Nieder-Ohmen (Hessen)
Nieder-Ohmen ist heute mit ca. 2.400 Einwohnern der größte Ortsteil der Kommune Mücke im Vogelsbergkreis - ca. 20 Kilometer östlich von Gießen gelegen (Kartenskizze 'Vogelsbergkreis', Andreas Trepte 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 2.5).
Die Wurzeln der kleinen jüdischen Gemeinde von Nieder-Ohmen liegen gegen Ende des 16.Jahrhunderts, als sich hier zwei Familien ansiedelten. Mit mehr als 100 Angehörigen erreichte die Gemeinde Anfang der 1870er Jahre ihren zahlenmäßigen Höchststand; danach wanderten vermehrt Juden in die größeren Städte ab.
Spätestens seit dem 18.Jahrhundert soll am Ort eine Betstube bestanden haben; nach deren Brandzerstörung 1827 wurde im Hause des Handelsmannes Löb Stern ein neuer Betraum eingerichtet, der einschließlich einer Frauenempore über ca. 80 Plätze verfügte. Eine vertragliche Regelung garantierte der Gemeinde die Nutzung der privaten Räumlichkeit; mehr als 100 Jahre sollte dieser Betraum im Hause der Familie Stern genutzt werden. Bis Ende der 1920er Jahre bestand eine kleine Religionsschule.
Anzeigen aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 2.Okt. 1867, vom 23.Nov. 1893 und vom 4.Aug. 1904
Während der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gab es in Nieder-Ohmen eine jüdische Begräbnisstätte, die aber dem Bahnbau weichen musste; deshalb legte man um 1890 einen neuen Friedhof auf einer Anhöhe am Ortsrand an.
Zur Gemeinde Nieder-Ohmen, die dem orthodoxen Bezirksrabbinat Gießen unterstand, gehörten auch die wenigen Juden Merlaus.
Juden in Nieder-Ohmen:
--- um 1580 ........................ 2 jüdische Familien,
--- 1770 ........................... 6 “ “ ,
--- 1861 ........................... 70 Juden (ca. 6% d. Dorfbev.),
--- 1871 ........................... 109 “ (ca. 9% d. Bevölk.),
--- 1910 ........................... 82 “ ,
--- um 1925 .................... ca. 70 “ ,
--- 1933 ........................... 69 “ .
Angaben aus: Nieder-Ohmen, in: alemannia-judaica.de
Im Jahre 1927 beging die Gemeinde ihr 100jähriges Synagogenjubiläum; dazu erschien im Vorfeld ein Artikel in der Zeitschrift „Der Israelit“:
"Niederohmen, 1. Nov. Am 12. November ds. Js. feiert die jüdische Gemeinde Niederohmen das 100jährige Synagogenbau-Jubiläum. Es sind umfassende Vorbereitungen zu einer würdigen, schlichten Feier getroffen. Just 100 Jahre sind es her, daß die nur wenigen Mitglieder der Gemeinde Niederohmen und Merlau mit dem Handelsmann Löb Stern in Niederohmen vertraglich vereinbarten, wonach dieser gegen eine geringe Entschädigung sich verpflichtete, in seinem gerade umzubauenden Wohnhause einige Räume als Synagoge einzurichten. Die Rechte und Pflichten der beiden Kontrahenten wurden in dem Vertrage genau festgesetzt und bestehen noch heute voll zu Recht. Die Gemeinde hat sich Gott sei Dank inzwischen wesentlich vergrößert, die Räume sind leider nicht entsprechend gewachsen. Hoffentlich finden sich bald die gütigen Wohltäter, die es der recht religiösen, emporstrebenden Gemeinde ermöglichen, ein der jetzigen Besucherzahl entsprechendes, würdiges Gotteshaus zu errichten."
Zu Beginn der 1930er Jahre lebten noch ca. 70 Juden in Nieder-Ohmen. Auf Grund zunehmender Entrechtung verließen nach 1933 jüdische Familien ihren Heimatort, um entweder in größere Städte zu verziehen oder zu emigrieren.
