Lahnstein (Rheinland-Pfalz)
Lahnstein ist eine Kleinstadt mit derzeit ca. 18.000 Einwohnern im Rhein-Lahn-Kreis – etwa sechs Kilometer südlich von Koblenz gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Rhein-Lahn-Kreis', aus: ortsdienst.de/rheinland-pfalz/rhein-lahn-kreis).
Die Anfänge jüdischen Lebens reichen in Oberlahnstein bis in die Mitte des 13.Jahrhunderts zurück; bereits um 1260 sollen sich in Oberlahnstein Juden angesiedelt haben, die unter dem Schutz des Landesherrn, des Erzbischofs von Mainz, standen und diesem schutzgeldpflichtig waren. In Niederlahnstein wurden um 1445 erstmals Juden erwähnt. Vermutlich im Gefolge der angeblichen Ermordung des „guten Werner“ in Oberwesel (1287) kamen auch in Oberlahnstein mehrere Juden zu Tode.
Infolge der Pestpogrome von 1348/1349 ging die kleine jüdische Gemeinde Oberlahnsteins unter; 20 Jahre später unterstützte der Erzbischof von Mainz erneut ihre Ansiedlung im Ort, garantierte den Familie Schutz und verlieh ihnen Privilegien: Die Oberlahnsteiner Juden sollen damals Bürgerrechte besessen haben! Neben allgemeinem Handel waren die hiesigen Juden vor allem im Geldverleih tätig.
Lahnstein - Stich von M.Merian, um 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Von Beginn des 16. bis gegen Ende des 17.Jahrhunderts lebten in Oberlahnstein keine Juden; erst danach wurden erneut wenige Familien ansässig, die ihren Lebensunterhalt als Vieh- und als Kleinhändler bestritten. Sie lebten zumeist in ärmlichen Verhältnissen; so hatten sie mehrfach den erzbischöflichen Schutzherrn gebeten, die Höhe ihres zu entrichtenden Schutzgeldes zu senken. Ihre Schutzgeldzahlungen blieben aber bestehen, wurden teilweise sogar erhöht, als Lahnstein 1806 an das Herzogtum Nassau fiel.
Gottesdienste hielten die Juden Ober- und Niederlahnstein nicht gemeinsam ab; sie trafen sich jeweils in einem Betraum eines Wohnhauses; doch mit der wachsenden Zahl der Gemeindeangehörigen wurden die Räume bald zu klein. In Oberlahnstein wurde deshalb um 1850 ein Neubau bezogen; zwei Jahre später besaß Oberlahnstein den Status einer Kultusgemeinde.
Durchgang zur Synagoge (hist. Aufn., Landesamt)
Mit der deutlichen Zunahme der Zahl der Gemeindeangehörigen in Oberlahnstein ging der Niedergang der Niederlahnsteiner jüdischen Gemeinde einher; ab den 1890er Jahren gehörten dann die wenigen Juden Niederlahnsteins und Braubachs zur Kultusgemeinde Oberlahnstein.
Religiöse Aufgaben der Gemeinde erledigte ein angestellter Religionslehrer, der zugleich als Kantor und Schochet tätig war. Zeitweise erteilte er auch den jüdischen Kindern in Braubach und Osterspai Unterricht, um 1900 auch denen in St. Goarshausen.
Anzeigen aus "Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 7.Febr.1874 und „Der Israelit“ vom 29.Okt. 1900 und 18.Juni 1903
Die Juden Oberlahnsteins legten vermutlich in den 1730er Jahren einen eigenen Begräbnisplatz an. In Niederlahnstein gab es bereits um 1710 einen kleinen jüdischen Friedhof, der im Gemeindewald „Auf der kleinen Hohl“ angelegt worden war.
Die Gemeinde gehörte dem Synagogenbezirk (Bad) Ems an.
