Mülhausen/Mulhouse (Elsass)
Die Stadt Mülhausen (frz. Mulhouse) mit derzeit ca. 107.000 Einwohnern liegt geografisch im Dreiländereck Frankreich - Deutschland - Schweiz am Ostrand der Vogesen (Ausschnitt aus hist. Landkarte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei).
Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei
Ein erster urkundlicher Beleg für die Existenz von Juden in der Stadt Mülhausen stammt aus dem Jahre 1290; möglicherweise standen sie damals unter dem Schutz des Bischofs von Straßburg, der das Judenregal vom König zugesprochen erhalten hatte. Bereits 1311 wurde eine „Judenschule“ (Synagoge) erwähnt; ein Ghetto gab es in Mülhausen zu keiner Zeit.
Die „Armleder-Verfolgungen“ von 1338 führten im Elsass zu einem fürchterlichen Blutbad unter den hiesigen Juden: Bauernhorden brachten - teils aus religiösem Fanatismus, teils aus eigensüchtigen Motiven - mehr als 6.000 Juden um. Viele Städte öffneten den Bauernhaufen ihre Tore, darunter auch Mülhausen. Daraufhin machte der König Ludwig d. Bayern die Stadt dafür verantwortlich, dass diese nicht Leben und Eigentum seiner „Kammerknechte“ ausreichend geschützt habe und belegte die Stadt mit einem Sühnegeld; als Gegenleistung erhielt die Stadt den Nachlass der erschlagenen Juden und die Löschung aller Schulden. Das Einschreiten des kaiserlichen Schutzherrn, der seinerseits ebenfalls nur monetäre Interessen verfolgte, schützte in der Folgezeit das Überleben der nur noch wenigen Mülhausener Juden. 1347 kam es aber abermals zu Übergriffen. Die Stadt erhob von den Juden, die das Bürgerrecht besaßen, hohe Sondersteuern. Von den allgemeinen Pestpogromen von 1348/1349 blieben die Juden Mülhausens aber verschont.
Als Mülhausen zwischen 1515 und 1798 zur Schweizer Eidgenossenschaft gehörte, konnten sich jüdische Familien nicht dauerhaft in der Stadt ansiedeln; zu Handelszwecken durften sie zwar die Stadt betreten, allerdings gegen Zahlung eines Leibzolls. Erst als die Stadt 1798 an Frankreich fiel, verbesserte sich insgesamt die Situation der Juden; bis zu dieser Zeit lebten nur wenige Familien in der Stadt; die meisten, die in Mülhausen Handel trieben, wohnten bis um 1800 in den umliegenden Dörfern wie Dornach, Issenheim, Pfastatt, Rixheim u.a.; gegen eine Gebühr durften sie zu bestimmten Zeiten die Stadt betreten. Mit der Zugehörigkeit zu Frankreich öffneten sich nun die Tore Mülhausens für die Dorfjuden des Umlandes. Im Jahr 1822 wurde schließlich die erste Synagoge in der Rue Sainte-Claire errichtet; zuvor müssen Betsäle an unterschiedlichen Stellen existiert haben.
Ihre Verstorbenen begruben die Mülhausener Juden zunächst auf jüdischen Friedhöfen in der Region, u.a. in Jungholtz; erst ab ca. 1830 stand ein eigenes Gelände zur Verfügung; dieses wurde bis 1890 benutzt, anschließend wurden die Gräber zum derzeitigen Friedhof am Stadtrand verlegt.
Die jüdische Gemeinde Mülhausens unterstand zunächst dem Rabbinat Wintzenheim nahe Colmar. Unter der fast 40-jährigen Leitung des liberal eingestellten Rabbiners Samuel Dreyfus war der hiesigen jüdischen Gemeinschaft ein stetes Wachstum beschieden. Während seiner Rabbinertätigkeit entstanden zwischen 1831 und 1870 jüdische Vereine und Organisationen in Mülhausen, die auf sozialem und künstlerischem Feld tätig wurden; vor allem zwei Persönlichkeiten prägten damals durch ihren Einsatz das jüdische Gemeindeleben: Lazare Lantz und Corneille Bernheim.
