Kitzingen/Main (Bayern)
Kitzingen ist eine Stadt in Mainfranken mit derzeit ca. 22.500 Einwohnern – ca. 25 Kilometer südöstlich von Würzburg gelegen (Kartenskizzen 'Verlauf des Main', aus: br.de und 'Landkreis Kitzingen', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Bereits zu Beginn des 12.Jahrhunderts hatten sich Juden in Kitzingen angesiedelt; eine hier gebildete Gemeinde ist für das Jahr 1147 belegt. 1243 und 1298 waren die Juden von Pogromen betroffen; zu weiteren gewalttätigen Ausschreitungen kam es 1336, als Bauern unter Führung des Ritters Arnold aus Ussigheim im Main- und Taubergebiet plündernd umherzogen, um von den dortigen Juden die Schuldurkunden zurückzufordern. Vor allem in Kitzingen wurden die Juden blutig verfolgt. Während die städtische Oberschicht die Juden schützen wollte und die Stadttore verschlossen hielt, erzwang der Mob den Einlass der Bauern. In einem Blutbad ging die jüdische Gemeinde Kitzingens damals unter. Jahre später siedelten sich erneut jüdische Familien in Kitzingen an. Die Gemeinde - sie setzte sich um 1500 aus ca. zehn Familien zusammen - verfügte direkt hinter dem Stadtgraben in der Nähe der Klostermauer (Obere Bachgasse) über eine Synagoge; im Keller befand sich eine Mikwe. Trotz mehrfach drohender Vertreibungen konnte sich die jüdische Gemeinde bis in die 1760er Jahre behaupten.
Aus dem Jahre 1715 ist eine Planskizze des Synagogengebäudes überliefert, auf der der Kitzinger Stadtpfarrer Johann Schober dem Fürstbischof von Würzburg wissen ließ, dass die Juden in seinem Orte „eine prächtige Synagoge errichten, mit einem schön frontispicium auff die arth, wie an hiesiger Ursulinen Closter Kirch zu sehen”. Letzteres entsprach nicht den Tatsachen.
Synagogenskizze aus dem frühen 18.Jahrhundert
Religiöse Streitigkeiten führten 1763 schließlich zur Ausweisung der jüdischen Familien.
Blick auf Kitzingen – Stahlstich um 1845 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Nach Aussetzung des bayrischen Matrikel-Paragraphen durften sich seit 1861 auch in Kitzingen wieder jüdische Familien niederlassen; die Initiative ging vom damaligen Kitzinger Bürgermeister aus, der sich mit dem Zuzug jüdischer Gewerbetreibender einen wirtschaftlichen Aufschwung versprach. In nur wenigen Jahren zogen mehr als 100 (!) Familien - meist aus den umliegenden Dörfern - in die kleine fränkische Stadt. 1865 bildete sich eine eigene orthodoxe Kultusgemeinde. Zunächst kam man zu Gottesdiensten in einer Betstube in einem Privathause des Weinhändlers Emil Hellermann (in der Ritterstraße) zusammen. Nachdem diese Betstube nicht mehr genügend Platz bot, pachtete die jüdische Gemeinde ein im protestantischen Schulgebäude befindliches Klassenzimmer.
Die Zeitschrift „Der Israelit” berichtete in ihrer Ausgabe vom 10. Oktober 1867 über die Einweihung dieses Raumes wie folgt:
Kitzingen, 29. Sept. Es sind gerade hundert Jahre, daß die Juden aus Kitzingen, angeblich und verläumderisch beschuldigt, die Brunnen vergiftet zu haben, vertrieben und ihrer Habe beraubt worden sind. In hochherziger Weise hat nun der hiesige Magistrat den jetzt hier ansässigen Israeliten mit vielem Aufwande ein Lokal als Betsaal eingerichtet und damit bewiesen, daß er, der alten ungegründeten Vorurtheile abhold, die Fehler der Ahnen wieder gut zu machen und zu sühnen sucht. Die Einweihung des Betsaales wurde am 20. ds. Monates durch Rabbinatskandidaten Adler vollzogen, und durch eine ausgezeichnete, sehr treffende Predigt verherrlicht. Der ganze Akt war ein erhebender Moment, und wurde von vielen der nicht-jüdischen hiesigen Einwohner mit innigem Gefühle getheilt. Möge dies schöne Werk durch Eintracht und gegenseitige Liebe gekrönt werden !
