Kempten/Allgäu (Bayern)
Kempten (Allgäu) ist eine kreisfreie Stadt mit derzeit ca. 69.000 Einwohnern im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben (Kartenskizze M. Dörrbecker, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 2.5).
Ein erster Hinweis auf jüdisches Leben in Kempten stammt aus dem Jahre 1373, als Kaiser Karl IV. der schwäbischen Stadt für sechs Jahre das Judenregal zugestand. In den Folgejahrzehnten haben aber nur sehr wenige jüdische Familien hier gelebt. Die ältere Geschichte der Juden in Kempten endete gegen Mitte des 16.Jahrhunderts, nachdem nun die Niederlassung jüdischer Familien nicht mehr erlaubt war. In der Folgezeit hielten sich jüdische Händler nur kurzzeitig in der Stadt auf, um hier ihren Handelsgeschäften nachzugehen. Die einzige Ausnahme bildete der jüdische Hoffaktor Mayr Seligmann, der gegen Ende des 17.Jahrhunderts mit seiner Familie Aufnahme in der Stadt gefunden hatte.
Karte des Fürststift Kempten, um 1800 (aus: wikiwand.com)
„Kempten Hauptstadt des Iller Kreises in Baiern“ - Gemälde um 1810 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Die jüngere jüdische Geschichte setzt erst Ende der 1860er Jahre ein, als Familien vor allem aus schwäbischen Dörfern und Marktflecken - aus Altenstadt, Fellheim, Osterberg u.a. - hierher verzogen; Eisenbahnanschluss und beginnende Industrialisierung Kemptens schienen ihnen hier bessere wirtschaftliche Perspektiven geboten zu haben als an ihren bisherigen Wohnorten. Die Mehrheit der jüdischen Zuwanderer bestritt ihren Lebenserwerb auf dem Handelssektor, insbesondere gründeten die Familien Fachgeschäfte für Bekleidung und Möbel; auch der Handel mit Käse und Vieh wurde betrieben; einer der führenden Viehhändler in der Region Kempten war Albert Löw.
Da in Kempten die Zahl der Männer für ein Abhalten eines jüdischen Gottesdienstes nicht ausreichte, schlossen sich die Juden Kemptens 1875 der Memminger Gemeinde an; ansonsten aber bildeten sie eine selbstständige Filialgemeinde mit einem eigenen Vorstand und beschäftigten zeitweise auch einen Religionslehrer.
[vgl. Memmingen (Bayern)]
Seit 1886 besaß die kleine Kemptener Gemeinde einen eigenen Begräbnisplatz, auf dem heutigen Areal des katholischen Friedhofs gelegen.
Über ein eigenes Synagogengebäude verfügte man aber nicht; doch hatte die Gemeinde einen Betraum angemietet, der im barocken Saal des ehemaligen Landhauses untergebracht war.
Gebäude, in dem der Betraum untergebracht war (Aufn. J. Hahn, 2009)
Juden in Kempten:
--- 1875 ......................... 53 Juden,
--- 1880 ......................... 72 “ ,
--- 1890 ......................... 62 “ ,
--- 1900 ......................... 68 “ ,
--- 1905 ......................... 89 “ ,
--- 1910 ......................... 91 “ ,
--- 1925 ......................... 56 “ ,
--- 1933 ..................... ca. 50 “ ,
--- 1939 (Mai) ................... 25 “ ,
--- 1941 ......................... 23 “ ,
--- 1942 (Sept.) ................. 3 “ .
Angaben aus: Karl Filser, Zur jüngeren Geschichte der Juden in Kempten, S. 106
Ihren zahlenmäßigen Höchststand erreichte die kleine jüdische Gemeinde in Kempten mit 91 Mitgliedern kurz vor dem Ersten Weltkrieg; ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Kemptens lag jedoch immer unter 0,5%. Als erster Jude zog Sigmund Ullmann 1912 in den Stadt-Magistrat ein und wirkte dort bis in die NS-Zeit.
Zu antisemitischer Hetze kam es in Kempten kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges, als Flugblätter in der Stadt verteilt wurden, die die Juden als „Kriegsanstifter, Kriegsgewinnler und Drückeberger” diffamierten; der Kemptener Stadtrat und der Oberbürgermeister distanzierten sich aber von dieser Kampagne. Nach der NS-Machtübernahme wurden langsam die Juden aus dem städtischen Wirtschaftsleben ausgeschaltet; wie überall in Deutschland wurde Ende März 1933 mit antijüdischen Parolen zum Boykott der jüdischen Geschäfte aufgerufen. Auf Plakaten war u.a. zu lesen: „Arbeiter, willst du, daß die Räder laufen, darfst du nicht beim Juden kaufen!” oder: „Bauern befreit euch von jüdischen Käsehändlern und Milchkäufern!”