Juden in Lahnstein:
Niederlahnstein: Oberlahnstein:
--- 1810/11 ............... ca. 15 Juden, --- 1810/11 ............... 26 Juden,
--- 1842 ...................... 55 “ , --- 1842 .................. 36 “ ,
--- 1850 .................. ca. 50 “ , --- 1871 .................. 46 “ ,
--- 1870 .................. ca. 30 “ , --- 1890 .................. 77 “ ,
--- 1905 ...................... 8 “ , --- 1905 .................. 49 “ ,
--- 1925 ...................... 15 “ , --- 1925 .................. 50 “ ,
--- 1933 .................. 48 “ ,
--- 1939 .................. 15 “ .
Angaben aus: Hubert Seifert, “Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung” - Acht Jahrhunderte jüd. Lebens ...
Um die Jahrhundertwende war der wirtschaftliche Einfluss der Lahnsteiner jüdischen Gemeinde am höchsten: Am Ort besaßen ihre Angehörigen neben fünf Lebensmittelgeschäften und fünf Metzgereien auch drei Textilhandlungen, drei Tabakläden sowie je einen Spirituosenladen, eine Glaserei, eine Gerberei, einen Betrieb zur Fell- u. Häuteverwertung und einen Pferdehandel. Ihr wirtschaftlicher Erfolg förderte auch die Integration in die kleinstädtische Gesellschaft, die sich u.a. darin zeigte, dass jüdische Bürger wiederholt politische Mandate erhielten. Auch wegen des kulturellen und sozialen Engagements mancher Lahnsteiner Juden waren diese in der Bevölkerung allgemein anerkannt.
Ab Beginn der 1930er Jahre machte sich auch in Lahnstein der Einfluss der NSDAP-Propaganda bemerkbar; die antijüdische Hetze zielte insbesondere auf die bestehenden Geschäfte. Am 1.April 1933 wurden die fünf jüdischen Geschäfte mit NS-Parolen wie „Wer vom Juden frißt, stirbt daran!” oder „Deutsche, kauft nicht bei Juden!” beschmiert; vor den Eingängen waren SA- und SS-Männer postiert, die Kaufwillige fotografierten. Dass die antijüdischen Boykottmaßnahmen aber nicht von allen befolgt wurden, zeigte ein Schreiben des NSDAP-Ortsgruppenleiters von Oberlahnstein vom April 1935, das an alle NSDAP-Mitglieder gerichtet war und in dem es u.a. hieß:
„... Die Judenfrage wäre längst gelöst, wenn alle Volksgenossen mithelfen würden. Ich habe mir das Treiben lange angesehen und werde jetzt ohne Rücksicht zugreifen und diejenigen, die einer Gliederung der NSDAP angehören, zur Verantwortung ziehen, die auf der einen Seite ihren Nationalsozialismus betonen und auf der anderen Seite ihre Frau, ihre Kinder zum Einkauf zum Juden schicken oder den Kauf dulden. Ich werde auch alle Beamten ... anprangern. Die Partei ist der Staat, also bezahlen wir sie und müssen uns verbitten, daß mit unserem Gelde beim Juden gekauft wird. ...“
In den Nachtstunden des 9.Novembers 1938 wurde die Synagoge in der Hochstraße geschändet und deren Inneneinrichtung von SA-und SS-Angehörige verwüstet. Tags darauf demolierten Nationalsozialisten jüdische Wohnungen und Geschäftsräume und misshandelten ihre Bewohner; auch Schüler sollen sich daran beteiligt haben. Insgesamt waren etwa 20 Wohnungen und Läden Nieder- und Oberlahnsteins von den Ausschreitungen betroffen. Auch der jüdische Friedhof wurde geschändet. Eine bereits beschlossene Einebnung des Friedhofsgeländes fand allerdings nicht statt; die Grabsteine wurden aber durch einen ortsansässigen Steinmetz entfernt. Den meisten Lahnsteiner Juden gelang noch vor Kriegsbeginn ihre Emigration. Ab Herbst 1940 quartierten die NS-Behörden die verbliebenen Oberlahnsteiner Juden im „Judenhaus“ in der Martinstraße ein. Seit August 1941 wurden dann Juden aus Lahnstein und umliegenden Orten in verfallenen Wohngebäuden der ehem. Bergbau-AG in Friedrichssegen zusammengepfercht und mussten noch fast ein Jahr lang Zwangsarbeit in hiesigen Betrieben leisten. Im Laufe des Jahres 1942 wurden sie von hier in die „Lager des Ostens“ deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 57 bzw. elf gebürtige bzw. über einen längeren Zeitraum in Oberlahnstein bzw. Unterlahnstein ansässig gewesene jüdische Bürger Opfer des Holocaust (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/lahnstein_synagoge.htm).
