Münzenberg/Wetterau (Hessen)
Münzenberg ist heute eine Kleinstadt mit ca. 5.500 Einwohnern im äußersten Nordwestteil des Wetterau-Kreises - ca. zehn Kilometer östlich von Butzbach gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizzen 'Wetteraukreis' ohne Eintrag von Münzenberg, aus: ortsdienst.de/hessen/wetteraukreis bzw. aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Um 1850/60 gehörte jeder 7. Ortsbewohner dem jüdischen Glauben an.
Die Existenz eines Juden in Münzenberg wird erstmals 1188 urkundlich erwähnt; als sicher gilt aber, dass sich bereits vor diesem Zeitpunkt einige jüdische Familien im Orte aufgehalten haben. In Zeiten der Verfolgung gaben die hier herrschenden Grafen von Münzenberg ‚ihren’ Juden Schutz, zudem nahmen sie jüdische Flüchtlinge aus rheinischen Städten auf. Bereits 1188 hatten sich zahlreiche Mainzer Juden - aus Angst vor neuen Pogromen - in die feste Stadt Münzenberg geflüchtet, waren aber wenige Monate später wieder nach Mainz zurückgekehrt.
Um 1195 siedelte ein bedeutender jüdischer Gelehrter - David ben Kalonymos ben Meir ben Kalonymos - vermutlich aus Speyer nach Münzenberg über und nannte sich fortan „David aus Münzenberg“. Er galt als einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten seiner Zeit; er verfasste neben halachischen Schriften auch liturgische Lieder. Auf Grund der Anwesenheit David's und vermutlich noch weiterer jüdischer Gelehrter war Münzenberg in diesen Jahrzehnten ein geistig-religiöses Zentrum des Judentums in der Region.
Ob es während der Verfolgungen in der Pestzeit in Münzenberg Opfer gegeben hat, ist nicht belegt.
Dauerhafte jüdische Ansässigkeit in Münzenberg ist - nach den Pestverfolgungen - erst wieder 1450 dokumentiert; Lebenserwerb bildete hier vor allem der Geld- bzw. Pfänderhandel. Für die Stadt Münzenberg ist eine Judenordnung aus dem Jahre 1562 überliefert.
Münzenberg am Fuße der Burg - Stich Merian (Ausschnitt), um 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Das Wohngebiet der Juden Münzenbergs lag unterhalb der Burganlage. Zu Beginn des 18.Jahrhunderts machten die Angehörigen der jüdischen Gemeinde etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung von Münzenberg aus.
An der Ecke Am Junkernhof/Pfarrgasse errichtete die hiesige Judenschaft in den 1840er Jahren eine neue Synagoge, die auf den Grundmauern der alten erbaut wurde; sie verfügte über wertvolle Kultgegenstände; den Frauen standen zwei Emporen zur Verfügung. Die jüdische Schule in Münzenberg konnte auf eine lange Tradition zurückblicken; bereits 1549 wurde eine „Judenschule“ urkundlich erwähnt. Doch gesicherte Kenntnisse über das jüdische Schulwesen in Münzenberg liegen erst aus dem 19.Jahrhundert vor; so bestand die jüdische Elementarschule um 1850/1860 aus zwei Klassen mit knapp 40 Schülern. Wenige Jahre später wurde die Schule geschlossen, da mit der verstärkten Abwanderung auch die Schülerzahl deutlich zurückgegangen war; die wenigen jüdischen Kinder besuchten anschließend die lokale öffentliche Schule.
Auch ein eigener Friedhof stand der jüdischen Gemeinde in Münzenberg zur Verfügung; da der alte Judenfriedhof um 1830/1840 belegt war, erwarb die Gemeinde auf dem Steinberg-Gelände ein neues Bestattungsareal.
Die Münzenberger Gemeinde gehörte zum liberalen Bezirksrabbinat Gießen.
