Lauterbach (Hessen)

Datei:Mittelhessen Vogelsberg Lau.png Lauterbach ist heute eine Kreisstadt mit ca. 13.000 Einwohnern im nordhessischen Vogelsbergkreis - etwa 25 Kilometer nordwestlich von Fulda (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Vogelsbergkreis', Andreas Trepte 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 2.5).

Blick auf Lauterbach, um 1850 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

 

Von wenigen Ausnahmen abgesehen verbot das einheimische Adelsgeschlecht Riedesel jahrhundertelang Juden die Ansiedlung in Lauterbach. Das Betreten der Region war lediglich umherziehenden „Hausierjuden“ gestattet; allerdings durften diese nur eine ganz bestimmte Produktpalette handeln, damit einheimische Geschäftsleute keine unliebsame Konkurrenz bekamen. Erst nach Mitte des 19.Jahrhunderts erhielten jüdische Familien ein ständiges Bleibe- und Wohnrecht in Lauterbach zugesprochen, obwohl ihnen dies bereits durch die Gemeindeordnung im Großherzogtum Hessen-Darmstadt (von 1821) zugestanden hätte. Die Zahl jüdischer Bewohner Lauterbachs stieg nach 1860 stetig an. Nur selten bauten Juden neue Häuser in Lauterbach; vielmehr erwarben sie schon bestehende Gebäude und bauten diese bedarfsgerecht um. Erst im Jahre 1898 konstituierte sich die jüdische Religionsgemeinde Lauterbach, der sich die wenigen jüdischen Familien aus dem nahen Herbstein, Landenhausen und Maar anschlossen.

Zunächst wurden Gottesdienste in einem Betsaal in einem Hause am Unteren Graben abgehalten - dieses Gebäude wird auch heute noch im Volksmund „Juddeschul“ genannt. 1907/1908 errichtete die jüdische Gemeinde eine Synagoge „Hinter der Burg“, die fast 180 Sitzplätze besaß. Der Mitte August 1908 eingeweihte Synagogenneubau war im Jugendstil erstellt und recht repräsentativ. Der „Lauterbacher Anzeiger” berichtete am 15.8.1908 über die Einweihungsfeierlichkeiten:

„ ... Die Einweihungsfeierlichkeit der Synagoge der hiesigen israelitischen Religionsgemeinde wurde am gestrigen Freitag nachmittag 1 Uhr unter dem Beginn eines Abschiedsgottesdienstes in der alten Synagoge vollzogen. Nach einem Festzug ... von der alten in die neue Synagoge übergab ... (eine Person) ... im Auftrage des Baumeisters ... den Schlüssel. ...

Nachdem die Weihegebete und die Chorgesänge verklungen waren, betrat der Herr Provinzialrabbiner Dr. Hirschfeld - Gießen die Kanzel und hielt die Festpredigt verbunden mit einem Gebet für das deutsche Kaiserhaus und unseren Landesfürsten ... “

                          Lauterbacher Synagoge (hist.  Aufn. um 1920, Stadtarchiv)

Für die Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Lehrer angestellt; diese Stelle wurde 1892 erstmals ausgeschrieben.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20117/Lauterbach%20Israelit%2005011891.jpgAusschreibung der Lehrerstelle in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 7.1.1892

Etwa zeitgleich mit der Gemeindegründung wurde auf einem von Samuel Strauß gestifteten Grundstück „Am Kalkofen“ ein israelitischer Friedhof angelegt, die erste Grabstelle 1899 belegt. In den Jahrzehnten zuvor waren Verstorbene auf Friedhöfen in ihren Herkunftsorten beerdigt worden. Zur jüdischen Gemeinde von Lauterbach zählten auch die wenigen Familien aus Herbstein, Landenhausen und Maar.

Die Kultusgemeinde Lauterbach unterstand dem orthodoxen Provinzialrabbinat Gießen.