Die durch Zuzüge schnell größer gewordene Kultusgemeinde besaß dann seit 1883 eine im maurischen Stil der Gründerzeit errichtete neue Synagoge in der Landwehrstraße.
„ Die Vorbereitungen zum Feste der Einweihung, welche am 7., 8. und 9. September1883 stattfand, wurden allseitig getroffen und jede israelitische Familie rüstete sich, die erhabene Feier festlich zu begehen. Mit nicht minder wohlwollender Anteilnahme sah aber auch die übrige Einwohnerschaft dieser Feier entgegen. Dieselbe verlief in überaus erhebender Weise und alle diejenigen, die das Glück hatten, teilnehmen zu können, denken noch heute mit Befriedigung daran zurück. In programmmäßiger Weise verlief die Einweihung folgendermaßen: Nach dem letzten Mincha oder Nachmittagsgottesdienste in dem seither als Synagoge benützten Saale des protestantischen Schulhauses sprach Herr Distriktsrabbiner Adler Worte des Abschieds, darin hervorhebend, daß, obzwar in der Trennung von einer Stätte, an welcher man während eines bedeutenden Stückes der so kurz bemessenen Lebenszeit die geweihtesten Momente des Lebens verbracht habe, etwa Wehmütiges liege, doch wiederum der Gedanke, daß man in ein neues, schöneres Gotteshaus ziehe, höchste erfreuende und erhebende Gefühle erwecke. Nachdem alsdann die Thorarollen aus der Lade herausgenommen und den dazu berufenen Gemeindemitgliedern übergeben worden waren, fanden sich die von einer Deputation abgeholten Mitglieder des Magistrats und der Gemeindebevollmächtigten, dann die H.H. kgl. Beamten und sonstigen Ehrengäste ein, worauf sich der Festzug ... in Bewegung setzte und, geleitet von einer unzähligen Volksmenge, zur neuen Synagoge zog. An der Pforte derselben wurde zunächst ein Choral gesungen und alsdann vom Herrn Distriktsrabbiner Adler einige auf die Öffnung der Pforten Bezug habende Psalmverse gesprochen. ... Der Herr Bürgermeister nahm den Schlüssel entgegen und öffnete die Tore, nachdem er zuvor an die Vorstände des israelitischen Kultusgemeinde eine kurze Ansprache gehalten hatte. Nun strömte alles, was Zutritt hatte, in die festliche beleuchtete Synagoge und beschaute staunend und bewundernd die schönen Räume und deren herrliche Ausstattung. ... Nach verschiedenen Gesängen und Rezitationen von Psalmen und nach dreimaligem Umzuge mit den Thorarollen bestieg der Herr Distriktsrabbiner die Kanzel und hielt die Weihepredigt. ... Nach einem feierlichen Gebete für Seine Majestät den König und das hohe Königliche Haus schloß mit Absingen des 150. Psalms die erhebende Feier. ... (aus: Naphtalie Bamberger: Die Geschichte der Juden von Kitzingen (1908), S. 27f.)
Durch zahlreiche Schenkungen war die Synagoge reich mit Thorarollen und Ritualien ausgestattet; bereits 1907 erfolgte eine Renovierung des Gotteshauses.