Samuel Dreyfus - Lazare Lantz - Corneille Bernheim
Ausschreibung der Rabbinatstelle (1899)
Die im Laufe des 19.Jahrhunderts stark angewachsene Judenschaft in der Stadt machte den Bau einer größeren Synagoge notwendig; das neue Gotteshaus der Mülhausener jüdischen Gemeinde wurde 1849 fertiggestellt und unter großer öffentlicher Anteilnahme eingeweiht. In der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ vom 1.Jan. 1850 wurde über die Einweihung der neuen Synagoge wie folgt berichtet:
" ... Das Fest fand am 13. Dezember statt ... Der Tempel, der 2.000 Personen fassen kann, was ganz gefüllt, und eine zahlreiche Menge drängte sich außen, ... Außer den Mitgliedern der Gemeinde waren viele Personen aus und außerhalb der Stadt eingeladen und erschienen. Reservierte Plätze waren den Behörden und Körperschaften der Stadt, den Offizieren der Nationalgarde und Garnison und Anderen vorbehalten. ... Nationalgarde ... bildete ein Spalier von der alten zu neuen Synagoge, wohin sich die Rabbiner und Delegierten der Gemeinde begaben, um einen letzten Gottesdienst zu feiern und die Gesetzesrollen abzuholen, welche von jetzt ab in einem kostbareren Tabernakel ruhen sollten.
Die Übertragung der Torarollen geschah in Prozession, unter Absagung eines hebräischen Gebetes, welches der Rabbiner von Mühlhausen rezitierte. ... Es folgte ein religiöser Gesang, … Dieser Gesang, von bemerkenswerter Harmonie, machte einen tiefen Eindruck, und zeigte die klare und biegsame Stimme des neuen Vorsängers. Die Weihe des Tempels geschah durch eine Prozession aller Rabbiner des Departements, von denen jeder eine Rolle trug ... Nachdem alle Rollen in das Tabernakel gestellt waren, hielt der Rabbiner von Mühlhausen eine Rede, in welcher er von dem Einfluß, welchen die Erbauung des neuen Tempels auf den israelitischen Kultus üben würde, von der moralischen Zukunft der Gemeinde, und von den Banden der Brüderlichkeit sprach, welche in dieser Stadt zwischen den Israeliten und ihren Mitbürgern bestehen. Nach abermaligen herrlichen Gesängen wurde eine Sammlung für die Armen durch sechs israelitische Mädchen ... veranstaltet, die reichlich ausfiel. Hierauf sprach der Rabbiner ein Gebet für die Republik, ein Dankgebet wurde vom Vorsänger und Chor vollführt, dann erteilte der Rabbiner den Segen, und eine Militärmusik beendete die Feierlichkeit, welche 4 Stunden gewährt und die Zuschauer aller Religionsparteien tief ergriffen hatte. ..." (Text stark gekürzt)
Synagoge von Mülhausen (hist. Stich)
Synagoge (hist. Postkarte bzw. Gemälde)
Das nach Plänen des Architekten Jean-Baptiste Schacre im neoklassizistischen Stil errichtete Synagogengebäude erfuhr zu Beginn des 20. Jahrhunderts bauliche Veränderungen.
Juden in Mülhausen:
--- 1418 ......................... 9 jüdische Familien,
--- 1492 ......................... 4 “ “ ,
--- 1512 ......................... eine “ “ (),
--- 1808 ......................... 165 Juden,*
--- 1822 ..................... ca. 400 “ ,*
--- 1846 ..................... ca. 1.100 “ ,
--- 1861 ......................... 1.329 “ ,
--- 1890 ......................... 2.132 “ ,
--- 1900 ......................... 2.466 “ ,
--- 1910 ......................... 2.287 “ ,
--- 1936 ......................... 2.240 “ ,
--- 1953 .................... ca. 350 jüdische Familien,
--- 1964 ................... ca. 1.900 Juden,
--- um 2000 ................. ca. 3.000 - 4.000 Juden.