Am 3. April 1933 berichtete das „Allgäuer Tageblatt” über den Ablauf der Boykottaktionen in Kempten:
Die Boykottbewegung gegen die jüdischen Geschäfte am Samstag in Kempten nahm einen völlig ruhigen Verlauf. Zu Zwischenfällen ist es nirgends gekommen. Die Stadt bot insofern ein verändertes Bild, als die jüdischen Geschäfte ihre Läden geschlossen hielten. ... Um 10 Uhr erschienen dann in den Straßen der Stadt SA-Trupps, die mit ihren Schildern und Aufschriften vor den einzelnen jüdischen Geschäften Aufstellung nahmen, während andere SA-Leute mit ähnlichen Plakaten tagsüber durch die Straßen zogen. ... Während des Nachmittags herrschte starker Verkehr in den Straßen. Hilfspolizei hielt den Verkehr aufrecht, insbesondere am Rathausplatz, wo sich die Neugierigen in großer Zahl angesammelt hatten. Zu Zwischenfällen ist es ... nirgends gekommen.
Besonders fanatisch im „Kampf gegen Juden“ zeigte sich in Kempten der NSDAP-Kreisleiter und spätere Bürgermeister Anton Brändle, der über die Presse die antijüdische Stimmung anheizte. Trotz dieser NS-Aktivitäten blieben die meisten jüdischen Bewohner bis 1937 in Kempten; eine Auswanderungswelle setzte erst ein, als ihre Geschäfte „arisiert“ wurden und die Schrecken der Pogromnacht vom November 1938 vielen die Augen geöffnet hatte. Betsaal und Friedhof der israelitischen Gemeinde blieben in Kempten allerdings unangetastet.
Die Ritualgegenstände des Betsaales überdauerten die NS-Zeit; der damalige Oberbürgermeister Dr. Otto Merkt hatte diese offiziell für das Heimatmuseum angekauft.
Anfang 1942 lebten noch etwa 20 Juden in Kempten. Ein Teil von ihnen wurde Ende März 1942 vermutlich über das Zwischenlager Milbertshofen in Lager im besetzten Osteuropa deportiert; andere wurden im August 1942 und Februar 1945 (!) nach Theresienstadt verschleppt. Die meisten Deportierten kehrten nicht wieder zurück
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ wurden 30 gebürtige bzw. länger in der Stadt ansässig gewesene jüdische Bürger Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/kempten_synagoge.htm).
Während der letzten beiden Kriegsjahre hatte es in Kempten zwei Außenkommandos des KZ Dachau gegeben, in denen ca. 500 männliche Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten. Die Männer waren zunächst untergebracht in der ‘Allgäuer Spinnerei und Weberei’, anschließend in der Tierzuchthalle. Neben Arbeiten am Ostbahnhof wurden sie bei der Fa. Sachse (BMW) im Gerätebau für Jagdflugzeuge eingesetzt. Ende April 1945 wurden die Häftlinge in Richtung Pfronten evakuiert.
1947 bildete sich aus den wenigen jüdischen DPs in Kempten eine Religionsgemeinschaft ('Jüdisches Komitee'), die aber keinen dauerhaften Bestand hatte. Die aus maximal 60 Personen sich zusammensetzende DP-Gemeinde wurde Anfang des Jahres 1951 aufgelöst.
Eine steinerne Grabplatte wurde 1960 von der Kommune auf den Friedhof verlegt, die an die 16 jüdischen Kemptener erinnern soll, die zwischen 1942 und 1945 ermordet wurden. Die dort verewigten Namen umläuft der ff. Psalm:
„DER DU MICH HAST SCHAUEN LASSEN – VIEL NOT UND LEIDEN –
DU WIRST WIEDERUM MICH BELEBEN UND AUS DEN TIEFEN DER ERDE MICH WIEDERUM ERHEBEN“.
Jüdischer Friedhof in Kempten (Aufn. Richard Mayer, 2003 und Alofok, 2012, beide aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
2008 fand - auf Grund einer Ausnahmegenehmigung - auf dem Friedhof die letzte Beerdigung statt.
Am Friedensplatz erinnern seit 1995 ein Mahnmal an alle NS-Opfer und ein Gedenkstein an die Opfer der Shoa; der Gedenkstein trägt die Worte:
Zum Gedenken an die jüdischen Bürger unserer Stadt,
die während der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgt wurden
und am 30.3. und 10.8.1942 in die Vernichtungslager deportiert worden sind.
Den Toten sehr Ehre – den Lebenden zur Mahnung
Errichtet im Jahre 1995 vom Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern
Von Schüler/innen der Kemptener Robert-Schumann-Volksschule wurde 1996 ein Mahnmal für alle Opfer der NS-Gewaltherrschaft erstellt, das am Friedensplatz sich befindet (Aufn. Alokok 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
(Aufn. Elisabeth Böhrer, 2010) Nach dem von 1913 bis 1942 amtierenden Vorsteher der jüdischen Gemeinde, dem Bankier Sigmund Ullmann, wurde 1997 in Kempten ein Platz benannt; der auch in der Kommunalpolitik engagierte Ullmann war 1942 nach Theresienstadt deportiert worden und ist dort verstorben.