Kitzinger Synagoge (hist. Außen- und Innenaufnahme, Stadtarchiv Kitzingen)
Ausschreibung der Rabbinatsstelle (aus: "Der Israelit" vom 10.8. 1911)
Zum Besitz der jüdischen Gemeinde gehörten weiterhin zwei Gemeindehäuser, seit 1914 eine jüdische Elementarschule und ein Ritualbad im Keller der Synagoge.
Ausschreibungen gemeindlicher Funktionsstellen aus den Jahren 1869 – 1891 – 1900 - 1929:
Ihre Verstorbenen begrub die Gemeinde auf dem israelitischen Verbandsfriedhof in Rödelsee.
Aufn. M.Planegg, 2015, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0
Der jüdische Friedhof in Rödelsee war bereits im 15.Jahrhundert angelegt worden und diente als zentrale Begräbnisstätte allen Verstorbenen aus den jüdischen Gemeinden der Region. Mit einer Fläche von ca. 19.000 m² und mehr als 2.500 Grabsteinen ist das Begräbnisgelände eines der großen jüdischen Friedhöfe in Bayern. vgl. Rödelsee (Unterfranken/Bayern)
Juden in Kitzingen:
--- um 1490 ....................... 8 jüdische Familien,
--- 1640/41 ....................... 63 Juden,
--- 1699 .......................... 6 jüdische Familien,
--- 1731 .......................... 120 Juden,
--- 1867 .......................... 57 “ ,
--- 1871 .......................... 97 “ ,
--- 1880 .......................... 337 “ (4,8% d. Bevölk.),
--- 1890 .......................... 398 “ ,
--- 1900 .......................... 463 “ ,
--- 1910 .......................... 478 “ (5,2% d. Bevölk.),
--- 1925 .......................... 421 “ ,
--- 1933 .......................... 360 “ (3,3% d. Bevölk.),
--- 1935 (Jan.) ................... 329 “ ,
--- 1937 (Jan.) ................... 275 “ ,
--- 1938 (Dez.) ............... ca. 190 “ ,
--- 1939 (Mai) .................... 165 “ ,
--- 1942 (Febr.) .................. 103 “ ,
(März) ................... 27 " ,
(Sept.) .................. 2 “ .
Angaben aus: Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945, S. 330
und Elmar Schwinger, Die jüdische Gemeinde in Kitzingen (1865 - 1942
und W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … Synagogengedenkband Bayern, Unterfranken, Teilband III/2.2, S. 1091
Ansichtskarte von Kitzingen (J.Marschall, um 1915, aus: wikipedia.org, CCO)
Kleinanzeigen jüdischer Gewerbetreibender von 1901 - 1912 - 1928:
Die Juden Kitzingens waren mehrheitlich im Weinhandel tätig, der einen gewaltigen Aufschwung erlebte. Bis in die 1930er Jahre lag der Handel mit Wein überwiegend in jüdischer Hand. Als "ungekrönter König“ der Kitzinger Weinhändler galt Max Nathan Fromm, der nach 1900 den hiesigen Weinhandel entscheidend fortentwickelte und seinen Weinhandel innerhalb Deutschlands zu beträchtlicher Größe verhalf.
Anm.: Wegen seines rasanten wirtschaftlichen Aufstiegs verlegte Fromm 1929 seinen Firmensitz nach Bingen, wo er in einer größeren und bedeutenderen Weinbauregion nun präsent war (Abb. aus: stadt-ktzingen.de).
Der in Kitzingen eher unbedeutendere Viehhandel wurde ausschließlich von Juden betrieben.
Der wirtschaftliche Erfolg der Juden in Kitzingen war mit sozialem Aufstieg und gesellschaftlicher Akzeptanz verbunden, was sich u.a. in der Bekleidung öffentlicher Ämter niederschlug. Jüdische und christliche Einwohner der Kleinstadt lebten bis zur NS-Machtübernahme ohne große Probleme zusammen; dies änderte sich, als immer mehr Juden durch Anordnungen der Stadtverwaltung ins gesellschaftliche Abseits gedrängt wurden. Der zunehmende Wirtschaftsboykott führte schrittweise zur Verarmung; eine Konsequenz war nun die immer mehr sich abzeichnende Emigrationsbereitschaft; so hatte bis Ende 1938 die Hälfte der noch zu Beginn der NS-Zeit hier lebenden Juden Kitzingen verlassen.