Juden in Münzenberg:
--- 1502 ....................... ca. 10 jüdische Familien,
--- 1512 ........................... eine “ “ (),
--- 1526 ........................... 4 " " ,
--- 1601 ........................... 8 “ “ ,
--- 1668 ........................... 10 “ “ ,
--- 1830 ........................... 97 Juden,
--- um 1850 .................... ca. 110 “ ,
--- 1862 ........................... 130 “ (ca. 14% d. Bevölk.),
--- um 1880 .................... ca. 30 “ (ca. 5% d. Bevölk.),
--- um 1900 .................... ca. 40 “ ,* *andere Angabe: 27 Pers.
--- um 1915 .................... ca. 30 “ ,
--- 1932/33 ........................ 28 “ ,
--- 1939 ........................... 17 “ ,
--- 1942 (Sommer) .................. keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 98
und Petra u. Uwe Müller, Von Ortsbürgern, Beisassen und Schutzjuden
Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts erhielten Juden Rechte als „Ortsbürger“; noch 1847 wurde in Münzenberg zwischen „Schutzjuden“ und „Ortsbürgern“ unterschieden. Die Münzenberger Juden waren Kleinkaufleute und Viehhändler und lebten in recht bescheidenen Verhältnissen. Die meisten jüdischen Bewohner wanderten ab den 1860er Jahren in größere deutsche Städte ab, vor allem nach Frankfurt/M. und Friedberg.
Zu Beginn der NS-Zeit lebten nur noch knapp 30 Juden im Ort. Zu ersten Übergriffe auf jüdische Bewohner kam es Mitte März 1933, als zwei Juden mitten in der Nacht von der SA-‚Hilfspolizei’ arrestiert und schwer misshandelt wurden. Wie überall in Deutschland wurden auch in Münzenberg die „deutschen“ Bewohner zum Boykott "nicht-arischer" Geschäfte aufgerufen.
Während der „Reichskristallnacht“ von November 1938 wurde die Einrichtung der Münzenberger Synagoge von einem kleinen SA-Trupp zerstört, auf die Straße herausgeschleppt, zu einem Scheiterhaufen aufgetürmt und angezündet; das Gebäude ging anschließend in kommunale Hand über. Auch die beiden noch bestehenden jüdischen Geschäfte waren zuvor demoliert worden. Über das weitere Schicksal der in Münzenberg zurückgebliebenen jüdischen Bewohner sind keine genauen Angaben bekannt. Sicher ist, dass am 15.September 1942 die im „Judenhaus“ am Steinweg lebenden alten Menschen auf einen LKW verladen und aus Münzenberg abtransportiert wurden.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 21 aus Münzenberg stammende bzw. über einen längeren Zeitraum hinweg hier ansässig gewesene Personen jüdischen Glaubens Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/muenzenberg_synagoge.htm).
Seit 1985 erinnert eine Gedenktafel am ehemaligen Synagogengebäude - es wurde jahrzehntelang als Feuerwehrgerätehaus genutzt - an dessen einstige gottesdienstliche Nutzung.
Herr, erbarme Dich unser !
Zum Gedenken an die Jüdische Gemeinde von Münzenberg, die seit dem 12.Jahrhundert bestanden hat.
Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933 - 45 haben folgende jüdische Bürger unseren Ort verlassen müssen
oder sind Opfer der grausamen Vernichtung geworden.
Emigranten
...
Todesopfer
...
Gott, erlöse Israel aus aller seiner Not.
Das ehemalige Synagogengebäude konnte nach aufwändiger Restaurierung im Sommer 2009 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden; es soll künftig als kulturelle Begegnungsstätte dienen.
ehem. Synagogengebäude während und nach der Restaurierung (Aufn. Freundeskreis Burg u. Stadt Münzenberg e.V. 2009)
Der von einer Mauer aus Bruchsteinen umgebene (neue) jüdische Friedhof besitzt noch Grabsteine aus der Zeit seiner ersten Belegungen (um 1840). Vom alten Begräbnisgelände gibt es heute kaum sichtbare Spuren mehr.
Jüdischer Friedhof in Münzenberg (Aufn. Ch., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Im nahen Gambach existierte seit etwa 1600 eine jüdische Gemeinde, die 1933 fast 70 Angehörige umfasste. Während des Pogroms von 1938 wurde die kleine, 1843 erbaute Synagoge zerstört. Vier Jahre später wurden die letzten noch in Gambach lebenden jüdischen Bewohner - zumeist ältere Leute - deportiert.
