Jöhlingen (Baden-Württemberg)
Jöhlingen ist heute ein Ortsteil von Walzbachtal im Landkreis Karlsruhe - ca. 15 Kilometer östlich der Kreisstadt gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Karlsruhe', F. Paul 2009, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Nach Ende des Dreißigjährigen Krieges sollen die ersten jüdischen Familien Aufnahme im speyrischen Dorfe gefunden haben; dem Domkapitel mussten sie ein jährliches Schutzgeld von zehn Golddukaten zahlen. Erst im Laufe des 19.Jahrhunderts bildete sich eine Gemeinde heraus. Seit 1802 verfügte die Jöhlinger Judenschaft über eine eigene Synagoge in der Synagogen-, später Friedrichstraße; eine Schule und ein Ritualbad waren dem Gebäude angeschlossen.
Angebote für die Lehrerstelle, aus: "Großherzogl. Badisches Anzeige-Blatt für den See-Kreis" vom 24.9.1853 und "Der Israelit" vom 4.12.1872
Aus dem Jahre 1822 liegt ein Beschwerdebrief des Pfarrers von Jöhlingen über die jüdischen Schüler vor, die damals die katholische Ortsschule besuchten:
„ ... Der Schulbesuch dieser Judenkinder, wovon der größere Theil gewöhnlich viele Fähigkeiten zeiget, ist, ihre Sabbathe und vielen Feiertage abgerechnet, ziemlich regelmäßig. Nur die Knaben, wenn sie einmal das Alter erreichen, wie sie mit 13 Jahren und einem Tage, feierlich als Mitglieder der größeren Gemeinde in die Synagoge eingeführt und aufgenommen werden, machten dem Pfarramte bisher viel zu schaffen, da sie alsdann nicht nur schon ein Vierteljahr zuvor, wo sie täglich von ihrem Baacher und zugleich Ortsrabbiner auf die Ceremonie vorbereitet und mit viele Gedächtnisworten geplaget werden, die Christenschule schlecht besuchen, sondern auch nach der Aufnahme in die Synagoge gar nicht mehr in die Realschule wollen, und, um dem Zwange auszuweichen, sich gewöhnlich auf einige Zeit auswärts entfernen. ...”
Verstorbene Glaubensgenossen wurden über viele Jahrzehnte auf dem Obergrombacher Verbandsfriedhof beerdigt; erst 1888 - oder 1898 - stand der Gemeinde in Jöhlingen ein eigenes Bestattungsareal zur Verfügung; es lag außerhalb des Ortes an der Straße nach Bretten.
Aufn. F.C.Müller, 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-S A 3.0
Die Gemeinde Jöhlingen war dem Rabbinatsbezirk Bretten zugeteilt.
Juden in Jöhlingen:
--- 1714 ........................... 6 jüdische Familien,
--- 1732 ........................... 2 “ “ ,
--- 1825 ........................... 85 Juden,
--- 1875 ........................... 99 “ ,
--- 1900 ........................... 66 “ ,
--- 1910 ........................... 46 “ ,
--- 1924 ........................... 19 " ,
--- 1933 ........................... 16 “ ,
--- 1940 (Sept.) ................... 7 “ ,
(Nov.) .................... keine.
Angaben aus: Jürgen Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, S. 381
Die schon länger vorhandenen Spannungen zwischen der katholischen Bevölkerungsmehrheit und der jüdischen Minderheit eskalierten während der 1848-Revolution, als es auch in Jöhlingen zu Übergriffen auf die ortsansässigen Juden kam. Aus Furcht vor weiteren Repressalien gaben die verängstigten jüdischen Bewohner „freiwillig“ eine Verzichtserklärung ab, um den gegen sie aufgestauten Unmut abzumildern; in der Erklärung hieß es u.a.:
„ ... Wir verzichten von heute an auf allen und jeden Bürgernutzen, den wir vermög unseres angeborenen Bürgerrechts anzusprechen haben, für uns und unsere Nachkommen aus freien Willen und ohne Zwang und fremdes Zutun. Ferner erklären die hiesigen Schutzbürger ... nie von der Gemeinde Jöhlingen das definitive Bürgerrecht anzusprechen oder irgendeinen Bürgernutzen zu verlangen; überhaupt verzichten wir auf jeden Genuß, den die Bürger christlicher Konfession ansprechen. ...”
Nach dem Abklingen der Unruhen erhielten die jüdischen Bewohner ihre Rechte zurück. Im Laufe des 19.Jahrhunderts verbesserte sich allgemein das christlich-jüdische Verhältnis, sodass von einer weitgehenden Integration der jüdischen Familien in ihr Umfeld gesprochen werden kann.
