Lüdinghausen (Nordrhein-Westfalen)
Lüdinghausen ist eine Stadt mit nahezu 25.000 Einwohnern nördlich von Dortmund bzw. südwestlich von Münster im Kreis Coesfeld (Ausschnitt aus hist. Karte von 1886, aus: wikipedia.org gemeinfrei und Kartenskizze 'Kreis Coesfeld', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Lüdinghausen war einer der Orte im Fürstbistum Münster, in dem eine Niederlassung von Juden nicht erlaubt war. Erst in napoleonischer Zeit (ab 1807) siedelten sich hier zwei jüdische Familien an.
Die wenigen jüdischen Familien trafen sich zu Gottesdiensten zunächst in einem Privathaus; seit 1839 nutzte die kleine jüdische Gemeinschaft ein schlichtes zweigeschossiges Gebäude in der Hinterstraße, der heutigen Hermannstraße, als Synagoge. In der Mitte des Betraum stand erhöht auf einem Podest die Bima, an der Seite wenige Bänke. Die Frauen erreichten die Empore über eine schmale Treppe.
In diesem Gebäude befanden sich auch der Schulraum und die Lehrerwohnung. Gottesdienste wurden in der Lüdinghausener Gemeinde über lange Jahre hinweg in den überlieferten religiösen Formen und Vorschriften durchgeführt. Zwischen 1834 und 1836 sowie 1864 und 1873 soll es am Ort auch eine jüdische Elementarschule gegeben haben. Ansonsten besuchten die wenigen jüdischen Kinder die katholische Ortsschulen. Religionsunterricht erteilten Wanderlehrer oder die Eltern.
Zwischen Stever- und Wolfsberger Straße befand sich der Friedhof der kleinen jüdischen Gemeinde.
Lüdinghausen war nach dem Ersten Weltkrieg Hauptort des Synagogenbezirks mit den Gemeinden Lüdinghausen, Olfen, Bork, Selm, Seppenrade, Senden und Ascheberg; zuvor hatte Olfen diese Funktion besessen.
Bis in die 1930er Jahre gehörte die Lüdinghauser Gemeinde zum orthodoxen Bezirksrabbinat Recklinghausen.
Juden in Lüdinghausen:
--- 1816 ....................... 12 Juden (in drei Familien),
--- 1827 ....................... 27 “ ,
--- 1858 ....................... 28 “ ,
--- 1871 ....................... 36 “ ,
--- 1895 ....................... 33 " ,
--- 1909 ....................... 31 “ ,
--- 1925 ....................... 39 “ ,
--- 1933 ....................... 22 “ ,
--- 1938 (Juli) ................ 23 “ ,
--- 1939 (Sept.) ............... 15 “ ,
--- 1941 (Okt.) ................ 13 “ ,
--- 1942 (Aug.) ................ keine.
Angaben aus: Andreas Determann, Die jüdischen Gemeinden in Lüdinghausen und Olfen 1800 - 1918, S. 171
und Thomas Rahe, Die jüdischen Gemeinden in Olfen und Lüdinghausen seit 1918, S. 198
Ihren Lebensunterhalt verdienten die Lüdinghausener Juden anfänglich nur vom ‚Schacher’ mit Hausier- u. Gebrauchtwaren; Jahrzehnte später waren sie Vieh- und Kleinhändler, aber auch Handwerker. Die meisten Familien wohnten in der Mühlenstraße und Olfener Straße. Die kleine jüdische Minderheit in Lüdinghausen setzte sich in den Jahren der Weimarer Republik aus 20 bis 40 Personen zusammen und blieb damit gerade groß genug, um ihr religiöses Leben aufrecht erhalten zu können.
Im Sommer 1928 wurden auf dem jüdischen Friedhof Grabmäler umgestürzt und andere beschädigt; diese Schändung fand reichsweit Beachtung; die Täter konnten nicht ermittelt werden.
