Mittelsinn (Unterfranken/Bayern)

https://de-academic.com/pictures/dewiki/75/Kreis_Salm%C3%BCnster.jpgDatei:Mittelsinn in MSP.svg Mittelsinn ist mit derzeit ca. 900 Einwohnern heute ein Ortsteil der Verbandsgemeinde Burgsinn im Main-Spessart-Kreis - ca. 25 Kilometer nordwestlich von Hammelburg bzw. ca. 50 Kilometer südlich von Fulda bzw. östlich von Gelnhausen gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: de-academic.com und Kartenskizze 'Main-Spessart-Kreis', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Ihren personellen Zenit erreichte die israelitische Gemeinde Mittelsinn um 1840 und den Folgejahrzehnten.

Seit welchem Zeitpunkt Juden in Mittelsinn lebten, ist nicht bekannt; belegen lässt sich mit Sicherheit, dass die Adelsfamilie von Hutten schon im Jahre 1620 zwei Juden in Mittelsinn in ihren Diensten hatten. In einer Gemeinderechnung von 1731 sind drei Juden aufgeführt.

Die in Mittelsinn ansässigen jüdischen Familien waren im 18.Jahrhundert als Schutzjuden verschiedenen Grundherrschaften zugeordnet; so standen einige Haushaltsvorstände unter dem Schutz des Juliusspitals, einige dem Landgrafen von Hessen-Kassel und ein Jude dem Würzburger Hochstift. Um 1765 sollen hier insgesamt ca. 25 Familien gelebt haben. Bei der Erstellung der Matrikel (1817) sind für Mittelsinn 19 Familienvorstände aufgelistet, die zumeist vom Klein- und Viehhandel ihren Lebenserwerb bestritten.

Bis Anfang der 1860er Jahre stand Mittelsinn unter der gemeinsamen Herrschaft vom Königreich Bayern und von Kurhessen; dies hatte zur Konsequenz, dass auch die hiesige Judenschaft in zwei Gemeinden gespalten war, ansonsten aber versuchte, miteinander auszukommen und sich in gemeindlich-rechtlichen Fragen abzustimmen; so nutzten beide Gemeinden z.B. gemeinsam die Synagoge und die Mikwe.

In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts stieg ihre Zahl in Mittelsinn deutlich an und erreichte in den 1840er Jahren mit ca. 180 Personen ihren Höchststand. So bildete die Kultusgemeinde von Mittelsinn das religiöse Zentrum der Juden im Sinngrund.

Die jüdische Gemeinde besaß seit 1871 eine neue Synagoge und ein Gemeindehaus; in letzterem waren Schulräume untergebracht. Die alte, aus dem Jahre 1828 stammende Synagoge am Auerbach, an der heutigen Brunnenstraße, war bei einem Unwetter im Jahre 1867 so stark beschädigt worden, dass eine Reparatur nicht mehr möglich war. Aus Kostengründen verzichtete die Gemeinde auf einen Neubau, sondern erwarb 1868 das ehemalige kurhessische Forstamtsgebäude in der "Judengasse" (Fellenbergstraße) und ließ es zur Synagoge umbauen. Die Mikwe verblieb wohl am Auerbach.

        Schule und Synagoge (Aufn. um 1930, Gemeinde Burgsinn)

Die um 1870 eröffnete israelitische Elementarschule wurde in den 1920er Jahren wegen Schülermangels geschlossen; die wenigen Kinder besuchten danach wieder die örtliche protestantische Schule.

https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20145/Mittelsinn%20Israelit%2019021925.jpg

Kleinanzeigen aus: „Der Israelit“ vom 3.Nov.1869, vom 30.Okt.1924 und vom 19.Febr.1925

1931 rief man die jüdische Schule wieder ins Leben; sieben Jahre später wurde sie endgültig geschlossen. Da kein eigener Begräbnisplatz für die jüdischen Einwohner Mittelsinns zur Verfügung stand, wurden Verstorbene auf dem israelitischen Friedhof in Altengronau begraben, wo auch Juden aus Burgsinn und Rieneck ihre letzte Ruhe fanden. Starb ein Mittelsinner Jude wurde er von einem hiesigen Bauern in einem Leichenwagen auf den jüdischen Friedhof nach Altengronau gefahren; Juden und Christen gaben dem Toten das letzte Geleit, allerdings oft nur bis zum Ortsausgang, dann kehrten die meisten wieder um.

Die jüdische Gemeinde gehörte zum Distriktrabbinat Aschaffenburg.

Juden in Mittelsinn:

         --- um 1730 .....................   2 Schutzjuden,

    --- um 1740 .....................   9      "     ,

    --- 1803 ........................  44 Juden,

    --- 1814/15 .....................  34   “  ,

    --- 1834 ........................ 104   "   (in 16 Familien),

    --- 1843 ........................  24 jüdische Familien (ca. 180 Personen),

    --- 1853 ........................  28 jüdische Familien,

    --- 1867 ........................ 162 Juden (in 36 Familien),

    --- 1891 ........................ 159   “   (in 25 Familien),

    --- 1900 ........................ 152   “   (ca. 16% d. Bevölk.)

    --- 1910 ........................ 120   “   (ca. 12% d. Bevölk.),

    --- 1925 ........................ 107   “  ,

    --- 1933 ........................ 105   “  ,

    --- 1938 (Dez.) .................  18   “  ,

    --- 1939 (Apr.) .................  keine.