Seit 2010 werden auch in den Straßen Kemptens sog. „Stolpersteine“ verlegt; derzeit gibt es etwa 35 solcher ins Gehwegpflaster eingelassene Steine (Stand 2023).
einige in Kempten verlegte "Stolpersteine" (Aufn. F.S., 2013, aus: wikipedia.org, CCO)
Neben einer Gedenktafel erinnert in Kempten auch ein "Stolperstein" an Andor Ákos (Aufn. Chr. Michelides, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0), der als ungarisch-deutscher Architekt sich einen Namen machte, seit 1920 in Kempten lebte und im Allgäu und Schwaben zahlreiche Bauwerke projektierte. Nach Aufdeckung seiner jüdischen Identität wurde er 1940 in den Suizid getrieben und Opfer der NS-Rassenideologie.
In Weitnau/Oberallgäu – ca. 15 Kilometer südwestlich von Kempten – erinnern acht „Stolpersteine“ an Angehörige der Sinti/Roma-Familie Rötzer, die am Friedhof des Dorfes Hellengerst ihren Platz fanden. Johanna Rötzer wurde mit ihren Kindern 1943 deportiert und in Auschwitz-Birkenau ermordet.
Aufn. Chr. Michelides, 2020, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0) .
Weitere Informationen:
Josef Rottenkolber, Geschichte der Stadt Kempten im 19.Jahrhundert. 1800 - 1914, Kempten/Allgäu 1935
Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Verlag Oldenbourg, München/Wien 1979, S. 475/476
Gernot Römer, Der Leidensweg der Juden in Schwaben - Schicksale von 1933 bis 1945 in Berichten, Dokumenten und Zahlen, Presse-Druck- und Verlags-GmbH, Augsburg 1983, S. 82/85
Gernot Römer, Für die Vergessenen - KZ-Außenlager in Schwaben, Presse-Druck- und Verlags-GmbH, Augsburg 1984, S. 136 f.
Germania Judaica, Band III/1, Tübingen 1987, S. 612/613
Herbert Müller, Kempten während der Weimarer Republik, in: Geschichte der Stadt Kempten, Kempten (Allgäu) 1989, S. 407 ff.
Herbert Müller, Kempten im Dritten Reich, in: Geschichte der Stadt Kempten, Kempten (Allgäu) 1989, S. 435 ff.
Martin Rebbe, Die jüdische Gemeinde in Kempten, Kempten 1991
Israel Schwierz, Steinerne Zeugen jüdischen Lebens in Bayern - eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 265/266
Karl Filser, Zur jüngeren Geschichte der Juden in Kempten, in: Peter Fassl (Hrg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, Irseer Schriften, Band 2, Verlag Thorbecke Sigmaringen 1994, S. 105 - 116
Ralf Lienert, Die Geschichte der Juden in Kempten, Kempten 1998
Stefan Vogel/Gernot Römer, Wo Steine sprechen ... Die jüdischen Friedhöfe in Schwaben, Pröll-Verlag, Augsburg 1999, S. 164
Michael Trüger, Der jüdische Friedhof in Kempten, in: "Der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern", No. 82/April 2000, S. 15
Kempten (Allgäu), in: alemannia-judaica.de (Anm. mit diversen Zeitungsartikeln zu den 2011 verlegten Stolpersteinen)
Angela Hager, Kempten, in: Mehr als Steine ... Synagogengedenkband Bayern, Band 1, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2007, S. 488 - 493
Kempten – Jüdische DP-Gemeinde - Jewish DP Community, in: after-the-shoah.org
Dieter Weber (Bearb.), Andor Ákos (1893-1940). Ein in Ungarn geborener Architekt und Künstler aus Kempten. Opfer des faschistischen Rassenwahns, in: Wolfgang Haberl (Hrg.), Lebensbilder aus dem bayrischen Schwaben, Band 17, Weißenhorn (Schwaben) 2009, S. 237 - 293
Yvonne Dathe (Red.), Unvergessliche Stolpersteine, in: "Kreisbote (Kempten - Isny - Westallgäu)" vom 20.7. 2010
Ralf Lienert (Red.), diverse Artikel über NS-Opfer/Stolpersteine in der „Allgäuer Zeitung“ in den Jahren 2010/2011
Auflistung der in Kempten verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Kempten_(Allgäu)
Ralf Lienert (Red.), Kempten. Erst geachtet, dann verfolgt, in: „Allgäuer Zeitung“ vom 7.11.2019
Sebastian Lipp (Red.), Warum Kempten noch mehr Stolpersteine braucht, online abrufbar unter: allgaeu-rechtsaussen.de vom 16.5.2020
Manuela Müller (Red.), Viele Juden lebten im Haus von Sigmund Ullmann, in: „Allgäuer Zeitung“ vom 18.1.2024
Manuela Müller (Red.), Auschwitz-Birkenau: Nazis sortierten Elvira Stein an der Rampe aus, in: „Allgäuer Zeitung“ vom 14.2.2024
Ralf Lienert/Manuela Müller (Red.), Ermordet von den Nazis: Rosa Löw erhielt als Einzige ihrer Familie kein Visum, in: „Allgäuer Zeitung“ vom 5.3.2024