In den ersten Jahren der NS-Diktatur blieben die wenigen jüdischen Familien vorwiegend zunächst im Ort. Nur wenige, meist jüngere, emigrierten. Im katholisch geprägten, zentrumsorientierten Lüdinghausen fand die NS-Propaganda zunächst nur wenig Widerhall, was die jüdischen Bewohner in trügerische Sicherheit wog.
Während des Novemberpogroms von 1938 kam es in Lüdinghausen zu tätlichen Angriffen auf hier lebende Juden und zu Beschädigungen ihres Eigentums; auch in der Synagoge wurde Schaden angerichtet; einige jüdische Bewohner wurden inhaftiert. Nun setzte die „Arisierung“ jüdischen Grundbesitzes ein; dessen Alteigentümer bemühten sich zeitgleich um Auswanderung. Auch das Synagogengebäude musste abgetreten werden, der jüdische Friedhof wurde 1939 aus „sanitätspolizeilichen Gründen” geschlossen; die Grabsteine wurden abgeräumt, das freigewordene Areal als Abstellplatz genutzt.
Einem ersten Deportationstransport ins Ghetto Riga im Dezember 1941 gehörten auch einige Lüdinghausener Juden an; die letzten jüdischen Einwohner wurden Ende Juli 1942 nach Theresienstadt „umgesiedelt“.
Auf Weisung der NSDAP-Ortsgruppenleitung mussten während des Krieges sowjetische Kriegsgefangene die sterblichen Überreste der seit 1920 auf dem Lüdinghausener Friedhof bestatteten Juden ausgraben; diese wurden dann in ein Massengrab auf den jüdischen Friedhof in Dortmund-Hörste verbracht.
Drei Jahre nach Kriegsende standen drei am Novemberpogrom in Lüdinghausen Beteiligte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor der Sonderstrafkammer des Landgerichts Münster und wurden zu kurzzeitigen Haftstrafen verurteilt.
An die ehemalige jüdische Gemeinde erinnern im heutigen Stadtbild nur der Friedhof (Steverstraße) und ein Denkmal am Standort des einstigen Synagogengebäudes (Hermannstraße), das in den 1980er Jahren abgerissen worden war.
Die auf dem Friedhof in zwei Reihen stehenden Grabsteine – insgesamt sind es ca. 50 – befinden sich nicht mehr an ihren ursprünglichen Standorten. Die von Einwohnern geretteten Steine wurden auf Anordnung der britischen Besatzungsbehörden nach 1945 wieder auf dem Friedhofsgelände aufgestellt.
Ansichten einer Gräberreihe (Aufn. P., 2006 und D. Rabich, 2013, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Anlässlich einer Gedenkveranstaltung zum 80Jahrestag, an dem jüdische Lüdinghauser exhumiert und in ein Massengrab in Dortmund verbracht worden waren, wurden auf dem.Friedhofsgelände Informationstafeln aufgestellt, die an die schmerzhafte Geschichte der Begräbnisstätte erinnern (2022).
Eine aus schwarzem Stein gefertigte Stele - im Jahre 1994 in der Hermannstraße aufgestellt - trägt zum einen die Namen der Holocaust-Opfer aus Lüdinghausen, zum anderen zeigt sie im Relief die Südwestseite der Synagoge (Aufn. aus: schwarzaufweiss.de); darunter sind folgende Worte hinzugefügt:
Hier stand von 1838 – 1982 die Synagoge der Israelitischen Gemeinde Lüdinghausen.
Sie wurde am 9.November 1938 von den Nationalsozialisten geschändet.
Zum Andenken an unsere jüdischen Bürgerinnen und Bürger, die in den Jahren 1933 – 1945
gedemütigt, entrechtet, vertrieben und ermordet wurden.