Juden in Lauterbach:

         --- 1864 ........................  11 Juden,

    --- 1871 ........................  14   “  ,

    --- 1880 ........................  32   “  ,

    --- 1890 ........................  72   “  ,

    --- 1900 ........................  77   “  ,

    --- 1905 ........................ 121   “  ,

    --- 1910 ........................ 115   “  ,

    --- 1920 ........................ 117   “  ,

    --- 1925 ........................ 139   “  ,

    --- 1930 .................... ca. 150   “  (ca. 2% d. Bevölk.),

    --- 1940 (Dez.) ................. keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 481

und                  Faltblatt: Spuren Suche - Juden in Lauterbach

 

Die Lauterbacher Juden arbeiteten zumeist als Kaufleute, darunter waren auch einige Viehhändler. Kontakte zur einheimischen christlichen Bevölkerung waren fast nur geschäftlicher Natur; private Beziehungen blieben die Ausnahme.

Anzeigen jüdischer Geschäftsleute aus Lauterbach:

  

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20405/Lauterbach%20Dok%200601.jpg Eisenbachertor mit Geschäft von Aron Stein, Bildmitte: Haus mit Markise (aus: Sammlung P.K. Müller)

Nach der NS-Machtübernahme von 1933 wanderten Juden schon frühzeitig aus Lauterbach ab; entweder sie emigrierten in die USA, in Länder Südamerikas, nach Palästina und in westeuropäische Staaten oder sie verzogen in größere deutsche Städte, meist nach Frankfurt/Main. In zunehmenden Maße wurden Juden in Lauterbach ausgegrenzt, von der NS-Presse diffamiert und aus der Öffentlichkeit verbannt. In einem Zeitungsartikel von August 1933 hieß es:

Städtische Bekanntmachung.

Das in letzter Zeit wiederholt beobachtete Auftreten eines größeren Kreises jüdischer Personen, insbesondere an Samstagnachmittagen, hat bei der nationalsozialistisch-denkenden Bevölkerung berechtigte Empörung ausgelöst und ist geeignet, die öffentliche Ruhe und Ordnung zu gefährden. In Anlehnung an den Erlaß des Herrn Landespolizeipräsidenten ... hat deshalb ein öffentliches Auftreten eines größeren jüdischen Personenkreises innerhalb der Gemarkung Lauterbach zu unterbleiben.

Lauterbach, den 31.August 1933                                         Hessische Bürgermeisterei, Dr. Mahr, komm. Bgmstr.

                 

                Am 19.Juli 1935 veröffentlichte die Lokalpresse die folgende Meldung:

Juden sind unerwünscht !

Mehr und mehr setzt sich im deutschen Volke die Erkenntnis durch, daß der Jude im Wesen etwas anderes, und fremdes und feindliches ist, ... seit gestern hängt am Eingang des Stadtparkes auf Veranlassung der Stadtverwaltung ein Schild, das den Juden unseren Standpunkt klarmacht. Damit hat auch unsere Stadt einen ersten Schritt auf dem Wege getan, ihre Erholungsstätten nur deutschen Menschen vorzubehalten, dem sicher noch andere folgen werden. Die Lauterbacher Bevölkerung aber wird es dankbar anerkennen, daß ihr ein judenfreier Aufenthalt zur Verfügung steht.

Weitere Verbote folgten; sogar der städtische Leichenwagen durfte von nun an nicht mehr benutzt werden (!).

Während des Novemberpogroms von 1938 wurde auch die Synagoge in Lauterbach in Brand gesetzt und vollständig zerstört. Die Ruine blieb noch mehrere Jahre stehen, ehe sie dann 1942 abgerissen wurde. Diese „spontane Aktion“, bei der auch Wohnungen jüdischer Einwohner demoliert wurden, hatten in Zivil gekleidete SA- und SS-Angehörige ausgeführt.

 

                                                                                                            Artikel aus der Lokalpresse  1938/1939

                                             Synagogenruine (Aufn. um 1940, Stadtarchiv)

Das Friedhofsgelände wurde Ende 1938 verkauft.

Am 20.November 1940 verließ der letzte jüdische Bewohner Lauterbach; Deportationen direkt aus dem Orte Lauterbach sind nicht erfolgt.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und dem "Gedenkbuch - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind ca. 25 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene jüdische Bewohner Lauterbachs Opfer der „Endlösung“ geworden; aus Landenhausenwaren sechs Personen (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/synagoge_lauterbach.htm).

(Abb. Reinhardhauke, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)        Am Standort der einstigen Synagoge wurde an einer Mauer eine kleine Gedenktafel mit folgendem Wortlaut angebracht:

Hier stand von 1908 bis 1938 die Synagoge der Israelitischen Gemeinde Lauterbach.