* Die Angaben demographischer Daten(von 1800-1850) weichen in den Quellen erheblich voneinander ab.
Angaben aus: Simon Adler, Geschichte der Juden in Mülhausen im Elsaß
und Michel Rothé / Max Warschawski, Les synagogues d’Alsace et lieur histoire, S. 48
Stadtansicht Mülhausen (Postkarte, um 1910)
Nach dem Krieg von 1870/1871 verließen zahlreiche, vor allem wohlhabendere Juden das nun unter deutscher Oberhoheit stehende Mülhausen; diejenigen, die in der Stadt verblieben, votierten zumeist für die französische Seite.
Gegen den 1859 in Mülhausen geborenen Alfred Dreyfus, einem jüdischen Hauptmann in der französischen Armee, wurde 1894 vor einem Militärgericht ein Verfahren wegen Landesverrat geführt. Dreyfus wurde vom Gericht für schuldig befunden und zu lebenslänglicher Deportation auf die Teufelsinsel im französischen Cayenne verurteilt. Der Prozess war durch antisemitische Vorurteile geprägt. Die öffentliche Meinung erzwang nach Jahren eine Revision des Verfahrens, nachdem Zweifel am Urteil laut geworden waren. Emile Zola hatte sich in einem offenen Brief an den Präsidenten der Republik gewandt („J’acuse“). Als sich die belastenden Schriftstücke gegen Dreyfus als Fälschungen herausstellten, kam es 1899 zu einer Revisionsverhandlung vor dem Kriegsgericht, das nun eine Haftstrafe von zehn Jahren verhängte. Um die „Dreyfus-Affäre“ zu beenden, wurde Alfred Dreyfus vom Staatspräsidenten schließlich begnadigt. Seine uneingeschränkte Rehabilitierung erreichte der Begnadigte sieben Jahre später. Heute ist in Mülhausen eine Straße nach Albert Dreyfus genannt.
Straßenzüge in Mülhausen um 1915/1920 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Gegen Ende des 19.Jahrhunderts strömten zahlreiche vor Pogromen aus Osteuropa geflüchtete Juden ins Elsass, so auch nach Mülhausen; eine zweite Einwanderungswelle setzte nach dem Ersten Weltkrieg ein. Die Separierung der Streng-Religiösen hatte sich bereits Anfang der 1890er Jahre mit dem Einbau der neuen Orgel in die Synagoge abgezeichnet. Jacques Meyer („Jekel-Meyer“), führender Kopf der Orthodoxen, hatte zunächst einen Betraum in seinem Hause eingerichtet. Seit 1912 besaß die orthodox-ausgerichtete Judenschaft Mülhausens dann einen Betsaal im Hinterhaus der Metzgerei Bloch in der Gerberstraße, der 20 Jahre genutzt wurde. 1933 konnte die größer gewordene Gemeinde ein neues Betlokal einweihen.
Unmittelbar vor der deutschen Okkupation war etwa ein Drittel der elsässischen Bevölkerung evakuiert worden, darunter zahlreiche jüdische Bewohner. 1940 wurde Tausende Elsässer Juden vertrieben - zumeist in den unbesetzten Teil Frankreichs; doch auch hier waren sie nicht sicher, da auch die Vichy-Regierung eine antisemitische Politik verfolgte.
Während der deutschen Besetzung und der Kriegsjahre diente das Synagogengebäude Mülhausens als Kulissenlager des städtischen Theaters. Ende der 1950er Jahre wurde das mehr als 100 Jahre alte Synagogengebäude restauriert. Bei einem Brand (2010) wurden Teile des Synagogengebäudes zerstört; nach dessen Restaurierung konnte das Gebäude im Jahre 2012 in Anwesenheit des französischen Großrabbiners wieder eröffnet werden.