Während des Novemberpogroms von 1938 kam es auf Weisung der NSDAP-Kreisleitung Würzburg durch lokale SA und SS-Truppen zu Gewalttätigkeiten in Kitzingen; unterstützt wurden sie durch einige Honoratioren der Stadt. Zunächst wurde die Synagoge in der Landwehrstraße in Brand gesteckt, nachdem zuvor die Inneneinrichtung geplündert und teilweise gestohlen worden war; zahlreiche Bewohner Kitzingens sahen dem zerstörerischen Treiben zu und schlossen sich dann sogar teilweise den SA- und SS-Trupps an, die später in die Häuser von Juden eindrangen, diese verwüsteten und auch plünderten.
brennende Synagoge und -ruine - November 1938 (hist. Aufn., Stadtarchiv Kitzingen)
Die nur teilweise ausgebrannte neue Synagoge wurde später so wiederhergestellt, dass sie als Gewerbebetrieb genutzt werden konnte. Dagegen fiel die alte Synagoge Kitzingens einem Bombenangriff zum Opfer.
Alle männlichen Juden wurden festgenommen und zusammen mit denen aus Nachbargemeinden – insgesamt ca. 100 Personen - im Stadtgefängnis eingesperrt; über Würzburg wurde ein Teil von ihnen ins KZ Dachau verfrachtet. Nach Kriegsbeginn wurden die noch in Kitzingen lebenden Juden in „Judenhäusern“ in der Landwehrstraße eingewiesen. Ende März 1942 wurden 75 Kitzinger Juden - zusammen mit anderen mainfränkischen - in die Region Lublin deportiert; ein halbes Jahr später wurden die letzten Kitzinger Juden - fast ausnahmslos ältere Menschen - nach Theresienstadt verschleppt. Die wenigen „in Mischehe“ lebenden Juden Kitzingens und ihre Familien wurden „verschont“ und mussten ein Leben im Schattendasein führen.
Kitzinger Juden unmittelbar vor ihrer Deportation (hist. Aufn. von 1942, aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind ca. 160 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene jüdische Bewohner Kitzingens der "Endlösung" zum Opfer gefallen (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/kitzingen_synagoge.htm).
Nach Kriegsende gründete sich in Kitzingen keine neue jüdische Gemeinde mehr. Ein in der Synagogenruine provisorisch eingerichteter Betraum diente kurzzeitig US-Soldaten und zurückkehrenden Kitzinger Juden als gottesdienstlicher Versammlungsort. In der Folgezeit diente das teilzerstörte Gebäude profanen Zwecken (als Standort von Handwerks- und Kleingewerbebetrieben).
Seit 1967 erinnert eine Gedenktafel - angebracht an einer Außenmauer der ehemaligen Synagoge - an die einstige Jüdische Gemeinde Kitzingen; ihre Inschrift lautet:
Ehemalige Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde Kitzingen
errichtet 1883 - zerstört 10.11.1938
Die Stadt Kitzingen schuf diese Tafel im Jahre 1967
zum Gedenken an ihre ehemaligen jüdischen Mitbürger.
In der Nähe existiert noch das Gebäude der jüdischen Elementarschule, das heute auch als Stadtmuseum genutzt wird; eine Informationstafel trägt die folgende Beschriftung:
Dieses Gebäude diente von 1914 bis zur Zerschlagung der Kultusgemeinde als jüdische Elementarschule.
Hier lebte und wirkte der Lehrer und Kantor der grossen Israelitischen Gemeinde von Kitzingen
Naphtalie Bamberger mit seiner Ehefrau Irma bis zu seinem Tode am 29.Dezember 1938.
