Nieder-Weisel (Hessen)
Nieder-Weisel mit derzeit ca. 2.500 Einwohnern ist heute ein Ortsteil von Butzbach im hessischen Wetteraukreis (Ausschnitt aus hist. Karte, ohne Eintrag von Nieder-Weisel, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Wetterauskreis', aus: ortsdienst.de/hessen/wetteraukreis).
Die ersten jüdischen Familien haben sich vermutlich zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Nieder-Weisel dauerhaft angesiedelt; einige kamen aus Dörfern der Wetterau; sie standen unter dem Schutz der Herrschaft von Solms-Lich. Doch bereits im Jahre 1580 fand in einer Butzbacher Stadtrechnung ein Jude von Nieder-Weisel Erwähnung. Neben dem Gießener Markt suchten die Juden von Nieder-Weisel regelmäßig die Märkte in Griedel, Grünberg, Herchenhain und Ortenberg auf. Eine jüdische Gemeinde gründete sich in Nieder-Weisel aber offiziell erst um 1830/1840. Ihre Synagoge - eingerichtet in einem ehemaligen Scheunengebäude - befand sich seit 1835 in der Weingartenstraße; in den Jahrzehnten zuvor hatte es bereits einen Betraum, eingerichtet in den 1740er Jahren, gegeben.
Aus einem Zeitungsbericht des „Intelligenzblatts für die Provinz Oberhessen“, No. 41 vom 10.10.1835:
„Aus Niederweisel, den 19. September 1835. Für den Menschenfreund, der, engherzigem Religionshasse und Sektengeiste fremd, sich über Alles freuen kann, was Menschen von einem höheren Gedanken beseelt, für das Höhere, für das Geistige und Sittliche tun und leisten, fand gestern hier ein recht erhebendes und erfreuliches Schauspiel statt. Schon seit vielen Jahren fühlte die hiesige zahlreiche israelitische Gemeinde das Bedürfniß eines anständigeren Locals zu ihrem öffentlichen Gottesdienste. Das bisherige war eine enge, dumpfe Stube, die mehr einem Kerker, als einem Gotteshause glich. Die gänzliche Armuth der meister Gemeindeglieder und die nur geringen Kräfte der etwas Bemittelteren schienen der schon längst gewünschten Erbauung einer anständigen Synagoge unübersteigliche Hindernisse entgegen zu stellen. Doch dies schlug den Muth der Gemeinde nicht nieder. Überzeugt, dass, was man im Vertrauen auf Gott und zu seiner Ehre unternimmt, auch bey unzureichend scheinenden Kräften, dem beharrlichen Eifer zuletzt gelinge, machte sie schon von mehreren Jahren die Einrichtung, dass von jedem abgeschlossenen Handel eine gewisse, verhältnismäßige Abgabe an den Fonds der zu erbauenden Synagoge entrichtet werden musste, und sann überhaupt auf jedes Mittel zu diesem ihr so sehr am Herzen liegende Zwecke. War das Ergebniß dieser Anstalten auch nur gering und bei weitem nicht hinreichend zu dem beabsichtigten Zwecke, ein Grund war doch gelegt. Um die Erreichung ihres sehnlichen Wunsches nicht in die ferne Zukunft gerückt zu sehen, schritt die Gemeinde zu einer Kapitalaufnahme, wozu ihr ein Menschenfreund die hülfreiche Hand bot. Doch hiermit waren noch nicht alle Hindernisse beseitigt; ein neues erhob sich in der Abgeneigtheit der Handwerker, diesen Bau zu übernehmen, und konnte erst nach 3 Jahren durch die kräftigen Bemühungen der Vorsteher besiegt werden. Vorgestern wurde der Bau der neuen Synagoge vollendet, und gestern war der Tag ihrer feierlichen Einweihung. ... wo der Zug nach der neuen Synagoge bald geordnet war und unter schöner Musikbegleitung, paarweise, langsam und feierlich sich fortbewegte. In der neuen Synagoge angekommen, wurden zuerst einige Lieder in hebräischer und dann zwei in deutscher Sprache von den dazu berufenen Sängern (Gebrüder Stern aus Rhina bei Hersfeld) vortrefflich abgesungen; ... ein herzliches Gebet zum Vater der Menschen, dass er dieses Gotteshaus und alles, was in demselben zur Bildung und Veredlung seiner Kinder werde vorgenommen werden, segnen und mit seinem Schutze über unserm hochverehrten Regenten und seinem hohen Fürstenhause ferner walten möge, beschloss die religiöse Feyer dieses Tages, worauf sich die jüngeren Glieder der Gemeinde im Gasthause zum Ritter den Freuden des Tanzes überließen.“!