Seit 2008/2009 erinnern sog. „Stolpersteine“ vor Häusern, in denen jüdische Bürger ihren letzten frei gewählten Aufenthaltsort hatten, an deren Schicksal; insgesamt zählt man ca. 30 Steine (Stand 2021).
verlegt in der Olfener Straße (Aufn. T., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
... und in der Mühlenstraße
In Ascheberg-Herbern - ca. 20 Kilometer östlich von Lüdinghausen - erinnern vier "Stolpersteine" an Angehörige der Familie Samson, die 1941 deportiert wurden; zwei Familienmitglieder überlebten das KZ Stutthof.
Aufn. T., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
Weitere Informationen:
H.A. Mertens, Jüdische Gemeinden und Institutionen im Kreis Lüdinghausen und einige weiterführende Gedanken über die Erforschung der jüdischen Geschichte, in: "An Stever und Lippe", No. 19/1967
Bernhard Brilling, Die jüdische Gemeinde, in: 675 Jahre Stadt Lüdinghausen, Lüdinghausen 1983, S. 125 - 129
Andreas Determann, Die jüdischen Gemeinden in Lüdinghausen und Olfen 1800 - 1918, in: D. Aschoff (Bearb.), Die Juden im Kreis Coesfeld - "Beiträge zur Landes- u. Volkskunde des Kreises Coesfeld", Band 24, Dülmen 1990, S. 168 ff.
Thomas Rahe, Die jüdischen Gemeinden in Olfen und Lüdinghausen seit 1918, in: D. Aschoff (Bearb.), Die Juden im Kreis Coesfeld, "Beiträge zur Landes- u. Volkskunde des Kreises Coesfeld", Band 24, Dülmen 1990, S. 195 - 216
G. Birkmann/H. Stratmann, Bedenke vor wem du stehst - 300 Synagogen und ihre Geschichte in Westfalen und Lippe, Klartext Verlag, Essen 1998, S. 212/213
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 353/354
Liane Schmitz, 800 – 2000. Zur Geschichte von Lüdinghausen und Seppenrade, Lüdinghausen 2000
Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen. Regierungsbezirk Münster, J.P.Bachem Verlag, Köln 2002, S. 199 – 202
Gerd Krüger, Antiseimitische Übergriffe 1923 – Schändung des jüdischen Friedhofs 1928: Überlegungen zu zwei vergessenen Ereignissen der jüngeren Lüdinghauser Stadtgeschichte, in: "Geschichtsblätter des Kreises Coesfeld", 31/2006, S. 105 – 136
Andreas Determann (Bearb.), Lüdinghausen, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XLV, Ardey-Verlag, München 2008, S. 467 – 479
Michael Kertelge/Heike Wittstamm/Bärbel Zimmer, Lüdinghauser Stolpersteine, Druckhaus Rademann, Lüdinghausen 2009
Auflistung der Stolpersteine in Lüdinghausen, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_Lüdinghausen (mit Abbildungen)
Auflistung der verlegten Stolpersteine in Aschberg, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Ascheberg
Josef Farwick, Biografische Geschichte der jüdischen Familien in Herbern und Ascheberg 1710 - 1945, Ascheberg 2004
Sigmar Syffus (Red.), Gedemütigt - deportiert und getötet. Erinnerung an Opfer aus Ascheberg und Herbern, in: "Westfälische Nachrichten" vom 8.11.2013
Peter Werth (Red.), Lüdinghausen: Schleichende Enteignung jüdischer Vermögen, in: „Westfälische Nachrichten“ vom 7.1.2017
Michael Kertelge (Red.), 19 Leichen solen exhumiert werden, in: „Westfälische Nachrichten“ vom 24.3.2020
Michael Kertelge (Red.), Nazis ließen Leichen exhumieren. Infotafeln auf dem jüdischen Friedhof werden eingeweiht, in: „Westfälische Nachrichten“ vom 12.10.2022
awf (Red.), „Wir sind Geschwister im Glauben“ - Bewegende Gedenkfeier auf dem jüdischen Friedhof (Lüdinghausen), in: „Westfälische Nachrichten“ vom 21.10.2022