Hirschaid (Oberfranken/Bayern)
Das ehem. Pfarrdorf Hirschaid ist seit 1952 ein Markt im oberfränkischen Landkreis Bamberg mit derzeit ca. 12.500 Einwohnern; der Ort liegt etwa 15 Kilometer südöstlich von Bamberg; diesem sind zahlreiche Dörfer angeschlossen (Kartenskizze 'Landkreis Bamberg', aus: ortsdienst.de/bayern/landkreis-bamberg).
Um 1820/30 erreichte die Zahl der Angehörigen der jüdischen Gemeinde Hirschaid ihren Zenit; damals gehörte jeder 6. Dorfbewohner dem mosaischen Glauben an.
Im südlich von Bamberg gelegenen Dorf Hirschaid lebten gegen Ende des 16.Jahrhunderts einige jüdische Familien: doch bereits in der zweiten Hälfte des 15.Jahrhunderts lassen sich vereinzelt Juden hier nachweisen. Ihre Gottesdienste hielt die Gemeinde zunächst in Privaträumen ab, seit 1735 im Hause der Familie Jacob in der Nürnberger Straße; hier befand sich auch eine Mikwe. Als die bisherige Synagoge baufällig geworden war, beschloss die Hirschaider Judenschaft um 1830, eine neue zu bauen; realisiert wurden die Planungen aber erst 20 Jahre später.
Zwischen den Gemeindeangehörigen und dem Bamberger Rabbiner Samson Wolf Rosenfeld gab es zwischen 1830 und 1840 erhebliche Streitigkeiten um die Einführung einer liberaleren Gottesdienstordnung. In einem Bericht klagte der Rabbiner folgendermaßen über den Zustand der Gemeinde: „ ... Die Judenschaft zu Hirschaid zeichnete sich früher durch ein schönes Benehmen in der Synagoge, und durch die willfährige Aufnahme der Ermahnungen des Rabbinats vortheilhaft aus, sämtliche Mitglieder waren auch von dem Wunsche beseelt, eine neue Synagoge zu erhalten, um dem Gottesdienste nach Gebühr mehr Würde geben zu können. Dies alles änderte sich seit ungefähr zehn Monaten. Man sucht den bereits beschlossenen Synagogenbau zu hintertreiben. Von verschiedenen Gemeindemitgliedern mußte das Rabbinat öfters die Klage hören, daß geplaudert, gelacht und - wenn Jemand etwas später eintritt - gezischt in der Synagoge werde. Die flachen, runden Mützen, welche beim Gebete noch üblich waren, wurden alle zugleich aus den Pulten in der Synagoge heimlicherweise verschleppt. ...” Die jahrelangen Diskussionen führten dazu, dass die Pläne über das Aussehen der Synagoge mehrfach abgeändert wurden. 1851 wurde dann in der heutigen Nürnberger Straße das neue Gotteshaus eingeweiht. Zur Finanzierung des nun kostenreduzierten Baues hatten Kollekten in anderen jüdischen Gemeinden Bayern beigetragen.
erste Planskizze der Synagoge (von 1845)
Synagoge, zweites Haus von rechts (hist. Aufn.)
Von 1883 bis zu seinem Tode (1928) stand der jüdische Lehrer Abraham Rau im Mittelpunkt des Gemeindelebens. Aus einem Nachruf: „ ... Hauptlehrer a.D. Abraham Rau in Hirschaid ... gehörte zu den immer seltener werdenden Beamten, deren ganze Lebensarbeit einer einzigen Gemeinde gewidmet ist. Kurz nach seinem im Jahre 1883 erfolgten Seminaraustritt kam er nach Hirschaid, wo er, zuerst als Religionslehrer, dann vom Jahre 1903 ab als Volksschullehrer, im ganzen 46 Jahre wirkte. Auch als vor einigen Jahren seine Schule infolge Kindermangels aufgelöst wurde, blieb er seiner Gemeinde, die wie zu einem Vater zu ihm aufschaute, treu. Die hohe und allseitige Verehrung, deren er sich erfreute, fand bei seiner Beerdigung ebenso beredte wie ergreifenden Ausdruck.“ Seit 1902/1903 existierte in Hirschaid eine jüdische Elementarschule, deren Schülerzahl aber immer sehr gering blieb; ca. 20 Jahre später musste sie wegen Schülermangels geschlossen werden; sie war damals die letzte jüdische Volksschule, die in Oberfranken noch bestanden hatte.
aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 13.9.1876
Familienidyll im Hof der jüd. Schule (um 1925)
(aus: infranken.de/regional/bamberg/Hirschaids-alte-Judenschule-geht-nicht-unter;art212,219450)
Bis zu Beginn des 19.Jahrhunderts begruben die Juden Hirschaids ihre Verstorbenen auf dem mehr als 20 Kilometer entfernten jüdischen Friedhof bei Zeckern; ab ca. 1820 erhielten sie - gemeinsam mit Gunzendorf - einen Begräbnisplatz bei Buttenheim zugewiesen (als Eigentümerin des Friedhofs war im Grundbuch die Gemeinde Hirschaid eingetragen). Von einer schweren Schändung des Friedhofs (im Dez. 1931) berichtete die Zeitschrift "Der Israelit" in ihrer Ausgabe vom 28. Januar 1932 wie folgt:
Kurznotiz über die Friedhofsschändung
Die Hirschaider Gemeinde unterstand zunächst zum Rabbinat Adelsdorf; nach dessen Auflösung war der Bamberger Distriktsrabbiner zuständig.