Apsis der Synagoge (Aufn. Jospe, 2006, aus: wiwkipedia.org CC BY-SA 3.0) – Gesamtansicht (Aufn. Gérard Ach, vor 2010, aus: judaisme.sdv.fr)
Synagoge Mülhausen - Innenansicht (Aufn. Rothé)
Auf dem jüdischen Friedhof, der während der NS-Zeit teilweise zerstört worden war, erinnert eine „Denkmal-Pyramide“ aus älteren Grabsteinen an Vorkriegsgemeinde.
„Pyramide“ aus alten Grabsteinen (Aufn. J. Hahn, 2004)
In den 1960er Jahren zogen viele nordafrikanische Juden nach Mulhouse ein, die der israelitischen Gemeinde wieder zum Wachstum verhalfen. Gegenwärtig leben in der Stadt mehr als 3.000 Personen mosaischen Glaubens.
In Zillisheim – heute ein südlicher Vorort von Mulhouse – gab es eine israelitische Gemeinde, die um 1825 fast 150 Angehörige besaß und damit ca. 12% der Dorfbevölkerung stellte. Die Anfänge jüdischer Ansässigkeit reichen hier ins 18.Jahrhundert zurück. Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörten eine Synagoge, eine Schule und ein südöstlich der Ortschaft liegender Friedhof. Das um 1820 erstellte Synagogengebäude hat als Wohnhaus die Zeiten überdauert.
Vom jüdischen Friedhof sind noch eine Reihe von Grabsteinen bzw. -relikten erhalten.
Jüdisches Begräbnisareal in Zillisheim (Aufn. MlibFr, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Von den in Zillisheim gebürtigen bzw. über längere Zeit hier wohnhaft gewesenen Personen mosaischen Glaubens wurden nachweislich vier Opfer der Shoa (vgl. in: alemannia-judaica.de/zillisheim_synagogue.htm).
Ehemalige jüdische Gemeinden in der Region Mülhausen (Mulhouse):
aus: Eliane de Thoisy (Hrg.), Le Judaisme Alsacien. Histoire, Patrimoine, Traditions, S. 29
Weitere Informationen:
Simon Adler, Geschichte der Juden in Mülhausen im Elsaß, Inaugural-Dissertation Universität Basel, Mülhausen 1914
René Hirschler, Les Juifs à Mulhouse, Èdité par la Communauté Israélite de Mulhouse, 1938
Paula E. Hyman, The Emancipation of the Jews in Alsace. Acculturation and tradition in the nineteenth century, New Haven/London 1946
Germania Judaica, Band II/2, Tübingen 1968, S. 554/555 und Band III/2, Tübingen 1995, S. 894 - 898
Freddy Raphael/Robert Weyl, Juif en Alsace. Culture, societé, histoire, Toulouse 1977
Paul Assall, Juden im Elsaß, Elster Verlag Moos GmbH, Bühl-Moos 1984
Vicki Caron, Between France and Germany: The Jews of Alsace-Lorraine 1871 - 1918, Stanford University Press, 1988
Jüdisches Museum der Schweiz (Hrg.), Juden im Elsaß. Begleit-Publikation des Museums für Völkerkunde und Schweizerischen Museums für Volkskunde, Basel 1992
Michel Rothé/Max Warschawski, Les synagogues d’Alsace et lieur histoire, Jerusalem 1992, S. 170 – 173
Gerd Mentgen, Studien zur Geschichte der Juden im mittelalterlichen Elsaß, in: "Forschungen zur Geschichte der Juden, Abteilung A: Abhandlungen", Band 2, S. 235 - 255, Verlag Hahnsche Buchhandlung, Hannover 1995
Michel Rothé, La synagogue où j’ai grandi, in: sdv.fr/judaisme/histoire
Michael Rothé, Le cimetière israélite de Zillisheim, in: judaisme.sdv.fr/synagog/hautrhin/r-z/zillish.htm
Eliane de Thoisy (Hrg.), Le Judaisme Alsacien. Histoire, Patrimoine, Traditions, Straßbourg 1999
Mulhouse/Mülhausen, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Geschichte der Stadt)
Synagoge in Zillisheim, in: alemannia-judaica.de