Neu-Isenburg (Hessen)
Neu-Isenburg ist mit derzeit ca. 38.500 Einwohnern eine Stadt im Landkreis Offenbach in direkter Nachbarschaft zu Frankfurt a.M. und Offenbach (Kartenskizze 'Landkreis Offenbach', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die wenigen in Neu-Isenburg lebenden jüdischen Familien gehörten der jüdischen Gemeinde in Sprendlingen an und nutzten auch die dortigen gemeindlichen Einrichtungen.
Im von Hugenotten um 1700 gegründeten Neu-Isenburg lebten zunächst keine Juden; erst in den 1830er Jahren ließen sich einige Familien hier nieder.
Dass die Anzahl der hier lebenden Personen mosaischen Glaubens nach 1900 zunahm, lag an der Einrichtung eines Heimes des Jüdischen Frauenbundes, das 1907 zwischen Zeppelin- und Taunusstraße entstand. Das jüdische Mädchenheim ging auf die Initiative von Bertha Pappenheim, der Präsidentin des Jüdischen Frauenbundes, zurück. Es war ein „Erziehungsheim für Schulkinder, eine hauswirtschaftliche Ausbildungsstätte für Schulentlassene, Schutz für Schwangere und Mütter, Pflegestelle für Säuglinge und Kleinkinder”. Seine Gründung wurde durch Spenden aus der Frankfurter Oberschicht ermöglicht; die Leitung des Heims hatte bis zu ihrem Tode (1936) Bertha Pappenheim inne.
Bertha Pappenheim - Gründerin des jüdischen Mädchenheims
aus: "Frankfurter Israelitisches Familienblatt" vom 23.Febr.1917 und aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 4.Mai 1922
Bis November 1938 blieb das Haus unbehelligt. 1942 wurde das Heim geschlossen und die Insassinnen mit ihren Kindern und deren Betreuerinnen deportiert.
Eine Synagoge gab es in Neu-Isenburg nicht; Gottesdienste wurden im Betsaal des jüdischen Mädchenheimes abgehalten.
Juden in Neu-Isenburg:
--- 1830 .......................... 6 Juden,
--- 1871 .......................... 17 “ ,
--- 1905 .......................... 40 “ ,* *einschl. Bewohnerinnen des Heims des Jüdischen Frauenbundes
--- 1910 .......................... 73 “ ,*
--- 1925 .......................... 152 “ ,*
--- 1933 .......................... 133 “ ,*
--- 1939 (Mai) .................... 83 “ .*
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 265
Über die wenigen in Neu-Isenburg lebenden jüdischen Familien ist kaum etwas bekannt.
eine gewerbliche Anzeige aus Neu-Isenburg von 1920
In den ersten Jahren der NS-Zeit gaben die wenigen jüdischen Besitzer von Geschäften bzw. Unternehmen ihre Betriebe auf bzw. wurden Opfer der "Arisierung".
Während des Novemberpogroms von 1938 wurden die Wohnungen der noch wenigen Juden im Ort und das jüdische Mädchenheim (Zeppelinstraße) demoliert.
Über den durch SA-Angehörige im jüdischen Mädchenheim angerichteten Schaden berichtete Helene Krämer folgendermaßen, seit 1936 Heimleiterin:
"... Die Barbaren kamen mit Pechfackeln. ... Wir standen alle, Säuglinge, die wir in Körbchen hinaustrugen, Kleinkinder, Jugendliche und Angestellte, über eine Stunde in der kalten Winternacht im Garten bei dem grausigen Anblick des Brandes des Hauses und dem Knistern der alten Bäume. ... Geschrei und Jammern der Kinder war so entsetzlich und herzzerreißend, daß sogar die Barbaren etwas Mitleid hatten und uns erlaubten, in ein Haus zu gehen. ...Die Feuerwehr kam erst sehr spät. Das Heim brannte und glimmte noch am nächsten Tag." (aus: Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I, S. 283)
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind sieben gebürtige Juden Neu-Isenburgs Opfer des Holocaust geworden (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/neu-isenburg_heim.htm). Von den Heimbewohnerinnen wurden zahlreiche mit ihren Kleinkindern verschleppt und kamen zumeist gewaltsam ums Leben.