1982 gründete sich der „Förderverein ehemalige Synagoge Kitzingen”, um gegen den drohenden Abriss des Gebäudes – der Stadtrat hatte bereits dafür votiert – Front zu machen. Daraufhin wurde der Beschluss zum Abriss revidiert und Finanzmittel in beträchtlicher Höhe für die baulichen Maßnahmen bereitgestellt. Im Mai 1993 konnte dann das ehemalige Synagogengebäude - nach umfangreicher Restaurierung - als Kulturzentrum eröffnet werden. Eine Inschriftentafel informiert wie folgt:
Diese ehemalige Synagoge wurde von der Stadt Kitzingen renoviert
und nach 30 Monaten Bauzeit am 19.Mai 1993 als Kultur- und Bildungsstätte unter dem Namen ‘Alte Synagoge’ neu eröffnet.
An der Stelle, wo früher der Thoraschrein stand, befindet sich heute eine kleine ‘Synagoge in der Synagoge.’
Front- und Rückseite der Synagoge (Aufn. O., 2009 und Gliwi, 2011, beide Aufn. aus: wikipedia.org, CC BY-SA 2.5 bzw.3.0)
Heute sieht das Synagogengebäude von außen fast wieder so aus wie früher, allerdings erhielt der völlig zerstörte Innenraum ein neues Gesicht. Im Erdgeschoss befinden sich heute ein Gebetsraum, ein Archiv zum Thema „Judentum“ und zwei kleine Seminarräume. Im Obergeschoss gibt es einen großen Saal, der für Konzerte, Vorträge u.ä. genutzt wird.
Kitzingen gehörte 2004 zu den ersten Städten in Deutschland (und es war die allererste in Bayern), in denen sog. „Stolpersteine“ verlegt wurden. Inzwischen sind im Stadtgebiet mehr als 80 solcher messingfarbener Gedenkquader zu finden (Stand 2023).
"Stolpersteine" in Kitzingen (Aufn. G., 2015, aus: wikipedia.org, CCO)
Zum Projekt "DenkOrt Aumühle" bzw. "DenkOrt Deportationen 1941-1944" - eine Beteiligung daran wurde 2017 nahezu einstimmig vom Kitzinger Stadtrat beschlossen - haben mehrere Schülerinnen des Armin-Knab-Gymnasiums unter Leitung ihres Kunsterziehers einen Beitrag geleistet: Es ist die Installation eines aus grauen Beton bestehenden Koffers, der an diejenigen Kitzinger Juden erinnern soll, die im März 1942 von Würzburg aus die Deportation in die "Lager des Ostens" antreten mussten. Die steinerne Koffer-Skulptur hat 2018 in Kitzingen ihren Platz im Rosengarten gefunden; davor befindet sich eine Betonplatte, auf der Fußabdrücke symbolisch den Weg der Menschen in den Tod darstellen sollen (vgl. dazu Würzburg).
Koffer-Skulptur (Aufn. H.Knobling, 2018, aus: denkort-deportationen.de)
In Sickershausen - einem Bauern- u. Weinbaudorf, heute Stadtteil von Kitzingen - bestand im 18./19.Jahrhundert eine winzige jüdische Gemeinde. Ihr Entstehen verdankte sie vermutlich der Ausweisung der jüdischen Familien aus Kitzingen (um 1765). Doch bereits im ausgehenden 16.Jahrhundert lassen sich einzelne Juden in Sickershausen nachweisen. Bei der Erstellung der Matrikel (1817) waren für Sickershausen vier jüdische Haushaltsvorstände aufgelistet, die ihre Familien durch Viehhandel und Schmusen ernährten. Im Verlauf des 19.Jahrhunderts haben bis zu zehn jüdische Familien in Sickershausen gelebt.