Zu Beginn der NS-Zeit lebten nur noch wenige jüdische Familien in Jöhlingen; die beiden jüdischen Geschäfte konnten sich bis 1938 noch halten. Während der „Reichskristallnacht“ wurden die beiden Läden von einem auswärtigen SA-Kommando demoliert und das Synagogengebäude zerstört; die Ruine blieb bis in die 1950er Jahre stehen. Die letzten sieben jüdischen Bewohner Jöhlingens wurden Ende Oktober 1940 ins südfranzösische Gurs verschleppt; nur drei von ihnen überlebten.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind insgesamt zehn aus Jöhlingen stammende jüdische Bewohner der "Endlösung" zum Opfer gefallen (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/joehlingen_synagoge.htm).
Als einziges bauliches Relikt erinnert heute noch das ca. 1.250 m² große Areal des jüdischen Friedhofs mit seinen 46 Grabsteinen an die ehemalige israelitische Gemeinde des Ortes.
Jüdischer Friedhof in Jöhlingen (Aufn. Frank C. Müller, 2009 und Badener, 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)
Relikte des ehem. Synagogengebäudes (Aufn. um 1955)
Gegenüber dem einstigen Standort der Synagoge trägt eine Bronzetafel die Inschrift:
Hier gegenüber, Friedrichstr.2, stand die Synagoge der jüdischen Gemeinde Jöhlingen
zerstört am 10.November 1938 durch die Macht der Gewalt.
Besinnung und Wachsamkeit muss Mahnung und Aufgabe für die Zukunft sein.
Im Gedenken an die im Oktober 1940 erfolgte Deportation jüdischer Familien nach Gurs wurde im November 2008 in Jöhlingen-West ein Mahnmal eingeweiht; der Inschriftentext lautet:
MAHNMAL FÜR DIE IM JAHRE 1940 NACH GURS VERSCHLEPPTEN JÖHLINGER JUDEN
Am 22.Oktober 1940 wurden an 137 badischen Orten über 5.600 jüdische Mitbürger – darunter auch aus der Gemeinde Jöhlingen – in das südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert. Viele von ihnen kamen dort ums Leben oder wurden später in den Vernichtungslagern im Osten ermordet. Das Mahnmal-Projekt ruft insbesondere Jugendliche dazu auf, Formen des Erinnerns und Gedenkens an das Schicksal der Verschleppten zu entwickeln und sich für Respekt und Toleranz einzusetzen. Ein identisches Memorial steht als Teil des zentralen Mahnmals in Neckarzimmern.
Okumenisches Jugendprojekt, November 2008
Deportationsmahnmal in Jöhlingen und in Neckarzimmern (Aufn. Ham, 2010, aus: ka.stadtwiki.net und mahnmal-neckarzimmern.de)
Die Doublette des Mahnmals – es ist eine Arbeit zweier Schüler des Ludwig-Marum-Gymnasiums Pfinztal - befindet sich am zentralen Gedenkort für die deportierten badischen Juden in Neckarzimmern. Zeitgleich wurden in Jöhlingen im Rahmen dieses Schülerprojektes des Ludwig-Marum-Gymnasiums in Pfinztal sechs sog. „Stolpersteine“ in der Bahnhofstraße und Jöhlingerstraße verlegt.
fünf "Stolpersteine" (Aufn. Joachim Dehm, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Weitere Informationen:
F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden - Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Band 19, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1968, S. 142/143
Jürgen Protz, Die jüdische Gemeinde von Jöhlingen, unveröffentlichtes Manuskript, o.J.
Barbara Döpp (Bearb.), Der jüdische Friedhof in Jöhlingen-Walzbachtal, Unveröffentlichte Grunddokumentation des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg, 1993
Jürgen Stude, Geschichte der Juden im Landkreis Karlsruhe, Hrg. Landratsamt Karlsruhe, Verlag Regionalkultur, 1997, S. 84 und S. 381/382
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 501 - 503
Jöhlingen, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Jüdisches Leben im Kraichgau e.V. (Bearb.), Stolpersteine in Jöhlingen - Ein Projekt der Geschichts-Neigungskurse des Melanchthon-Gymnasiums Bretten 2008/09, online abrufbar unter: jlk-ev.de
Auflistung der in Jöhlingen verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikiwand.com/de/Liste_der_Stolpersteine_in_Walzbachtal
Jüdisches Leben in Jöhlingen – Ausstellung des Heimat- u. Kulturvereins Walzbachtal e.V., Oktober 2022 (in Verbindung mit der Ausstellung „Dem Vergessen entrissen – Jüdisches Leben im Kraichgau)