Im Jahre 1978 ließ der Magistrat der Stadt Neu-Isenburg am ehemaligen jüdischen Mädchenheim eine Gedenktafel anbringen, die folgende Inschrift trägt:
Stadt Neu-Isenburg den Lebenden zur Mahnung:
Hier stand das von Frau Bertha Pappenheim gegründete jüdische Kinderheim.
Es wurde in der Nacht vom 9. auf den 10.November 1938 von denen, die glaubten,
der nationalsozialistischen Herrschaft dienen zu müssen, in Brand gesteckt und zerstört.
Mit einer Ausstellung erinnert die Stadt in dem Haus heute an das Leben und Werk Bertha Pappenheims. Regelmäßig finden hier Vorträge zu Aspekten jüdischen Lebens und jüdischer Kultur statt.
Seit 2009 erinnern sog. „Stolpersteine“ an ehemalige jüdische Bewohner/innen; inzwischen liegen in der Stadt ca. 30 Steine, die an das Schicksal dieser Menschen erinnern (Stand 2023).
in der Schillerstraße
.. und in der Frankfurter Straße (Aufn. G.2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Etliche messingfarbene Steinquader befinden sich auch in der Frankfurter Straße.
Zudem erinnert eine „Stolperschwelle“ im Gehweg vor dem ehem. Heim des Jüdischen Frauenbundes (Zeppelinstraße) an mehr als 150 Frauen und Kinder, die dort lebten, deportiert und ermordet wurden.
Die Juden Neu-Isenburgs gehörten zur jüdischen Gemeinde Sprendlingen; in Sprendlingen selbst lebten Mitte der 1930er Jahre nur noch wenige Juden. Mitte des 19.Jahrhunderts hatte die israelitische Gemeinde mit mehr als 100 Angehörigen ihren Höchststand erreicht. Die letzten 15 jüdischen Bewohner Sprendlingens, zumeist alte Menschen, wurden im September 1942 „in den Osten“ deportiert.
[vgl. Sprendlingen (Hessen)]
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 265 f.
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Reg.bezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 282/283
Helga Heubach, Das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg, 1907 bis 1942, Hrg. Magistrat der Stadt Neu-Isenburg, Neu-Isenburg 1986
Helga Heubach (Hrg.), Bertha Pappenheim u.a. “Das unsichtbare Isenburg” - Über das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg 1907 bis 1942, Frankfurt a.M. 1994
Thorwald Ritter, Die Synagoge der jüdischen Gemeinde von Klein-Krotzenburg, bloch-Verlag, Frankfurt/M. 1997, S. 36
Marianne Brentzel, Sigmund Freuds Anna O. – Das Leben der Bertha Pappenheim, Reclam-Verlag, Leipzig 2004
Neu-Isenburg, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur Geschichte des Heims des Jüdischen Frauenbundes)
Heidi Fogel, Gedenkbuch für das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg (1907 – 1942), Stadt Neu-Isenburg 2010 (online abrufbar)
Katrin Stassig, Sie konnten rechtzeitig fliehen - Verlegung von "Stolpersteinen", in: op-online.de vom 25.10.2011
Auflistung aller in Neu-Isenburg verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Neu-Isenburg
lfp (Red.), „Umgang mit Juden zieht lange Blutspur nach sich“ - Gedenken an die Pogromnacht, in: "Stadt-Post Neu-Isenburg“ vom 16.11.2017
Dirk Baas (Red.), Bertha Pappenheim – Soziale Kämpferin und Feministin, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 24.11.2017
Barbara Hoven (Red.), Andere Form des Gedenkens in Neu-Isenburg, in: op-online.de vom 19.1.2021
Jonas Nonnenmann (Red.), Stolpersteine in Neu-Isenburg, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 21.1.2021
Marion Kaplan (Bearb.), Berha Pappenheim verstand den Feminismus als Brücke zwischen deutscher und jüdischer Kultur, in: Shared History Project – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, Objekt 32/Juni 2021
Nicole Jost (Red.), Neu-Isenburg: Stolpersteine zum Zeichen des Angedenkens Holocaust-Opfer, in: op-online.de vom 28.1.2023