Um 1800 gab es im Dorf in der heutigen Michelfelder Straße eine Synagoge (ein Betraum im Dachboden eines Wohnhauses) und eine Mikwe, die an einem vorbeifließenden Bach lag. Verstorbene Gemeindeangehörige wurden auf dem jüdischen Zentralfriedhof in Rödelsee begraben. Anfänglich gehörte die kleine Gemeinde zum Rabbinat Mainbernheim, später dann zu dem von Kitzingen.
Nach Aufhebung des in Bayern bestandenen Ansässigkeitsverbots verließen sie das Dorf, um sich in der Stadt Kitzingen niederzulassen. Die jüdische Gemeinde in Sickershausen wurde um 1900 offiziell aufgelöst; Ritualien waren bereits zuvor der Kitzinger Kultusgemeinde übergeben worden.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind sechs aus Sickershausen stammende Juden dem Holocaust zum Opfer gefallen (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/sickershausen_synagoge.htm).
Nach Auflösung der Gemeinde wurde das Synagogengebäude verkauft; der neue Besitzer ließ es zu einem Wohnhaus umbauen.
In Hohenfeld - heute Ortsteil von Kitzingen (Skizze Monandowitsch, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) - bestand im 18./19.Jahrhundert eine kleine israelitische Gemeinde, die zu keiner Zeit mehr als 40 Angehörige besaß. Bei der Erstellung der Matrikel (1817) waren für das Dorf insgesamt acht Stellen ausgewiesen, deren Inhaber vom wenig ertragbringenden Kleinhandel (Schmusen) lebten.
Die kleine Gemeinschaft verfügte über einen Betraum in einem Privathaus; Verstorbene wurden auf dem jüdischen Zentralfriedhof in Rödelsee beerdigt. Um 1870 löste sich die kleine Gemeinde auf; die noch verbliebenen jüdischen Familien hatten das Dorf dann alsbald verlassen.
In der Ortschaft Rehweiler - heute ein Ortsteil von Geiselwind im Steigerwald, im äußersten Ostteil des Landkreises Kitzingen (Skizze Monandowitsch, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) - bestand von ca. 1720 bis wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg eine kleine jüdische Gemeinde; neben einer Synagoge und einer Mikwe zählte auch ein Begräbnisgelände zum gemeindlichen Eigentum.
Einem bis 1812 belegten Begräbnisareal folgte ein außerhalb der Ortschaft angelegtes Begräbnisgelände an der Straße in Richtung Haag nach, das bis in die NS-Zeit bestanden haben soll. Für die Verrichtung religiös-ritueller Belange hatte die Gemeinde zeitweise einen Lehrer angestellt.
Ende des 18.Jahrhunderts waren mehr als 30 % aller Dorfbewohner Juden. Bei der Erstellung der Matrikellisten wurden für Rehweiler elf Familienvorstände aufgeführt. Die in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts einsetzende Abwanderung führte schließlch 1911 zur Auflösung der Gemeinde.
Das in den 1920er Jahren in Privatbesitz gelangte ehemalige Synagogengebäude diente fortan als Scheune (später als Wohnhaus) und wurde 1979 abgerissen.
Vom Beerdigungsareal sind so gut wie keine Spuren mehr erhalten geblieben; in der NS-Zeit sollen die Steine als Baumaterial verwendet worden sein. Nur ein einziger Grabstein hat die Zeiten überdauert; dieser steht auf einem gemauerten Sockel, der folgende Inschrift trägt:
In ehrwürdigem Gedenken an den jüdischen Friedhof Rehweiler,
der auf dem Felde gegenüber dieses Weges lag und eingeebnet wurde.
Künftigen Generationen zur Besinnung und Mahnung.
Am ehemaligen Wohnhaus der jüdischen Weinhändlers Joseph Friedmann erinnert heute noch eine Inschrift an dessen einstigen Besitzer: „Gesegnet bist du bei deinem Kommen und bei deinem Gehen“.
