Nieder-Olm (Rheinland-Pfalz)
Nieder-Olm ist eine Kleinstadt mit derzeit ca. 8.500 Einwohnern im Landkreis Mainz-Bingen - etwa zehn Kilometer südlich der Stadt Mainz gelegen (Ausschnitt der hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von Nieder-Olm, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Mainz-Bingen', aus: ortsdienst.de/rheinland-pfalz/mainz-bingen).
In Nieder-Olm - unweit der kurfürstlichen Metropole Mainz - haben sich wenige jüdische Familien vermutlich im 16.Jahrhundert zeitweilig, ab dem 17.Jahrhundert dann dauerhaft aufgehalten. Ihre Ansiedlungen in der kleinen Ortschaft standen in engem Zusammenhang mit der Vertreibung jüdischer Bewohner aus Mainz um 1670. Aber bereits im hohen Mittelalter sollen in Nieder-Olm - damals Sitz eines kurmainzischen Amtes - vereinzelt Juden gelebt haben. Erst 1855 konstituierten sich die Juden Nieder-Olms zu einer eigenen kleinen Religionsgemeinde; zuvor zählten die hiesigen jüdischen Familien zur israelitischen Gemeinde von Hahnheim.
Drei Jahre später erbaute man in der Mittelgasse eine kleine Synagoge, die nur aus einem einzigen Raum bestand; Vorbeter aus dem nahen Mainz waren mit der Abhaltung der Gottesdienste betraut. Bereits um 1740/1750 soll in Nieder-Olm kurzzeitig ein Betraum in einem jüdischen Privathaus bestanden haben, dessen Nutzung aber von der Amtsvogtei verboten worden war.
Seitens der kleinen Gemeinde war zeitweilig ein Lehrer angestellt, der auch zugleich als Vorbeter und Schochet tätig war.
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 30.Aug. 1876
Nach Gründung der Synagogengemeinde, spätestens in den 1870er Jahren, wurde auch eine eigene jüdische Begräbnisstätte unweit des christlichen Friedhofs angelegt; zuvor war der Friedhof in Sörgenloch genutzt worden.
Juden aus Gau-Bischofsheim, Harxheim, Stadecken, Nieder-Saulheim und Sörgenloch gehörten zur Synagogengemeinde Nieder-Olm; ihre Zahl überstieg bei weitem die der in Nieder-Olm ansässigen Juden.
Juden in Nieder-Olm:
--- um 1700 ........................ 3 jüdische Familien,
--- um 1800 ........................ 3 “ “ ,
--- 1824 ........................... 11 Juden,
--- 1855 ........................... 35 “ ,
--- 1861 ........................... 37 “ (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1880 ........................... 64 “ (ca. 4% d. Bevölk.),
--- 1900 ........................... 32 “ ,
--- 1910 ........................... 28 " ,
--- 1925 ........................... 19 " ,
--- 1931 ........................... 19 “ ,
--- 1938 ........................... 9 “ ,
--- 1939 (Jan.) .................... keine.
Angaben aus: P.Weisrock/E.Rettinger/A.Weisrock (Hrg.), Die jüdische Gemeinde von Nieder-Olm, S. 32
Ihren Lebensunterhalt bestritten die Juden Nieder-Olms in traditionellen Berufen: als Viehhändler, Metzger und Händler mit Landesprodukten und Manufakturwaren.
1884 kam es zu den ersten judenfeindlichen ‚Kundgebungen’. Der lokale Karnevalsverein verweilte bei seinem Umzuge während der „Judenfastnacht“ vor jedem jüdischen Hause und brachte ein mitgeführtes Fallbeil symbolisch in Stellung; unter dem Gegröle der Teilnehmer wurde eine „Judenpuppe“ enthauptet. Alsbald kehrten einige Familien Nieder-Olm den Rücken und siedelten sich zumeist in Mainz an.
Zu Beginn der 1890er Jahre gewann die antisemitische Bewegung des Dr. Böckel bei der Landbevölkerung in der Region weiteren Zulauf.
aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 11.Febr. 1892
Am religiösen Leben hielt die kleine Gemeinde aber strikt fest. Bis 1930 soll sich das Verhältnis zwischen beiden Religionsgruppen weitgehend entspannt haben. Zur Zeit der NS-Machtübernahme 1933 lebten in der kleinen Ortschaft nur noch sehr wenige jüdische Familien; schon im März 1933 kam es seitens der SA zu physischen Attacken gegenüber einzelnen jüdischen Bewohnern. Die Lokalzeitung, das „Nieder-Olmer Nachrichtenblatt“, vergiftete mit ihren antisemitisch ausgerichteten Artikeln das soziale Klima zwischen den Religionsgruppen.
