Hörstein (Unterfranken/Bayern)
Hörstein ist heute ein Ortsteil der Gesamtgemeinde Alzenau - im südlichen Teil des unterfränkischen Landkreises Aschaffenburg gelegen (Kartenskizzen 'Landkreis Aschaffenburg', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0 und 'Stadtgebiet von Alzenau', F.L.C. aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0).
In den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg lassen sich in der Region erstmals jüdische Bewohner nieder; gegen Mitte des 18.Jahrhunderts bildete sich in Hörstein eine Gemeinde. Ihre Angehörigen waren dem Kurfürsten von Mainz, den Grafen von Hanau und der Gemeinde Hörstein abgabenpflichtig.
Das Dorf Hörstein besaß eine relativ große jüdische Gemeinde, die 1910 knapp 9% der dörflichen Gesamtbevölkerung ausmachte. Die Mehrheit der hier wohnhaften Juden lebte vom Viehhandel und von der Brotbäckerei; einige jüdische Familien betrieben im Nebenerwerb auch Landwirtschaft. In den Matrikellisten von 1817 waren 25 Familienvorstände verzeichnet. Während nur vier Familien als wohlhabend galten, lebte die Mehrzahl der Familien in recht bescheidenen Verhältnissen.
Die Gemeinde besaß eine in den 1820er Jahren erbaute, an der Hauptstraße des Dorfes gelegene neue Synagoge, eine Mikwe, eine Volksschule und einen eigenen Friedhof. Seit 1887 gab es eine Synagogenordnung der Kultusgemeinde Hörstein, die in einzelnen Punkten das Verhalten der Gottesdienstbesucher und gleichzeitig Strafgelder bei Nichtbefolgung festlegte.
Die Zeitschrift „Der Israelit” berichtete am 23.9.1909 über die umfassende Renovierung des Synagogengebäudes wie folgt:
Hörstein, 9. Sept.. Am 3.,4. und 5. d. M. fand dahier eine seltene Feier, die Einweihung der renovierten Synagoge statt, an welcher alle Ortsbürger regen Anteil nahmen. Die Häuser der Hauptstraßen hatten Festschmuck angelegt. Von nah und fern waren zahlreiche Festgäste erschienen, darunter der Herr Kgl. Bezirksamtmann und Herr Kgl. Geistlicher Rat und Dekan von Alzenau. Nachmittags 3/4 4 bewegte sich der Festzug, an dem sich die ganze Kultusgemeinde, die Gemeinde- und Kirchenverwaltung, sämtliche Vereine und eine große Anzahl anderer Bürger Hörsteins, sowie die auswärtigen Festgäste beteiligten, von einem Musikchor, der Schuljugend und den Festdamen eröffnet, zur Wohnung des Herrn Kultusvorsteher Raphael Rothschild III., von wo die feierlich geschmückten Thorarollen abgeholt und in die Synagoge getragen wurden. Vor dem Synagogeneingang hielt der Kultusvorsteher eine kleine Ansprache, in welcher er Herrn Lehrer Israel Wahler den Dank der Gemeinde zum Ausdruck brachte für die großen Verdienste, die sich dieser um die Renovierung erworben. Der Bezirksamtmann beglückwünschte nach einem vorgetragenen Prologe die Kultusgemeinde zu ihrem schönen Gotteshause, sprach seine Anerkennung über ihre Opferwilligkeit aus und übergab hierauf den Schlüssel Herrn Rabbiner Dr. Breuer - Aschaffenburg. Herr Dr. Breuer ging in seiner meisterhaft durchgeführten Festpredigt von dem Psalmvers aus: "Kommt in seine Tore mit Dank, in seine Höfe mit Lob, danket und segnet seinen Namen !" und sprach über die Bedeutung des Gebetes. Nach dem Festgottesdienst begaben sich alle Teilnehmer im Zuge zum Festbankett in die Gartenwirtschaft "Zum Ritter". ... Herr Pfarrer Klement wies auf das harmonische Zusammenleben der hier wohnenden Konfessionen hin und beglückwünschte die Kultusgemeinde namens der katholischen Kirchengemeinde. Herr Lehrer B. Wechsler aus Alzenau überbrachte die Grüße und Glückwünsche unserer Nachbargemeinde. Herr Salli Löwenthal brachte einen Toast auf Herrn Lehrer Wahler aus.
Ehem. Synagogengebäude (hist. Aufn. aus: hoerstein.info) Synagogeninnenraum (hist. Aufn. aus: hoerstein.info)
Religiöse Aufgaben der Gemeinde (Vorbeter und Schochet) nahm ein Religionslehrer wahr. Fast ein halbes Jahrhundert übte dieses Amt bis 1894 Isaak Wahler aus; sein Amtsnachfolger war dessen Sohn Israel, der bis 1931 tätig war.