[vgl. Gambach (Hessen)]
In Holzheim - wenige Kilometer nördlich von Münzenberg gelegen und heute Stadtteil von Pohlheim - bestand eine kleine jüdische Kultusgemeinde, zu der auch Grüningen gehörte. Die Gemeinde konstituierte sich erst 1836; doch reicht hier die Ansiedlung von Juden bis ins 17./18.Jahrhundert zurück, in eine Zeit, in der diese unter dem „Schutz“ der Fürsten von Solms-Braunfels standen. In den Jahren der Gemeindegründung wurde auch die Synagoge in einem angekauften Hause in der Schulstraße eingerichtet; zuvor war ein Betraum in einem der jüdischen Häuser vorhanden: hier handelte es sich um eine Privatsynagoge im Hause von Moses Weinberg. In der Grüninger Gemarkung befand sich das gemeinsame Beerdigungsgelände der Holzheimer und Grüninger Juden.
Während einem Teil der Gemeindeangehörigen in der NS-Zeit noch eine Emigration gelang, verzog der andere Teil in größere deutsche Städte; von hier wurden sie zumeist deportiert.
Das ehemalige Synagogengebäude wurde Anfang der 1960er Jahren abgerissen; seit 2003 erinnert eine Gedenktafel an die Synagoge.
[vgl. Holzheim (Hessen)]
Weitere Informationen:
Rosy Bodenheimer, Beitrag zur Geschichte der Juden in Oberhessen von ihrer frühesten Erwähnung bis zur Emanzipation, Dissertation, Philosophische Fakultät der Ludwigs-Universität Gießen, Gießen 1931, S. 8/9
Germania Judaica, Band II/2, Tübingen 1968, S. 566 und Band III/2, Tübingen 1995, S. 914 - 919
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 98/99 (Münzenberg) und Band 1, S. 387/388 (Holzheim)
Fritz H. Herrmann, Zur Geschichte der Juden in Münzenberg, in: "Wetterauer Geschichtsblätter", No. 23/1974, S. 23 - 30
Friedrich Battenberg, Judenordnungen der frühen Neuzeit in Hessen, in: "Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen VI, Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen", Wiesbaden 1983, S. 114 – 117
Karl Heinrich Jung, Die Holzheimer Juden, Manuskript um 1985 (z.T. veröffentlicht in: „Hessische Heimat“ (Wochenendausgabe Gießener Allgemeine Zeitung", No. 12/4 (1988)
Petra u. Uwe Müller, Von Ortsbürgern, Beisassen und Schutzjuden, in: P. u. U. Müller (Hrg.), Münzenberg, Heimat im Schatten der Burg Münzenberg 1995, S. 223 ff.
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 328
Mathilde Wertheim Stein, The Way it Was: The Jewish World of Rural Hesse, 2000 (darin Kap. 2 „The Kalonymus Family and the Jews of Münzenberg“)
Gail Schunk, Die Entwicklung der jüdischen Gemeinde von Münzenberg vom 12. bis 18.Jahrhundert, in: "Butzbacher Geschichtsblätter 2007/2008", S. 221 f.
Eckhard Meise, Toleranz: Philipp Ludwig II. Graf von Hessen von Hanau-Münzenberg und die Juden, in: "Neues Magazin für Hanauische Geschichte 2007", S. 3 - 57
Münzenberg, in: alemannia-judaica.de (mit Abb. des restaurierten Synagogengebäudes)
Karl-Josef Müller, Lieb und teuer: Die alte Synagoge wurde für eine halbe Million Euro restauriert, in: "Jüdische Allgemeine" vom 11.6.2009
Hanno Müller/Helma Kilian/Monica Kingreen, Juden in Münzenberg 1800 - 1842, Gambach 1750 - 1942, Fauerbach II 1800 - 1874, Fernwald 2014
Peter Gbiorczyk (Bearb.), Christlicher Antijudaismus und obrigkeitliche Politik gegenüber den Juden in der Grafschaft Hanau-Münzenberg im 16./17.Jahrhundert, in: „Neues Magazin für Hanauische Geschichte 2022“, S. 106 -141