Anlässlich des Ablebens des fast drei Jahrzehnte amtierenden Vorstehers der jüdischen Gemeinde, Emanuel Frank, erschien in der Zeitschrift "Der Israelit" am 7. Januar 1937 der folgende Nachruf: "Brandoberndorf, 5. Januar (1937). Im Alter von 68 Jahren starb Emanuel Frank, eine der Persönlichkeiten, wie sie mit dem Rückgang der Landgemeinden leider immer weniger werden. In Nieder-Ohmen, wo Familie Frank beheimatet war, war der Heimgegangene annähernd 30 Jahre Vorsteher der jüdischen Gemeinde, und mehr als das: er war Vater und Führer der Gemeinde auch in der späteren langen lehrerlosen Zeit. Er war der Ehrenvorbeter und der Baal Kore und hielt die Traditionen der Gemeinde mit einer Liebe und Treue rein und aufrecht bis zuletzt, bis er, sozusagen als 'letzter Mann', als der 'Kapitän' das nicht mehr zu rettende Schiff verließ. Erst vor einem Jahre entschloß er sich mit schwerem Herzen, ... seine geliebte Gemeinde zu verlassen und zu seinen Kindern nach Brandoberndorf zu ziehen. Der verdiente Mann folgt nun der treuen Gattin, die ihm schon vor sieben Jahren in den Tod vorangegangen ist und mit der er ein echtes jüdisches Heim der Frömmigkeit und Gastlichkeit geführt hat, in dem Kinder in gleichem Geiste großgezogen wurden, in die Ewigkeit. Er wird in seinem Kreise als einer der Männer der Wahrheit unvergessen bleiben. Seine Seele sei eingebunden in den Bund des Lebens."
Bereits 1935 wurde von Nationalsozialisten (es waren mehrere betrunkene junge Männer) die Inneneinrichtung des Betraumes demoliert. Zwei Jahre später wurde das Haus verkauft; der Betraum durfte aber weiterhin von den wenigen Gemeindeangehörigen genutzt werden.
Während des Novemberpogroms von 1938 wurden der Innenraum und die Kultgegenstände völlig zerstört; das Gebäude an sich blieb erhalten, wurde völlig umgebaut und diente danach Wohnzwecken.
Der NS-Vernichtungspolitik sind nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." 36 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort lebende Juden Nieder-Ohmens zum Opfer gefallen (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/nieder_ohmen_synagoge.htm).
Jüdischer Friedhof in Nieder-Ohmen (links: Aufn. U., 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 - rechts Aufn. aus: gemeinde-muecke.de)
Vor der Eingangspforte des jüdischen Friedhofs - auf dem Gelände befinden sich ca. 60 Grabsteine (der älteste datiert 1902) - befindet sich ein Gedenkstein mit angebrachter -tafel.
Denkmal (Aufn. U., 2014, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)
2012 wurden auf Initiative der evang. Kirchengemeinde in Nieder-Ohmen sieben sog. „Stolpersteine“ verlegt, die an Angehörige zweier jüdischer Familien erinnern sollen; weitere sieben Steine folgten 2019, wobei allein sechs Angehörigen der Familie Stern gewidmet sind.
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Darmstadt 1973, S. 156
Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945? Königstein i. Ts. 1988, S. 110 f.
Heinrich Reichel, Juden in Nieder-Ohmen, o.O. 1998
Klaus Konrad, Jüdisches Leben in Oberhessen – Aufsatz (online abrufbar)
Nieder-Ohmen mit Merlau, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
ng/Mücke (Red.), Stolpersteine werden in Nieder-Ohmen verlegt, in: „Alsfelder Allgemeine“ vom 11.11.2011
Uwe Langohr (Bearb.), "Schicksal der jüdischen Gemeindemitglieder von Nieder-Ohmen" - Personen, die am 31.12.1932 in Nieder-Ohmen gemeldet waren, Karte mit Informationen (als PDF-Datei abrufbar unter: gemeinde-muecke.de/de/geschichte-und-ortsteile-Muecke/historisches/download)
ng (Red.), Künstler Demnig verlegt sieben Stolpersteine, in: „Alsfelder Allgemeine“ vom 2.7.2012
N.N. (Red.), Stolpersteine erinnern an Nieder-Ohmener Juden, in: „Gießener Anzeiger“ vom 25.7.2012
N.N. (Red.), Künstler Demnig verlegt sieben Stolpersteine, in: „Alsfelder Allgemeine“ vom 3.4.2019