Weitere Informationen:
Naphtalie Bamberger, Geschichte der Juden von Kitzingen - Festgabe anläßlich des Bestehens der Synagoge 1883 - 1908, Kitzingen 1908 (Neuauflage Kitzingen 1983)
Germania Judaica, Band II/1, Tübingen 1968, S. 402 und Band III/1, Tübingen 1987, S. 616 - 618
Fritz Mägerlein, Judengemeinden im Kitzinger Land, in: "Im Bannkreis des Schwanberges - Heimatbuch für den Landkreis Kitzingen", 11/1969, S. 160 - 172
Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München/Wien 1979, S. 330 – 335
Hans Bauer, Judenfriedhöfe im Landkreis Kitzingen, in: "Im Bannkreis des Schwanberges - Jahrbuch des Landkreises Kitzingen", 1979, S. 60 – 79
Herbert Schultheis, Juden in Mainfranken 1933 - 1945 unter besonderer Berücksichtigung der Deportationen Würzburger Juden, in: "Bad Neustädter Beiträge zur Geschichte u. Heimatkunde Frankens", Band 1, Verlag Max Rötter, Bad Neustadt a. d. Saale 1980, S. 370 ff.
Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. u. 20.Jahrhundert, Hans Christians Verlag, Hamburg 1981, Teil 1, S. 368 und Teil 2, Abb. 287
Harm-Hinrich Brandt, Hundert Jahre Kitzinger Synagoge - Zur Geschichte des Judentums in Mainfranken, in: "Mainfränkische Hefte", No. 81, Würzburg 1984
Roland Flade, Der Novemberpogrom von 1938 in Unterfranken, in: "Schriften des Stadtarchivs Würzburg", Heft 8/1988
Fritz Mägerlein, Judengemeinden im Kitzinger Land, in: "Im Bannkreis des Schwanberges - Heimatbuch für den Landkreis Kitzingen", 1989
Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern - Eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 2.Aufl., München 1992, S. 67 (Sickershausen) und S. 81/82 (Kitzingen)
Chr.Reuther/M.Schneeberger, Nichts mehr zu sagen und nichts zu beweinen. Ein jüdischer Friedhof in Deutschland*, Edition Hentrich, Berlin 1994 (* jüdischer Friedhof Rödelsee bei Würzburg)
Michael Schneeberger, Memorbuch - Zum Gedenken an die ermordeten Kitzinger Juden (1934 - 1945), hrg. vom Förderverein ehemalige Synagoge Kitzingen, Selbstverlag, Kitzingen 1996
www.kitzingen.de/synagoge
Harald Knobling, Die Synagoge in Kitzingen: Geschichte - Gestalt - Bedeutung, in: "Schriften des Stadtarchivs Kitzingen", No. 6, Kitzingen 2003
Michael Schneeberger/Elmar Schwinger, Kitzinger Gedenkbuch, Kitzingen 2003
Albert Liess (Bearb.), Wege in die Vernichtung. Die Deportation der Juden aus Mainfranken 1941 - 1943. Begleitband zur Ausstellung des Staatsarchivs Würzbug u. des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin in Zusammenarbeit mit dem Bezirk Unterfranken, München 2003 (Anm. Der Band enthält Abbildungen aus einem Fotoalbum, die von der Gestapo zusammengestellt wurden.)