Juden in Hirschaid:
--- 1675 ........................ 30 Juden,
--- 1812 ........................ 83 “ ,
--- 1824 ........................ 20 jüdische Familien (Matrikel),
--- 1832 ........................ 104 Juden (ca. 18% d. Dorfbev.),
--- 1852 ........................ 79 “ ,
--- 1875 ........................ 51 “ ,
--- 1900 ........................ 58 “ ,
--- 1910 ........................ 65 “ ,
--- 1925 ........................ 65 “ (ca. 4% d. Bevölk.),
--- 1933 ........................ 64 “ ,
--- 1938 (Sept.) ................ 43 “ ,
--- 1941 ........................ 26 “ ,* * andere Angabe: 3 Pers.
--- 1942 ........................ keine.
Angaben aus: Klaus Guth (Hrg.), Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800 - 1942), S. 197
und Baruch Z.Ophir/F.Wiesemann (Hrg.), Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945, S. 135
Im 19.Jahrhundert übten die hier ansässigen Juden recht unterschiedliche Berufe aus: es gab Kleinhändler, Handwerker und auch Landwirte. Die wirtschaftlichen Aktivitäten der jüdischen Bevölkerung trugen erheblich dazu bei, dass sich Hirschaid zu einer Großgemeinde entwickelte. Besonders der überregionale Großviehhandel brachte dem Ort wirtschaftliche Vorteile. Ab der Mitte des 19.Jahrhunderts zogen immer mehr jüdische, aber auch christliche Familien aus Hirschaid weg - meist in Richtung Nordamerika; ab 1890 blieb die Zahl der Hirschaider Juden dann nahezu konstant. Anfang der 1930er Jahre lebten die Hirschaider Juden ausschließlich vom Handel, größtenteils noch von dem mit Vieh. Fast alle Familien wohnten in der heutigen Nürnberger Straße bzw. in der Rathausstraße. 1935 lebten noch 17 jüdische Familien in Hirschaid, zwischen 1936 und 1939 wanderten 30 Bürger mosaischen Glaubens aus - in die USA, nach Palästina oder Südafrika.
Am frühen Morgen des 10.November 1938 setzten SA-Angehörige aus Bamberg die Synagoge in Brand und das Gebäude brannte völlig nieder; die Kosten der Trümmerbeseitigung wurden den Juden in Rechnung gestellt. Das Grundstück ging anschließend an die Kommune über. Auch das jüdische Schulhaus wurde nach der „Kristallnacht“ von der Ortsverwaltung beschlagnahmt und offiziell im Frühjahr 1939 „angekauft“. 1942 wurden die noch in Hirschaid verbliebenen Juden - die Angaben schwanken zwischen drei und 28 Personen - verschleppt; über Nürnberg erfolgte ihre Deportation in die Nähe von Lublin; keiner von ihnen soll überlebt haben.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind nachweislich 38 gebürtige bzw. längere Zeit in Hirschaid ansässig gewesene Juden Opfer der „Endlösung“ geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/hirschaid_synagoge.htm).
Der jüdische Begräbnisplatz für die verstorbenen Gemeindeangehörigen Hirschaids (in Buttenheim), der eine Fläche von ca. 2.000 m² aufweist, besitzt heute noch ca. 250 Gräber, die in Reihen angelegt sind. Unweit des Eingangs ist das Taharahaus erhalten.
Jüdischer Friedhof Buttenheim (Aufn. J.E. Loebe, 2011, aus: commons.wikimedia.org und Aufn. aus: flussparadies-franken.de)
In der Nürnberger Straße erinnert heute ein Gedenkstein - in Form eines siebenarmigen Leuchters - an die jüdischen Bewohner des Ortes mit der folgenden Inschrift:
Zum ewigen Gedenken
Zum Angedenken an die jüdischen Mitbürger von Hirschaid,
die zwischen 1933 und 1945 vertrieben oder verschleppt und ermordet wurden.
Hier stand ihre Synagoge, bis sie zerstört wurde am 10.November 1938.
Ihre Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens
Anm.: Eingangs- und Schlusszeile sind in hebräischer Schrift abgefasst.
Gedenkstätte in Hirschaid (S. van Helden 2023, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Der bereits 1979 aufgestellte Gedenkstein wurde durch ein neues Mahnmal auf dem neu gestalteten Synagogenplatz ersetzt; der Grundriss des Synagogengebäudes ist in einer Pflasterung nachgezeichnet.