Aus einem Bericht der Zeitschrift „Der Israelit” vom 26.7.1897:
Aus Oberhessen, 21. Juli. Angesichts der Thatsache, daß gerade die jüdischen Gemeinden auf dem Lande vielfach in ihrer Bedeutung und Entwicklung zurückgehen, darf wohl mit Recht auf die hingewiesen werden, welche eine rühmliche Ausnahme machen. In Niederweisel hatte ich Gelegenheit, die Synagoge und sonstige Einrichtungen zu besichtigen. Bei der 50jährigen Feier des Bestehens im Jahre 1885 wurde die ursprünglich aus einer Scheuer errichtete Synagoge mit schweren Opfern vollständig und würdig renoviert. Nicht weniger als 4.000 M. mußten durch die Mitglieder der kleinen Gemeinde aufgebracht werden. Dabei machte sich besonders Lehrer Heinemann verdient, dem der Gemeinsinn der dortigen Gemeinde-Mitglieder die Arbeit wesentlich erleichterte. Nun ist neuerdings noch ein an die Synagoge stoßendes Gebäude angekauft und als Schule bezw. Gemeindehaus eingerichtet worden. Ebenso wurde eine Mikwe erbaut, das den modernen hygienischen Ansprüchen durchaus genügt und auch in religiöser Beziehung alle Forderungen erfüllt.
Am Ortsrand existierte auch ein eigenes Friedhofsgelände.
Zur Gemeinde Nieder-Weisel zählten nach 1900 auch die wenigen jüdischen Familien aus Hoch-Weisel, Ostheim und Fauerbach; Verstorbene aus den beiden genannten Orten fanden auf dem Friedhof in Hoch-Weisel ihre letzte Ruhe.
Friedhof in Hoch-Weisel (Aufn. Ch. 2017, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Die jüdische Gemeinde war dem orthodoxen Provinzialrabbinat in Gießen unterstellt.
Juden in Nieder-Weisel:
--- 1622 ......................... 2 jüdische Familien,
--- 1680 ......................... 6 “ “ ,
--- 1702 ......................... 10 “ “ ,
--- 1830 ......................... 67 Juden (ca. 4% d. Bevölk.),
--- 1861 ......................... 104 “ (ca. 6% d. Bevölk.),
--- 1880 ......................... 83 “ ,
--- 1905 ......................... 85 “ ,* * Gemeinde Nieder-Weisel
--- 1910 ......................... 69 “ ,*
--- 1925 ......................... 61 “ ,*
--- 1939 ......................... 12 “ ,
--- 1940 ......................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 143
Die in Nieder-Weisel lebenden jüdischen Familien arbeiteten als Vieh- und Pferdehändler, aber auch als Kleinhändler. Nach der NS-Machtübernahme 1933 löste sich die jüdische Gemeinde innerhalb weniger Jahre völlig auf; ein Teil der Familien emigrierte, ein anderer Teil verzog in andere Orte innerhalb Deutschlands.
Während des Novemberpogroms von 1938 war die Synagoge ausgeplündert worden; später ließ man das Gebäude abreißen bzw. baulich völlig verändern. Im Gegensatz zu anderen Orten soll es in Nieder-Weisel kaum zu Ausschreitungen gegen jüdische Bewohner gekommen sein. 1939/1940 wurden die wenigen noch in Nieder-Weisel verbliebenen Juden „umgesiedelt”.
Der NS-Vernichtungspolitik sind nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." nachweislich 36 gebürtige bzw. längere Zeit in Nieder-Weisel ansässig gewesene Juden zum Opfer gefallen (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/nieder-weisel_synagoge.htm).