Kitzingen, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Sickershausen (Stadt Kitzingen), in: alemannia-judaica.de
Hohenfeld (Stadt Kitzingen), in: alemannia-judaica.de
Rehweiler, in: alemannia-judaica.de
N.N. (Red.), Vom Weingesetz zum Weinhandel, in: „Main-Post“ vom 12.5.2005
Herbert Liedel/Helmut Dollhopf, Jerusalem lag in Franken. Synagogen und jüdische Friedhöfe, Echter-Verlag GmbH, Würzburg 2006, S. 76/77 und S. 92/93
Elmar Schwinger, Die jüdische Gemeinde in Kitzingen (1865 - 1942). Leben zwischen Erfolg und Katastrophe, Vorabdruck der in Vorbereitung stehenden Publikation, Kitzingen 2009
Elmar Schwinger, Von Kitzingen nach Izbica. Aufstieg und Katastrophe der mainfränkischen Israelitischen Kultusgemeinde Kitzingen, in: "Schriften des Stadtarchivs Kitzingen", No. 9/2009
Die Erfolgsgeschichte der jüdischen Weinhändler, online abtufbar unter: kitzingen.info/fileadmin/files_bildung_soziales/juedische_geschichte_weinhaendler.pdf
Doris Badel (Red.), Max Fromm 1873 – 1956. Mitinhaber der jüdischen Weingroßhandlung Nathan Fromm, online abrufbar unter: kitzingen.info
Michael Schneeberger, Yiskor - Gedenkbuch Kitzingen - Gedenkbuch der Kitingrer Opfer des Holocaust (in dt. und engl. Sprache), Neuauflage 2011
Förderverein ehemalige Synagoge Kitzingen/Main (Hrg.), Stolpersteine für Kitzingen, online abrufbar unter: google.com/site/stolpersteinekitzingen/verlegte-stolpersteine
Auflistung der Stolpersteine in Kitzingen, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Kitzingen
N.N. (Red.), Kitzingen: Stolpersteine Nr. 79 und 80, in: inFranken.de vom 14.7.2017
N.N. (Red.), Kitzingens Heimat für kulturelle Vielfalt – Vor 25 Jahren ist die Alte Synagoge umgebaut und neu eingeweiht worden, in: inFranken.de vom 15.1.2018
Katrin Amling (Red.), Ein Koffer gegen das Vergessen, in: „Main-Post“ vom 23.7.2018
Harald Knobling (Red.), DenkOrt Aumühle – DenkOrt Rosengarten, Hrg. Stadt Kitzingen unter: kitzingen.info
Andreas Knappe (Red.), Gedächtnis aufpolieren, Stolpersteine verlegen, in: "Main-Post" vom 20.2.2019
Janina Hupfer (Red.), Mit Stolpersteinen und Blumen gegen das Vergessen, in: inFranken.de vom 28.2.2019
Gerhard Bauer (Red.), Stolpersteine für Familie Ebstein aus Kitzingen gespendet, in: „Main-Post“ vom 20.7.2019
Jürgen Gläser/Valerie Schmidt (Red.), Ausstellung zu jüdischer Geschichte und Wein in Kitzingen (Sept. 2019), in: Sendung des "Bayrischen Rundfunks" vom 4.9.2019
Lena Berger (Red.), Stolpersteine für die Oppenheimers werden verlegt, in: inFranken.de vom 2.3.2020
Jürgen Sterzbach (Red.), Weitere Stolpersteine in der Rosenstraße in Kitzingen verlegt, in: inFranken.de vom 11.3.2020
Elmar Schwinger/Hans-Christoph Dittscheid/Hans Schlumberger (Bearb.), Kitzingen mit Hohenfeld und Sickershausen, in: W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … Synagogengedenkband Bayern, Unterfranken, Teilband III/2.2, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2021, S. 1039 - 1102
Wolf-Dieter Gutsch (Red.), 1700 Jahre Juden in Deutschland: Schicksale im Landkreis Kitzingen, in: „Main-Post“ vom 2.6.2021
Wolf-Dieter Gutsch (Red.), Kitzingen. Juden im Landkreis Kitzingen: Emigration oder Ermordung, in: „Main-Post“ vom 15.6.2021
Corinna Petzold (Red.), Stolpersteine werden als Erinnerung an die Brüder Gerst in Kitzingen verlegt, in: „Fränkischer Tag“ vom 18.4.2023