Auf dem Gedenkstein stehen die Namen der letzten 28 Angehörigen der jüdischen Gemeinde, die im Frühjahr 1942 von Hirschaid aus „in den Osten“ deportiert und dort ermordet wurden.
Gedenkwand mit Namensangaben (Aufn. J. Hanke, Kronach)
Das bis 1938 genutzte jüdische Schulhaus von Hirschaid - es diente bis in die 1980er Jahre als Wohnhaus - ist das einzige steinerne Zeugnis der jüdischen Besiedlung des Marktes Hirschaid. Derzeit ist das unter Denkmalschutz stehende Gebäude vom Verfall bedroht, soll aber in naher Zukunft saniert werden und so der Nachwelt erhalten bleiben.
Ehem. jüdisches Schulhaus (Aufn. Demidow, 2007, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
2013/2014 wurden in der Nürnberger Straße und Bahnhofstraße von Hirschaid sieben sog. "Stolpersteine" verlegt, die Angehörigen jüdischer Familien (Fam. Kahn u. Plaut) gewidmet sind.
verlegt in der Nürnberger Straße
... und in der Bahnhofstraße (alle Aufn. F.P.Torrejón, 2021, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Auch im Ortsteil Sassanfahrt findet man zwei solcher messingfarbener Gedenkquader.
Weitere Informationen:
Baruch Z.Ophir/F.Wiesemann (Hrg.), Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München/Wien 1979, S. 135/136
Germania Judaica, Band III/1, Tübingen 1987, S. 563
Klaus Guth (Hrg.), Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800 - 1942). Ein historisch-topographisches Handbuch, Bayrische Verlagsanstalt Bamberg, Bamberg 1988, S. 195 f.
Karl-Heinz Mistele, Die Synagoge in Hirschaid, in: "Heimat Bamberger Land", 1/1989, S. 14/15
Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern - Eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 222/223
Eva Groiss-Lau, Jüdisches Kulturgut auf dem Land. Synagogen, Realien und Tauchbäder in Oberfranken, Hrg. Klaus Guth, Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 1995, S. 56
Geschichtlicher Arbeitskreis, Hirschaid - Chronik einer Gemeinde, Hirschaid 2004
Rudolf Panzer, Die jüdische Gemeinde in Hirschaid 1582 – 1939, in: Hirschaid - Chronik einer Gemeinde, hrg. von der Marktgemeinde Hirschaid, Hirschaid 2004, S. 88 - 101
Eva Groiss-Lau, Jüdische Landgemeinden in Franken zwischen Aufklärung und Akkulturation, in: Klaus Guth (Hrg.), Deutsche - Juden - Polen zwischen Aufklärung und Drittem Reich, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2005, S. 62 - 67
Barbara Spies, Jüdische Binnen- und Übersee-Wanderung aus dem Bamberger Land im 19.Jahrhundert, in: Klaus Guth (Hrg.), Deutsche - Juden - Polen zwischen Aufklärung und Drittem Reich, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2005, S. 71 ff.
Rudolf Panzer, Jüdische Familien in der fränkischen Gemeinde Hirschaid. Jüdische Kultusgemeinde. Die jüdischen Familien in Hirschaid, in: "Heimatkundliche Blätter für Hirschaid", 2/2005, Hirschaid 2005
Markt Hirschaid mit Sassanfahrt, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortsgeschichte)
Annette Schäfer (Red.), Der Gedenkstein für die vernichtete Synagoge in Hirschaid, in: Günter Dippold (Hrg.), Der Vergangenheit auf der Spur, Bamberg 2006, S. 168/169
B. Eberhardt/C. Berger-Dittscheid, Hirschaid, in: Mehr als Steine ... Synagogengedenkband Bayern, Band 1, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2007, S. 158 – 168
Hans-Peter Süss, Jüdische Archäologie im nördlichen Bayern. Franken und Oberfranken, in: "Arbeiten zur Archäologie Süddeutschlands", Band 25/2010, S. 72 - 74
Werner Baier (Red.), Denkmalschutz. Hirschaids alte Judenschule geht nicht unter, in: infrankende/egional vom 7.11.2011
Werner Baier (Red.), Denkmalforschung. Dasrscheinlich älteste Haus Hischaids, in: infranken.de/regional vom 20.2.2013
Andrea Spörlein (Red.), In Hirschaid gibt’s jetzt den Synagogenplatz, in: infranken.de vom 13.6.2013
Andrea Spörlein (Red.), Damit das Vergessen in Hirschaid außer Tritt gerät, in: infranken.de/regional vom 5.12.2014
Auflistung der in Hirschaid u. Sassanfahrt verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Hirschaid
Werner Baier (Red.), Jüdisches Leben in Hirschaid: Streit um Schule, in: „Fränkischer Tag“vom 25.6.2022
Heinrich Ueberall (Red.), Jüdische Spuren im Landkreis Bamberg, in: „Fränkischer Tag“ vom 21.9.2022 (betr. Familie Merel aus Sassanfahrt)