Der am westlichen Ortsrand liegende jüdische Friedhof weist noch eine Reihe von relativ gut erhaltenen Grabsteinen auf.
Jüdischer Friedhof Nieder-Weisel (Aufn. Ch., 2015, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Am früheren Standort der Synagoge in Butzbach, in der Wetzlarer Straße, erinnert seit 1981 ein Gedenkstein an die Zerstörung der Synagoge in Nieder-Weisel.
2014 wurde mit der Verlegung von „Stolpersteinen“ in den Stadtteilen von Butzbach, begonnen. In Nieder-Weisel sind 2016 vier Steine in Erinnerung an Angehörige der Familie Goldschmidt (Weingartenstraße) und weitere fünf an die der Familie Krämer ('Zum Bahnhof') verlegt worden.
verlegt für Angehörige der Familie Goldschmidt in der Weingartenstraße (Aufn. K&M, 2009, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
In Hoch-Weisel - ebenfalls ein Ortsteil von Butzbach (derzeit ca. 1.400 Einw.) - hat es bis in die Zeit um 1900 eine kleine jüdische Gemeinde gegeben. Bis Mitte des 19.Jahrhunderts gehörten ihr auch die wenigen jüdischen Einwohner Butzbachs an. Zu den gemeindlichen Einrichtungen zählten ein Friedhof und ein Betraum.
Bis zur Auflösung der dortigen Gemeinden gehörten auch die Juden aus Ostheim und Fauerbach zur Gemeinde Hoch-Weisel. Nach Schließung des Synagogenraumes wurde das Inventar versteigert.
Kleinanzeige aus: “Der Israelit” vom 3.1.1901
Auf der noch bestehenden relativ großflächigen jüdischen Begräbnisstätte sind allerdings nur noch wenige Grabsteine zu finden, die von der Vegetation nahezu überwuchert sind.
Ehem. jüdische Begräbnisstätte in Hoch-Weisel (Aufn. Ch. 2015, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 4.0)
Drei "Stolpersteine" - verlegt in der Lindenbergstraße - erinnern seit 2016 an Angehörige der Familie Scheuer.
[vgl. Butzbach (Hessen)]
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 143 f.
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt 1995, S. 317
Bernd Krausgill, Die Nieder-Weiseler Juden, in: Festschrift 75 Jahre Musik-Verein e.V. 1922 - 1997, S. 91 - 101
D. Wolf (Hrg.), Vor 50 Jahren brannten die Synagogen - Aus sieben Jahrhunderten jüdischen Lebens in Butzbach und Umgebung, in: Begleitheft zur Sonderausstellung des Stadtarchivs und Museums der Stadt Butzbach, 3.Aufl., Butzbach 1998, S. 20 - 22
Nieder-Weisel, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Hoch-Weisel mit Fauerbach und Ostheim, in: alemannia-judaica.de
Gail Schunk, Die Entwicklung der jüdischen Gemeinde von Münzenberg vom 12. bis 18.Jahrhundert, in: "Butzbacher Geschichtsblätter 2007/2008" (hier auch Informationen zur jüdischen Geschichte von Nieder-Weisel)
Hanno Müller, Familienbuch Butzbach Band V: Judenfamilien in Butzbach und seinen Stadtteilen (mit Dokumentation des Friedhofs), 2008
Magistrat der Stadt Butzbach (Red.), Gunter Demnig verlegt „Stolpersteine gegen das Vergessen“ in Butzbachs Stadtteilen, in: stadt-butzbach.de vom 29.8.2016
dt (Red.), Erinnerung an Pogromnacht 938 – Sechs weitere „Stolpersteine“ wurden in Nieder-Weisel verlegt, in: „Butzbacher Zeitung“ vom ?
Auflistung der Stolpersteine in Nieder-Weisel, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Butzbach#Nieder-Weisel
N.N. (Red.), In Auschwitz ermordet – neue Stolpersteine gegen das Vergessen, in: „Butzbacher Zeitung“ vom 16.10.2016 (betr. Stolpersteine in Nieder-Weisel)