Wenige Jahre nach Kriegsende standen etwa 60 Personen vor Gericht, die wegen der Ausschreitungen des November 1938 angeklagt worden waren; ein Teil der Beschuldigten wurde schließlich zu geringen Haftstrafen verurteilt.
Nur eine einzige Lahnsteiner Jüdin kehrte im Herbst 1945 aus dem Konzentrationslager Ravensbrück in ihre Heimatstadt zurück; sie lebte hier zurückgezogen bis 1996. Nach Kriegsende wurde das ehemalige Synagogengebäude zu einem Wohnhaus umgebaut; eine Gedenktafel vermisst man allerdings dort.
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. J. Hahn, 2006) und alte Inschrift im Eingangsbereich (Aufn. Hans G. Kuhn)
Der 1877 angelegte, ca. 1.000 m² große (neue) jüdische Begräbnisplatz – hier sind noch ca. 35 Grabsteine vorhanden - liegt an einem Hang unterhalb des des alten Friedhofs.
neuer Friedhof (Aufn. Romke Hoekstra, 2016, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
An die 51 namentlich bekannten jüdischen NS-Opfer aus Lahnstein und dem Mittelrheingebiet erinnert 1996 im Ortsteil Friedrichssegen ein dreiteiliger Gedenkstein; auf den beiden äußeren Stelen sind ihre Namen angebracht, die mittlere trägt die folgende Inschrift:
Ungestillt rinnt die Träne um die Erschlagenen meines Volkes
(Aus unserer gemeinsamen Bibel Jeremias 8,23)
Nach einem Jahr unmenschlicher Zwangsarbeit wurden am 10.Juni und 26.August 1942
mindestens 51 namentlich bekannte jüdische Mitbürger aus den Kreisen Rheingau, St. Goarshausen, Unterlahn, Limburg und Unterwesterwald von Friedrichssegen über das Konzentrationslager Theresienstadt in den Tod deportiert.
DEN OPFERN ZUM GEDENKEN
DEN LEBENDEN ZUR MAHNUNG
2012 wurde in den Straßen Lahnsteins mit der Verlegung von sog. „Stolpersteinen“ begonnen; sie erinnen an Angehörige jüdischer Familien und an sog. "Euthanasie"-Opfer, die der NS-Gewaltherrschaft zum Opfer gefallen sind. Inzwischen findet man in der Stadt ca. 40 dieser kleinen messingfarbenen Steinquader (Stand 2023).
vier Stolpersteine - verlegt in der Ostallee und Westallee (Aufn. Gmbo, 2017, aus: wikipedia.org, CCO)
Im Jahre 1853 wurde Hugo Rheinhold in Lahnstein geboren. Nach zunächst kaufmännischer Erwerbstätigkeit (wenige Jahre auch in den USA) begann er Ende der 1880er Jahre ein Kunststudium in Berlin. Danach machte er sich bald einen Namen als Bildhauer. 1895 wurden zwei seiner Werke ("Am Wege" und "Die Kämpfer") auf der Kunstausstellung in Berlin gezeigt. Eines seiner bekanntesten Schöpfungen ist der "philosophierende Affe". Hugo Rheinhold starb 1900 in Berlin.