Am 10.November 1938 wurde sie von den Nationalsozialisten in Brand gesteckt

und brannte - ein Fanal der verbrecherischen Judenverfolgung - völlig aus.

 Im Hohhaus-Museum befindet sich ein Modell der Synagoge (Abb. aus: judaica-vogelsberg.de).

Auf der westlich des kommunalen Friedhofs gelegenen jüdischen Begräbnisstätte sind heute noch ca. 50 Grabstellen vorhanden.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20206/Lauterbach%20HS%20Friedhof%20171a.jpg http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20206/Lauterbach%20HS%20Friedhof%20176.jpg

Jüdischer Friedhof in Lauterbach (Aufn. J. Hahn, 2009)

2008 wurden Dank der Initiative von Kirchen, Vereinen, Bürgern und Jugendlichen die ersten sog. „Stolpersteine“ zum Gedenken an ehemalige Lauterbacher Juden in der Stadt verlegt. Kontroverse Ansichten bezüglich solcher Gedenktäfelchen verzögerten zunächst die Verlegung weiterer Steine. 2014/2016 waren in der Kernstadt bereits 27 Steine zu finden; inzwischen hat sich ihre Zahl auf insgesamt ca. 55 erhöht (Stand 2023).

  Aufn. aus: kraussmartin.de

Lauterbach (Hessen) Stolpersteine 2509.JPG Aufn. R. Hauke, 2012, aus: wikipedia,org, CC BY-SA 3.0

 

 

Um die Wende des 19. zum 20.Jahrhunderts gab es im Gebiet des heutigen Vogelsberg-Kreises 18 israelitische Religionsgemeinden, die alle dem Provinzialrabbinat Gießen unterstanden.

Neben den mehrheitlich religiös-orthodox ausgerichteten Gemeinden wie Alsfeld, Angenrod, Crainfeld, Einartshausen, Kestrich, Kirtorf, Schlitz, Schotten und Storndorf sind die mehr liberal eingestellten Kultusgemeinden von Bobenhausen, Grebenau, Homberg, Nieder-Gemünden, Romrod und Ulrichstein zu nennen.

Des weiteren gab es eine jüdische Gemeinde in Nieder-Ohmen und Ober-Gleen.

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 481 - 483

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 132

H.Dittmar/H.Jäkel, Geschichte der Juden in Alsfeld, Alsfeld 1988

Alfred Schneider, Sind Juden am Orte ? Juden werden gar nicht geduldet !, in: Fragmente ... jüdischen Lebens im Vogelsberg, Kulturverein Lauterbach e.V. (Hrg.), Lauterbach 1994, S. 9 - 22

Karl-August Helfenbein, Religionslehrer als Brennpunkte jüdischen Gemeindelebens in Lauterbach, in: Fragmente ... jüdischen Lebens im Vogelsberg, Kulturverein Lauterbach e.V. (Hrg.), Lauterbach 1994, S. 23 - 29

Alfred Schneider, Wir bauen hier so feste und sind doch fremde Gäste, in: Fragmente ... jüdischen Lebens im Vogelsberg, Kulturverein Lauterbach e.V. (Hrg.), Lauterbach 1994, S. 94 - 100

Alfred Schneider, Jüdischer Friedhof Lauterbach, in: "Heimat im Bild - Lauterbacher Anzeiger", Sept. 1994

Heinrich Dittmar, Spurensuche im Vogelsberg, Alsfeld 1994

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II - Reg.bezirke Gießen und Kassel, Hrg. Studienkreis Deutscher Widerstand, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 197 f.

Faltblatt: Spuren Suche - Juden in Lauterbach, Hrg. Arbeitsgruppe “Jüdisches Leben”, o.J.

Lauterbach mit Stadtteil Maar, Landenhausen und Herbstein, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Stolpersteine in Lauterbach – Dokumentation, online abrufbar unter: kraussmartin.de

Oliver Hack (Red.), Steine des Anstoßes, in: „Lauterbacher Anzeiger“ vom 21.4.2018

Claudia Kempf/Oliver Hack (Red.), Namen und Steine gegen das Vergessen, in: „Lauterbacher Anzeiger“ vom 13.8.2018