Angaben aus: Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945, S. 368

und                 Angaben der Gemeindeverwaltung Mittelsinn

Bildpostkarte Mittelsinn (Abb. aus: bildarchiv-mittelsinn.de)

 

In Mittelsinn wohnten die Angehörigen der jüdischen Gemeinde in den 1920er Jahren vor allem in der Hauptstraße 55 bis 70, in einem Teil des Lindenweges, der Brunnen-, der Fellenberg- und der Brachtetalstraße. Etwa zehn Einzelhandelsgeschäfte jüdischer Eigentümer boten ihre Waren an. Bis Anfang der 1930er Jahre soll ein einvernehmliches Verhältnis zwischen christlichen und jüdischen Bewohnern bestanden haben. Auch die nationalsozialistische Propaganda konnte anfänglich hier keine „Erfolge“ verzeichnen.

Im Jahre 1933 lebten noch ca. 100 Bewohner mosaischen Glaubens in Mittelsinn.

Monate vor dem Novemberpogrom von 1938 verließen jüdische Familien den Ort; denn bereits im März war es hier zu antijüdischen Unruhen gekommen, die in Mittelsinn dazu führten, dass jüdische Geschäfte demoliert und die Synagoge teilweise verwüstet wurden.

In der Pogromnacht wurde die Synagoge in der Fellenbergstraße weitgehend zerstört; der Gebäudeteil, in dem sich die Schule befunden hatte, blieb dagegen verschont. Verantwortlich für die Zerstörungen war ein aus Brückenau kommender SA-Trupp, dem sich auch einige „Helfer“ aus der hiesigen Bevölkerung anschlossen. Wohnungen jüdischer Familien wurden demoliert, Einrichtungsgegenstände auf die Straße geworfen; was hier nicht verbrannt werden konnte, mussten ortsansässige Bauern ins Brachetal transportieren, wo es vernichtet wurde. Auch Plünderungen zweier jüdischer Geschäfte durch einige Dorfbewohner waren zu verzeichnen. In den folgenden Wochen kehrten fast alle jüdischen Bewohner dem Ort den Rücken; schon im April 1939 war Mittelsinn „judenfrei”.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind 69 gebürtige bzw. längere Zeit in Mittelsinn ansässig gewesene Juden Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/mittelsinn_synagoge.htm).

 

Heute erinnert an der örtlichen Sparkasse eine Gedenktafel an die ehemalige Synagoge von Mittelsinn; die kurze Inschrift lautet:

Gegenüber stand einstmals die Synagoge der Jüdischen Kultusgemeinde Mittelsinn.

Zur Erinnerung und Mahnung.

Auch die Kommune Mittelsinn gehört zu den Orten, die sich am unterfrankenweiten Projekt „DenkOrt Deportationen 1941-1944" beteiligt (vgl. dazu: Würzburg); die Doublette der Kofferskulptur befindet sich am Ort gegenüber dem ehemaligen Standort der Synagoge.

                    Mittelsinn

                     Kofferskulptur (Aufn. Kommune Mittelsinn und R. Ries, 2020, aus: denkort-deportationen.de)

 

[vgl. Burgsinn (Bayern)]

 

 

 

Weitere Informationen:

Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München/Wien 1979, S. 368/369

Stefan Reis, “ ... auf höhere Weisung abgewandert “ . Juden im Main-Spessart (VI): Im Sinngrund bestand eine eigenständige Gemeindekultur, in: “Main-Echo” (Ausg. Main-Spessart-Kreis) vom 12.11.1988

Auskünfte seitens der Kommunalverwaltung Mittelsinn, 2000

Leonard Scherg, Jüdisches Leben im Main-Spessart-Kreis. Orte, Schauplätze, Spuren, Hrg. Förderkreis Synagoge Urspringen e.V., Haigerloch 2000, S. 35 f.

Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 94/95

Hildegard Krämer, Das Leben der Juden in Mittelsinn bis 1938, in: Hans August Fischer Heimat-Stiftung, Mittelsinn, S. 306 - 319

Maria Hähnlein, „Reichskristallnacht“ in Mittelsinn, in: Hans August Fischer Heimat-Stiftung, Mittelsinn, S. 320 - 327

Mittelsinn, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Hildegard Krämer, Die jüdische Gemeinde Mittelsinn, in Gemeindeportrait von Mittelsinn, Verwaltungsgemeinschaft Burgsinn 2008

Jürgen Gabel (Red.), Mittelsinn: Arbeitskreis für Geschichte der jüdischen Gemeinde, in: „Main-Post“ vom 14.5.2014

Jüdisches Leben in Mittelsinn, in: sinngrundallianz.deHans Schlumberger/Cornelia Berger-Dittscheid (Bearb.), Mittelsinn, in: W.Kraus/H.-Chr.Dittscheid/G.Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine ... Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III/1 (Unterfranken), Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2015, S. 277 - 293

Jürgen Gabel (Red.), Mittelsinn. Gepäck erinnert an Deportation, in: “Main-Post” vom 2.4.2019

Jürgen Gabel (Red.), Mittelsinn. Denkmal für Deportation stammt aus von Juden bewohntem Haus in Mittelsinn, in: “Main-Post” vom 9.2.2020