Judenfrechheiten. Trotzdem die Tageszeitungen jüdische Ausschreitungen wie Schiebungen, Skandalaffären, Betrügereien, Paßfälschungen und dergl. in Hülle und Fülle aus dem Ausland melden, scheint sich die Judenschaft im Inlande immer noch nicht der gebotenen Zurückhaltung befleißigen zu wollen, wie auch in letzter Zeit mal wieder ein Vorfall in Nieder-Olm bewies. Ein hiesiger jüdischer Viehhändler belästigte einen Landwirt mit zudringlichen Schacherangeboten und erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß der Landwirt seine Viehgeschäfte bei einem christlichen Viehhändler getätigt hatte. Anstatt nun bescheiden von dannen zu ziehen, wagte es der Hebräer dem Landwirt in unverschämter Weise Vorhaltungen zu machen, ... Kaum war es dem Bauern möglich, sich der anmaßenden Aufdringlichkeit des Juden in seiner eigenen Behausung zu erwehren. Wir raten dem Zudringling, für die Folge deutsche Landwirte ... unbehelligt zu lassen ...
Christen besucht das Nied.-Olmer Schwimmbad - Die Juden gehen an den Nil !
Vor allem hiesige Schüler sollen im Zuge des Novemberpogroms von 1938 unter Anleitung auswärtiger NSDAP-Aktivisten jüdisches Eigentum zerstört haben.
Die Synagogengemeinde hatte sich bereits schon 1936/1937 aufgelöst. Bis Anfang 1939 sollen alle jüdischen Einwohner den Ort verlassen haben.
Zwei J-Kennkarten gebürtiger jüdischer Einwohner von Nieder-Olm (ausgestellt in Mainz 1939)
Der NS-Vernichtungspolitik sind nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind nachweislich 13 gebürtige Juden Nieder-Olms zum Opfer gefallen (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/nieder_olm_synagoge.htm).
Auf dem Areal des jüdischen Friedhofs in Nieder-Olm findet man heute ca. 25 Grabsteine.
Eingangstor (Aufn. J. Hahn, 2005) und Ansicht des jüdischen Friedhofs in Nieder-Olm (Aufn. Michael Ohmsen, 2011)
Am Standort der früheren Synagoge - gegen Kriegsende bei einem Luftangriff zerstört - wurde 1988 eine Gedenktafel enthüllt; der Text in hebräischer und deutscher Sprache informiert teilweise nicht korrekt:
An dieser Stelle stand 1858 bis 1938 die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Nieder-Olm. Das Gebäude mußte 1938 verkauft werden und diente bis zu seiner Zerstörung durch Luftangriff im Jahre 1945 als Lagerhaus.
Die Jüdische Gemeinde Nieder-Olm zählte in ihrer Blütezeit um die Jahrhundertwende 24 Familien. Ihr letzter Vorsteher war Otto Mayer.
Zur Zeit des November-Pogroms 1938 lebten in Nieder-Olm 14 jüdische Mitbürger, von denen der größere Teil sein Leben durch Emigration retten konnte.
Otto Mayer, seine Ehefrau Elisabeth und seine Tochter Else wurden im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet.
Aufn. Bodow, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
Im November 2012 wurden in den Straßen von Nieder-Olm ca. 30 sog. „Stolpersteine“ verlegt, die an die jüdischen NS-Opfer erinnern.
verlegt in der Pariser Straße (Aufn. Bodow, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
In Ober-Olm - Teil der heutigen Verbandsgemeinde Nieder-Olm - bestand eine kleine jüdische Gemeinschaft, deren Wurzeln im 18.Jahrhundert lagen; allerdings konstituierte sich eine autonome Gemeinde erst Anfang der 1880er Jahre. Mit ca. 45 Angehörigen erreichte diese um 1900 ihren zahlenmäßigen Zenit. Zur Gemeinde gehörten auch die wenigen im benachbarten Klein-Winternheim lebenden jüdischen Personen.
Zu den gemeindlichen Einrichtungen zählten ein Betraum im Obergeschoss eines kleinen Gebäudes in der Oberen Bitzer Straße, eine Religionsschule, eine Mikwe und ein Beerdigungsgelände.
Stellenangebot von 1887
Juden in Ober-Olm:
--- 1807 ........................... 5 jüdische Familien,
--- 1824 ........................... 27 Juden,
--- 1847 ........................... 47 “ ,
--- 1861 ........................... 32 “ ,
--- 1880 ........................... 36 “ (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1900 ........................... 43 “ ,
--- 1910 ........................... 41 “ ,
--- 1924 ........................... 36 “ ,
--- 1933 ........................... 30 “ ,
--- 1939 ........................... 10 “ .
Angaben aus: Ober-Olm, in: alemannia-judaica.de
Die Juden Ober-Olms bestritten ihren Lebensunterhalt vom Handel mit Vieh, Textilien und Landesprodukten.
Ende der 1930er Jahre lebten nur noch zehn Bewohner mosaischen Glaubens im Ort, nachdem die anderen zumeist ausgewandert waren, vor allem in die USA. Mindestens acht gebürtige bzw. längere Zeit in Ober-Olm lebende jüdische Bewohner wurden Opfer des Holocaust.