In Braubach a. Rh. sind jüdische Bewohner erstmals 1287 urkundlich genannt; allerdings handelte es sich nur um sehr wenige Familien. Auch nach dem Pestpogrom haben vereinzelt Juden hier gelebt, die Schutzbriefe der Grafen von Katzenelnbogen besaßen. Gegen Mitte des 16.Jahrhunderts waren zwei jüdische Familien in Braubach ansässig. Die in der Kleinstadt lebenden jüdischen Einwohner wurden spätestens im 19. Jahrhundert der Gemeinde in Oberlahnstein zugeteilt. 1842 wurden 17 jüdische Einwohner am Ort gezählt, Anfang der 1930er Jahre nur noch eine vierköpfige Familie.
Einziger Hinweis auf jüdisches Leben in Braubach ist der vermutlich im 17.Jahrhundert angelegte israelitische Friedhof auf einem Hanggelände der ehemaligen Blei- und Silberhütte, der aber nur noch wenige Grabsteine besitzt.
Im rheinaufwärts liegenden Osterspai gab es im 19.Jahrhundert eine winzige israelitische Gemeinde, die aus maximal acht Familien sich zusammensetzte. Zwar waren die Juden Osterspais offiziell der Gemeinde Oberlahnstein zugehörig, doch besaßen sie eine eigene Betstube und einen eigenen Begräbnisplatz, auf dem auch Verstorbene aus Filsen und Kamp-Bornhofen beerdigt wurden. Um 1915/1920 lebten keine Juden mehr im Ort.
Auf dem ca. 800 m² großen jüdischen Friedhofsgelände sind heute nur noch vier Grabsteine zu finden. In den letzten zwei Jahrzehnten war das Begräbnisgelände mehrfach Ziel von Schändungen.
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 151 – 153
Helene-Hildburg Thill, Noch nicht einmal alle Grabsteine sind geblieben. Juden aus Braubach, in: "SACHOR - Beiträge zur jüdischen Geschichte in Rheinland-Pfalz", Heft 4, 1/1993
Germania Judaica, Band II/2, Tübingen 1968, S. 616 und Band III/1, Tübingen 1987, S. 147/148 (Braubach) und Band III/2, Tübingen 1995, S. 1047 - 1051
Elmar Ries, Friedrichssegen/Lahn: Ein Jahr Zwangsarbeit für jüdische Menschen vor ihrer Deportation im Jahre 1942, in: "SACHOR - Beiträge zur jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz", Heft 13 (1/1997)
Elmar Ries, Von der Klassenlektüre zum Mahnmal - Ein Projekt der Realschule Oberlahnstein, in: "SACHOR - Beiträge zur jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz", Sonderheft 1/1998, S. 16 f.
Hubert Seifert, “Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung” - Acht Jahrhunderte jüdisches Leben in Lahnstein, in: "SACHOR - Beiträge zur jüdischen Geschichte und zur Gedenkstättenarbeit in Rheinland-Pfalz", Heft 19 (2/2000), S. 5 - 21
Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels “. Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 224/225 und S. 308
Lahnstein, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Osterspai, in: alemannia-judaica.de
Jüdischer Friedhof in Braubach, in: alemannia-judaica.de (mit mehreren Aufnahmen)
Stolpersteine in Lahnstein, online abrufbar unter: stolpersteine-lahnstein.de
Auflistung der in Lahnstein verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Lahnstein
Hans G. Kuhn/Hubertus Seibert, Was geblieben ist. Spuren jüdischen Lebens in Lahnstein, in: "Schriftenreihe des Lahnsteiner Altertumsvereins 1880 e.V.", Band 2, Lahnstein 2015
Stadt Lahnstein (Red.), Wegweiser zu den Stolpersteinen in Lahnstein erschienen, in: lahnstein.de vom 18.4.2017 (Pressemitteilung)
Stadt Lahnstein (Red.), Geschichte vor Ort erlebt - Nachfahren der jüdschen Familie Mainzer besuchten die Heimat ihrer getöteten Großeltern in Lahnstein, in: blick-aktuell.de vom 11.7.2022 (Pressemitteilung)