze einer Ordensburg entwickelt; die Stadt war wirtschaftliches Zentrum eines agrarisch ausgerichteten Umlandes. Heute heißt die Stadt Pisz (vormals auch Jansbork) und hat derzeit ca. 19.000 Einwohner (Ausschnitt aus hist. Karte 'Kreis Johannisburg', aus: wikipedia.org, Bild-PD-alt und Kartenskizze 'Polen' mit Pisz markiert, aus: mapa.livecity.pl).
Die ersten jüdischen Familien siedelten sich hier vermutlich um 1810 an; in den 1830/1840er Jahren nahm deren Zahl deutlich zu. Die Synagogengemeinde Johannisburg gründete sich offiziell 1847 bzw. 1854; zu ihr gehörten auch die wenigen jüdischen Familien im Kreisgebiet. Durch Zuwanderung - vor allem aus Polen und anderen preußischen Gebieten (vor allem aus Westpreußen) - wuchs die Zahl der Gemeindemitglieder in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts weiter an. Neben den alteingesessenen Juden mit Staatsbürgerrecht gab es eine hier eine Reihe polnischer Juden, die nur über ein befristetes Aufenthaltsrecht verfügten.
1855 (andere Angabe: 1864) ließ die jüdische Gemeinde außerhalb der Altstadt an der Lycker Straße/Lupker Chaussee eine Synagoge erbauen; vermutlich wurde an gleicher Stelle einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg ein neues Gebäude errichtet.
Über einen eigenen Friedhof am südlichen Stadtrand verfügte die Johannisburger Judenschaft vermutlich bereits seit den 1820er Jahren.
Juden in Johannisburg:
--- 1843 .......................... 158 Juden (in ca. 25 Familien),
--- 1885 .......................... 157 “ (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1902 .......................... 102 “ ,
--- 1910 .......................... 146 “ (ca. 3% d. Bevölk.),
...................... ca. 260 “ ,* * im Kreisgebiet
--- 1925 .......................... 125 “ ,
--- 1933 ...................... ca. 190 “ ,
--- 1938 (Febr.) .................. 59 “ .
Angaben aus: Andreas Kossert, Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde zu Johannisburg/Ostpreußen
und The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 1), S. 577
Markt mit Rathaus, hist. Ansichtskarte um 1900 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Die um 1900 einsetzende Agrarkrise ließ große Teile der Bevölkerung abwandern, darunter auch Juden. Für den städtischen Handel und das Gewerbe der Stadt waren Juden eine tragende Säule; Haupterwerbszweig der zugewanderten polnischen Juden, die hier Gastrecht genossen, war das Fischereigewerbe, das an den fischreichen Seen betrieben wurde.
Zu dem nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt propagierten antipolnischen Nationalismus gesellte sich Anfang der 1930er Jahre der Antisemitismus; die NSDAP kam in Johannisburg zu überwältigenden Wahlergebnissen - am 5.3.1933 holten die Nationalsozialisten 85,4% (!) der Stimmen; die Bevölkerung stand hier einmütig hinter der NS-Politik. Mit der Machtergreifung änderte sich dann schlagartig das Leben der jüdischen Einwohnerschaft Johannisburgs. Drangsalierungen und alltägliche Ausschreitungen einheimischer fanatischer Nationalsozialisten schüchterten die Menschen zunehmend ein. Schikanen und Boykottmaßnahmen verschlechterten die wirtschaftliche Situation der jüdischen Geschäftsleute. Sie mussten ihre Geschäfte verkaufen, die nun in „arische“ Hände übergingen. Mutwillige Zerstörungen und Schmierkampagnen taten ein übriges. Zwar versuchte der Bürgermeister dem Treiben der NSDAP Einhalt zu gewähren, doch auf die Dauer konnte auch er sich dem „Volkswillen“ nicht widersetzen; so auch nicht, als NSDAP-Angehörige ‚deutsche’ Kunden vor jüdischen Geschäften fotografierten und die Aufnahmen dann in Schaukästen öffentlich unter dem Titel „Judenknechte” aushängten. 1935/1936 war die hiesige Synagoge Ziel mehrerer Anschläge. Im August 1935 wurden sämtliche jüdischen Geschäfte mit Parolen beschmiert. Zahlreiche jüdische Familien verließen Johannisburg, meist in Richtung Berlin.
Im Berliner "Gedenkbuch" sind auch 43 ermordete Juden aus der Stadt Johannisburg und Umland verzeichnet.
Spuren des jüdischen Friedhofs sind nur schwer zu finden, da die Vegetation Gräber und Grabsteinrelikte völlig überwuchert hat.
Grabsteinrelikt vom jüdischen Friedhof (Aufn. aus: kirkuty.xip.pl)
Im östlich von Johannisburg gelegenen Bialla (poln. Biala Piska) gab es in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts eine kleine israelitische Gemeinde, die zumeist aus zugewanderten polnischen Juden bestand. Eine Synagoge und ein in den 1860er Jahren angelegter Friedhof gehörten zu den gemeindlichen Einrichtungen. Im Gefolge der Agrarkrise wanderten fast alle jüdischen Familien wieder aus dem Dorf ab; um 1900 war die Gemeinde in Auflösung begriffen. Die wenigen noch in Bialla verbliebenen Juden gehörten fortan zur Johannisburger Gemeinde. Im Jahre 1937 sollen nur noch neun Bewohner mosaischen Glaubens im Ort gelebt haben.
Weitere Informationen:
Emil Johannes Guttzeit, Der Kreis Johannisburg, Würzburg 1964
Andreas Kossert (Bearb.), Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde zu Johannisburg/Ostpreußen, in: M.Brocke/M.Heitmann/H.Lordick (Hrg.), Zur Geschichte und Kultur der Juden in Ost- und Westpreußen, Georg Olms Verlag, Hildesheim/u.a., 2000, S. 67 - 86
The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 1), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 577/578
Brigitte Jäger-Dabek, Jüdisches Leben in Ostpreußen (Aufsatz), o.O. o.J.
Pisz, in: sztetl.org.pl
Pisz (Jewish cemetery), in: kirkuty.xip.pl