Friedhof in Ober-Olm (Aufn. N., 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
In Essenheim, einem Ortsteil der heutigen Verbandsgemeinde Nieder-Olm, gab es bis Mitte der 1930er Jahre auch eine jüdische Gemeinde.
[vgl. Essenheim (Rheinland-Pfalz)]
Auch im Ortsteil Jugenheim gab es bis Anfang der 1930er Jahre eine kleine israelitische Kultusgemeinde.
[vgl. Jugenheim (Rheinland-Pfalz)]
Südlich von Nieder-Olm liegt das kleine Dorf Sörgenloch; hier lebte eine kleine jüdische Gemeinschaft, die um 1860 aus ca. 45 Personen bestand. Durch Abwanderung - zumeist nach Mainz - hat sich die Gemeinde gegen Ende des Ersten Weltkrieges aufgelöst; die verbliebenen Juden schlossen sich der Gemeinde von Nieder-Olm an. Trotz rückläufiger Zahl der jüdischen Dorfbewohner hatte 1893 noch ein Gemeindemitglied ein kleines Synagogengebäude errichten lassen. Über die Dauer der Nutzung gibt es keine Angaben.
Bauskizze der Synagoge in Sörgenloch (von 1893)
Vermutlich seit ca. 1850 gab es in Sörgenloch auch einen jüdischen Friedhof.
1933 lebten noch zwei Personen mosaischen Glaubens im Dorf.
jüdischer Friedhof Sörgenloch (Aufn. N., 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
In Stadecken, westlich von Nieder-Olm gelegen, lebten in den 1880/1890er Jahren mehr als zehn jüdische Familien, die ihren Lebensunterhalt vom Vieh- und Kleinwarenhandel bestritten.
Seit 1881 verfügte man auch über eine kleine Synagoge; hier sollen bis ca. 1900 gottesdienstliche Zusammenkünfte stattgefunden haben. Verstorbene wurden auf dem Friedhof in Jugenheim beerdigt.
1881 kam es im Dorf zu antisemitischen Gewalttätigkeiten; betroffen waren zwei begüterte jüdische Familien. Abwanderung führte um die Jahrhundertwende zur baldigen Auflösung der Gemeinde; die verbliebenen Juden Stadeckens schlossen sich der Gemeinde Nieder-Olm an. Anfang der 1930er Jahre wohnten noch elf Juden im Ort, die in den Folgejahren von hier verzogen bzw. auswanderten.
Namentlich sind sechs gebürtige Stadecker Juden bekannt, die Opfer der „Endlösung“ geworden sind (Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/stadecken_synagoge.htm).
In Ebersheim - heute Teil der Stadt Mainz - gab es bis 1938 eine jüdische Gemeinde, der zeitweilig auch die jüdischen Bewohner aus Harxheim angeschlossen waren; die Zahl der Gemeindeangehörigen erreichte zu keiner Zeit mehr als 90 Personen. Zu den gemeindlichen Einrichtungen zählten ein Friedhof und eine um 1845 erbaute Synagoge in der Mainzer Straße. Anfang der 1930er Jahre lebten in Ebersheim noch ca. 25 Juden. Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Synagoge durch auswärtige SA-Angehörige niedergebrannt und die Wohnhäuser der jüdischen Familien verwüstet. Auf Grund der Vorkommnisse verließen die meisten der bis dahin noch in Ebersheim lebenden Juden ihr Dorf.
Die Brandruine der ehemaligen Synagoge wurde in den 1950er Jahren abgebrochen.
[vgl. Ebersheim (Rheinland-Pfalz)]
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag Frankfurt/M. 1971, Bd.1, S. 145 f. und Bd. 2, S. 140/141 (Nieder-Olm mit Sörgenloch u. Stadecken) und S. 154/155 (Ober-Olm)
P.Weisrock/E.Rettinger/A.Weisrock (Hrg.), Die jüdische Gemeinde von Nieder-Olm, in: "Nieder-Olmer Dokumentationen 1", Selbstverlag, Nieder-Olm 1988, (2. Aufl., 2000)
Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz (Hrg.), Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus in Rheinland-Pfalz, 2.Aufl., Mainz 1991, S. 82
Friedrich Eckert, Juden in Mainz-Ebersheim, Mainz 1992
Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels. Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 291 und S. 347/348
Nieder-Olm, in: alemannia-judaica.de
Ober-Olm, in: alemannia-judaica.de
Sörgenloch, in: alemannia-judaica.de
Stadecken, in: alemannia-judaica.de
Rudolf Büllesbach, Geschichte und Schicksal der Ebersheimer Juden, in: regionalgeschichte.net
Dieter Krienke, Die Synagogen der Mainzer Vororte Bretzenheim, Ebersheim, Hechtsheim und Kastel, in: Stefan Grafhoff, Die Mainzer Synagogen, Mainz 2008
Auflistung der in Nieder-Olm verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Nieder-Olm
Wolfhard Klein, Die Synagogen in Essenheim, Jugenheim, Nieder-Saulheim, Partenheim, Stadecken und Vendersheim, hrg. vom Förderverein der Synagoge Weisenau, No. 2/2022