Der in der Mainebene gelegene jüdische Friedhof bestand seit 1812 und diente verstorbenen Juden aus den Orten Alzenau, Wasserlos und Hörstein als letzte Ruhestätte; eine 1890 erlassene Friedhofsordnung regelte die Modalitäten auf dem Begräbnisgelände. In den Jahrzehnten vor 1812 waren verstorbene Hörsteiner Juden im nahen Hanau beerdigt worden.
Die orthodox ausgerichtete Gemeinde unterstand dem Bezirksrabbinat Aschaffenburg.
Juden in Hörstein:
--- 1685 ........................ 6 jüdische Familien,
--- 1707 ........................ 13 " " ,
--- 1794 ........................ 21 " " ,
--- 1817 ........................ 25 " " ,
--- 1851 ........................ 156 Juden,
--- 1867 ........................ 116 " (ca. 11% d. Bevölk.),
--- 1880 ........................ 137 “ (ca. 12% d. Bevölk.),
--- 1910 ........................ 125 “ (ca. 9% d. Bevölk.),
--- 1925 ........................ 118 “ ,
--- 1933 ........................ 98 “ (ca. 6% d. Bevölk.),
--- 1934 ........................ 103 “ ,
--- 1935 ........................ 94 “ ,
--- 1936 (Jan.) ................. 102 “ ,
--- 1938 (Jan.) ................. 78 “ ,
--- 1939 (Jan.) ................. 12 “ ,
--- 1940 (April) ................ ein “ (),
(Mai) .................. keine.
Angaben aus: Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945, S. 323
und Hörstein, in: alemannia-judaica.de
Annoncen jüdischer Gewerbetreibender um 1900:
Im Jahre der NS-Machtübernahme lebten in Hörstein nahezu 100 jüdische Bewohner; die Familien lebten mehrheitlich vom Viehhandel.
Auch in der unterfränkischen Dorfregion kam es Anfang der 1930er Jahre zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die hier lebenden jüdischen Bewohner; so schlugen mehrere SS-Leute aus Aschaffenburg im Sommer 1933 zwei jüngere Juden des Ortes brutal zusammen; ein dritter wurde in schlimmster Weise misshandelt. Das NS-Hetzblatt „Der Stürmer“ griff diese Vorgänge in Hörstein („Der Skandal von Aschaffenburg“) auf, indem es die gerichtliche Verfolgung der SS-Angehörigen missbilligte.
aus: "Der Stürmer" No. 37/1933
1935 wurde in Hörstein der jüdische Friedhof geschändet ("in roher Weise 16 Grabsteine" umgeworfen); ein Jahr später warfen die Gewalttäter weitere ca. 100 Grabsteine um, so dass die Grabstätte "ein niederdrückendes Bild roher Zerstörungslust" bot; 1937 wiederholte sich die Friedhofsschändung.
Im Laufe des Jahres 1936 wurde das Synagogengebäude mehrmals beschädigt; wertvolle Fenster waren eingeworfen worden. Als die Feindseligkeiten der Bevölkerung weiter zunahmen, verließen die meisten Juden die Ortschaft. Ende September 1938, am sog. jüdischen Neujahrsfest, eskalierte die judenfeindliche Stimmung; erneut wurden Steine in die Synagoge geworfen und Parolen wie „Schneidet den Juden die Hälse ab!” gebrüllt. In fast allen von Juden bewohnten Häusern wurden die Fensterscheiben eingeschlagen. Die Kommunalverwaltung wies die Juden an, binnen dreier Tage den Ort zu verlassen; dieser Anweisung kamen die allermeisten nach; der größte Teil von ihnen ging nach Aschaffenburg und Frankfurt/Main, insgesamt mehr als 40 Personen konnten emigrieren.
Die wenigen, die in Hörstein geblieben waren, mussten den Ort in der Pogromnacht verlassen, nachdem zuvor randalierende SA-Leute vor jüdische Anwesen gezogen und in einige eingedrungen waren; Bewohner wurden misshandelt und ihr Eigentum demoliert. Ihr Immobilienbesitz ging bald darauf in „arische“ Hände über. Das Synagogengebäude und die jüdische Volksschule wurden von der Kommune beschlagnahmt
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ wurden 58 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene Bewohner mosaischen Glaubens (darunter zahlreiche Angehörige der Familie Rothschild) Opfer der „Endlösung“ (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/hoerstein_synagoge.htm).
Vor dem Landgericht Aschaffenburg fand 1950 ein Prozess gegen mehrere an den Ausschreitungen der Novembertage 1938 Beteiligte statt; nur einer von ihnen wurde zu einer Haftstrafe verurteilt.
Nach Kriegsende kehrte nur ein einziges jüdisches Ehepaar aus Theresienstadt nach Hörstein zurück, emigrierte aber wenig später in die USA.
