Lindheim (Hessen)
Lindheim ist seit 1973 ein Ortsteil der Großkommune Altenstadt im Wetterau-Kreis - ca. 30 Kilometer nordöstlich von Frankfurt/M. gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte ohne Eintrag von Lindheim, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Wetteraukreis', aus: ortsdienst.de/hessen/wetterauskreis).
Im wenige Kilometer östlich von Altenstadt gelegenen Lindheim gab es eine kleine jüdische Kultusgemeinde, die zu einer der ältesten in der Wetterau zählte. Dieser gehörten auch die wenigen Familien aus Hainchen an. Bereits im 18.Jahrhundert sollen acht bis zehn jüdische Familien in Lindheim gelebt haben.
Zu gottesdienstlichen Zusammenkünften traf man sich in dem kleinen Bethaus in der Borngasse, das etwa 40 Personen Platz bot.
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. aus: Th. Altaras, 1970er Jahre ?)
Mit den Nachbarorten Glauberg und Himbach bestand zeitweilig ein Schulverband, der für die Unterrichtung der jüdischen Kinder sorgte.
aus: "Der Israelit" vom 26.9.1901 und 25.5.1903
Verstorbene Gemeindeangehörige wurden bis um 1900 auf dem Friedhof in Hainchen beerdigt, der auch Glaubensgenossen aus Altenstadt aufnahm; als dieser belegt war, wurde ein Gelände in Lindheim - an der Straße nach Heegheim gelegen - benutzt.
Die Gemeinde gehörte zum orthodoxen Provinzialrabbinat Oberhessen mit Sitz in Gießen.
Juden in Lindheim:
--- 1830 ..................... ca. 75 Juden,* * mit Hainchen
--- 1861 ......................... 30 “ ,
--- 1880 ......................... 41 “ (ca. 6% d. Bevölk.),
--- 1905 ......................... 60 “ ,*
--- 1910 ......................... 44 " ,
--- um 1930 .................. ca. 35 " (in 6 Familien),
--- 1939 ......................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 495
Die Juden Lindheims lebten vorwiegend vom Handel mit Landesprodukten und Vieh; nebenbei betrieben sie eine kleine Landwirtschaft.
Auf Grund der zunehmenden Entrechtung verließen die jüdischen Familien ab Mitte der 1930er Jahre ihr Heimatdorf. Beim Novemberpogrom 1938 zogen einheimische Nationalsozialisten durch das Dorf, verwüsteten und plünderten jüdisches Eigentum. Das Synagogengebäude blieb unbeschädigt; es muss zu diesem Zeitpunkt bereits verkauft gewesen sein.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vaschem/Jerusalem sind nachweislich 15 gebürtige bzw. längere Zeit in Lindheim ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der NS-Verfolgung geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/lindheim_synagoge.htm).
Der einstöckige Fachwerkbau, der den Betraum beherbergte, hat die Zeiten überdauert und wird heute zu Wohnzwecken genutzt.* *Anderen Angaben zufolge soll das Gebäude um 1970 abgerissen worden sein.
Der nördlich des Ortes sich befindende jüdische Friedhof weist eine Gräberreihe auf.
Jüdisches Begräbnisgelände in Lindheim (Aufn. J. Hahn, 2008)
In Lindheim wurden 2022 die ersten sieben „Stolpersteine der Kommune Altenstadt verlegt (Abb. pv, 2022, aus: fnp.de); so erinnern in der Düdelsheimer und Altenstädter Straße die messingfarbenen Steine an Angehörige der jüdischen Familien Lindheimer, von denen sich nur die jüngeren in die Emigration retten konnten. 2024 folgten weitere Gedenkquader.
Anm.: Der von 1853 bis 1860 in Lindheim tätige evangelische Pfarrer Rudolf Oeser wurde unter dem Pseudonym O. Glaubrecht als „Volksschriftsteller“ bekannt. In seiner Veröffentlichung „Das Volk und seine Treiber“ schilderte er die Geschichte der Bewohner eines Lindheimer Bauernhofes, die unter dem Einfluss einer jüdischen Familie standen. Dieses Buch verstärkte die antijüdische Haltung der ländlichen Bevölkerung erheblich.
Leopold von Sacher-Masoch (geb. 1836 in Lemberg), ein (nichtjüdischer) österreichischer Schriftsteller und Professor der Geschichte, setzte sich zeitlebens gegen den Antisemitismus in Mittel/Osteuropa ein und genoss deshalb größte Achtung beim Judentum seiner Zeit. Er verfasste mehr als 100 Romane, Novellen und Theaterstücke; im Mittelpunkt mehrerer Publikationen stand das galizische Judentum. Im Jahre 1890 nahm v. Sacher-Masoch seinen Wohnsitz in Lindheim. Auch hier setzte er seinen Kampf gegen den herrschenden Antisemitismus fort: 1893 gründete er in Lindheim den "Oberhessischen Verein für Volksbildung" - mit der Zielsetzung, dem Judenhass zu begegnen, den er der fehlenden Bildung der Menschen zuschrieb. Doch mit dem frühen Tode von Sacher-Masoch (1895) brach sein „Bildungs-Unternehmen“ zusammen. Heute erinnert am ehemaligen Wohnsitz in Lindheim eine Gedenktafel an Leopold v. Sacher-Masoch. In seiner Geburtsstadt Lemberg erinnert heute eine lebensgroße Bronzeskulptur an ihn.
vgl. dazu auch: Altenstadt (Hessen) – Höchst/Nidder (Hessen)
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Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 495
Elisabeth Johann, Unsere jüdischen Nachbarn. Ein fast vergessener Teil der Ortsgeschichte von Altenstadt, Höchst an der Nidder und Lindheim, Hrg. Gemeinde Altenstadt, 1991
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt, 1995 S. 309 - 311
Thea Altaras, Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945? Königstein im Taunus 2007, S. 387/388
Lindheim mit Hainchen, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
pv (Red.), Anstoß zur Erinnerung an Lindheims jüdische Mitbürger, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 24.9.2022
N.N. (Red.), 16 weitere Stolpersteine in Altenstadt und Lindheim verlegt, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 22.11.2024