Die teilweise beschädigte Synagoge diente lange Zeit als Feuerwehrdepot der Ortschaft. Anfang der 1980er Jahre wurde das Gebäude abgerissen. Die steinernen Gebotstafeln wurden gesichert und ins Heimatmuseum Alzenau verbracht.
Gebotstafeln aus der Hörsteiner Synagoge (Museum Stadt Alzenau)
Mitte der 1990er Jahre wurde zur Erinnerung an die ehemalige Synagoge eine Gedenkstele aufgestellt; sie befindet sich am Ort des ehemaligen kommunalen Schulhauses.
Der Friedhof der jüdischen Gemeinde überstand die NS-Zeit nahezu unbeschadet; auf dem mit einer Mauer umgebenen Begräbnisareal befinden sich heute noch mehr als 250 Grabsteine.
Friedhofstor und am rechten Pfeiler angebrachte Tafel (Aufn. J. Hahn, 2008)
Jüdischer Friedhof Hörstein im Sommer (Aufn. J. Hahn, 2008) und im Winter (Aufn. A., 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Auch Hörstein beteiligt sich am zentralen Projekt "DenkOrt Deportationen 1941-1944" in Würzburg; deren Beitrag ist - wie bei anderen Kommunen auch - eine hölzerne Koffer-Skulptur.
Koffer-Skulptur der Gemeinde Hörstein (Aufn. R. Ries, 2020)
Nach Votum des Alzenauer Stadtrates ist mit der Namensgebung des Bella- und Israel-Wahler-Platzes an zwei ermordete jüdische Bürger erinnert worden.
Israel Wahler (geb. 1875) hatte nach Besuch des Würzburger Lehrerseminars - in Nachfolge seines Vaters - die Leitung der Religionsschule in Hörstein übernommen; nach deren Schließung (1931) führte er die israelitische Volksschule in Bad Neustadt. Eine nach dem Pogrom (1938) betriebene Emigration des Ehepaares Wahler scheiterte; es wurde Opfer der Shoa.
[vgl. Alzenau (Bayern)]
Weitere Informationen:
Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München/Wien 1979, S. 323/324
Herbert Schultheis, Juden in Mainfranken 1933 - 1945 unter besonderer Berücksichtigung der Deportationen Würzburger Juden, in: "Bad Neustädter Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde Frankens", Band 1, Verlag Max Rötter, Bad Neustadt a.d.Saale 1980, S. 88 ff.
Peter Körner, Skizzen zur Geschichte der Juden in Alzenau, Wasserlos und Hörstein, Alzenau 1988
Peter Körner, „Der Gesundheit sehr nachteilig“. Judentauchen in Alzenau und Hörstein, in: "Unser Kahlgrund", 34/1989, S. 113 – 122
Helmut Winter, Die jüdischen Gemeinden im Bezirk Alzenau, in: "Unser Kahlgrund", 34/1989, S. 192 – 198
Helmut Winter, Die Reichskristallnacht im Bezirk Alzenau, in: "Unser Kahlgrund", No. 34/1989, S. 198 - 203
Walter Scharwies, Toleranz und Zusammenleben, aber auch unverständlicher Haß - Jüdische Kultusgemeinde in Alzenau/Wasserlos und Hörstein, in: "Alzenauer Stadtbuch 2001", S. 258 - 288
Esther Graf/Monika Preuß, Jüdisches Leben in Alzenau, Hörstein und Wasserlos. Von den Anfängen bis zur Vernichtung (Zulassungsarbeit), Heidelberg 2002
Oded Zingher, ‘Ehre Deine Eltern - der jüdische Friedhof in Hörstein’, Dokumentation, in: "Alzenauer Beiträge zur Heimatgeschichte", No. 2/2004 (mit Bilddokumentation und Übersetzung der vorhandenen 266 Grabsteine)
Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 86
Hörstein, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Axel Töllner/Cornelia Berger-Dittscheid (Bearb.), Hörstein, in: W.Kraus/H.-Chr.Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine ... Synagogengedenkband Bayern, Band III/1 (Unterfranken), Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2015, S. 92 - 111
Christian Schauer (Bearb.), Juden in Hörstein, der Friedhof, die Familie Wahler, online abrufbar unter: schauerchristian.wordpress.com/2012/02/03/kurztrips-in-die-umgebung-aschaffenburg/
Esther Graf/Monika Preuß, Jüdisches Leben in Alzenau, Hörstein und Wasserlos. Von den Anfängen bis zur Vernichtung (noch unveröffentlicht)
N.N. (Red.), Der Bella- und Israel-Wahler-Platz. Namensgebung: Alzenauer Stadtrat entscheidet sich für das Erinnern an zwei ermordete jüdische Mitbürger, in: “Main-Echo” vom 1.11.2020