Nordstetten (Baden-Württemberg)

Datei:Karte Horb am Neckar.png B 32 in 72160 Horb am Neckar Nordstetten (Baden-Württemberg) Nordstetten - mit derzeit ca. 2.400 Einwohnern - ist seit 1971 ein Ortsteil der Großen Kreisstadt Horb a. Neckar im Landkreis Freudenstadt - ca. 35 Kilometer westlich von Tübingen gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Freudenstadt', F. Paul 2009, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts erreichte die israelitische Gemeinde von Nordstetten mit ca. 70 hier beheimateten Familien ihren Zenit.

Eine jüdische Gemeinde bildete sich in Nordstetten im Laufe des 17.Jahrhunderts, nachdem die Herren von Schleitheim jüdischen Familien die Erlaubnis zur Niederlassung gegeben hatten. Die Zahl der hier lebenden Juden wuchs kontinuierlich an. Vor allem Familien aus dem nahe gelegenen Dettensee zogen zu. Die Gemeinde umfasste in den 1840er Jahren mehr als 70 Familien. Die jüdische Bevölkerung wohnte im 18./19.Jahrhundert vor allem in der Nähe des Schlosses. Ein seit ca. 1720 bestehender Betsaal in einem Privathaus wurde Ende der 1760er Jahre durch einen Synagogenneubau abgelöst, der um 1840 erweitert wurde. Der Bezirksrabbiner Michael Silberstein beschrieb 1875 die Synagoge: ... Einen anmutigen Anblick gewährt die weniger geräumige Synagoge in Nordstetten. Auch sie ist im Rundbogenstil aufgebaut und bildet, an der Hauptstraße befindlich, ein längliches Viereck. Vor der heiligen Lade, die sich an der Ostseite befindet, ist eine geschmackvolle Kanzel angebracht, wo sich Plätze für Chorsänger und Katechumen befinden. Am Fuße der Kanzel ist das Vorlesepult; der ganze übrige Raum ist mit Subsellien angefüllt, ... Für die Frauen sind auf drei Seiten Gallerien angebracht.’ 

               Innenansicht Synagoge Nordstetten (hist. Aufn., um 1930)

Ganz in der Nähe der Synagoge befand sich das jüdische Gemeindehaus; auch eine Mikwe war am Ort vorhanden. Seit 1728 stand den jüdischen Kindern eine Religionsschule zur Verfügung; etwa 100 Jahre später wurde in Nordstetten eine öffentliche israelitische Elementarschule - die erste ihrer Art in Württemberg - eröffnet; 1878 wurde sie in eine Konfessionsschule umgewandelt.

   aus: „Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 17.Sept. 1878

1906 wurde diese wegen Schülermangels aufgelöst.

Den Juden in Nordstetten stand seit 1797 ein eigenes Beerdigungsgelände am Ort zur Verfügung; zuvor waren verstorbene Gemeindemitglieder auf dem Friedhof in Mühringen beerdigt worden.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images10/Nordstetten%20Friedhof06.jpghttp://www.alemannia-judaica.de/images/Images10/Nordstetten%20Friedhof01.jpg

                                                   Teilansichten des jüdischen Friedhofs in Nordstetten (Aufn. J. Hahn, um 1985)

Im 18. und zu Beginn des 19.Jahrhunderts war Nordstetten zeitweise auch Sitz eines Bezirksrabbinats, zu dem auch Dettensee und Haigerloch gehörten. Seit 1832 unterstand Nordstetten dem Rabbinat Mühringen.

Juden in Nordstetten:

         --- um 1755 .........................  15 jüdische Familien,

    --- 1772 ............................  18     “       “    ,

    --- 1807 ............................ 176 Juden,

    --- 1821/24 ......................... 240   “  ,

    --- 1831/32 ......................... 261   “  ,

    --- um 1850 ..................... ca. 340   “   (in ca. 70 Familien),

    --- 1864 ............................ 195   “  ,

    --- 1886 ............................  62   “  ,

    --- 1900 ............................  65   “  ,

    --- 1910 ............................  39   “  ,

    --- 1932/33 .........................  12   “  .

Angaben aus: Michael Silberstein, Historisch-topographische Beschreibung des Rabbinatsbezirks Mühringen, 1875

und                 Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg, S. 198 und S. 328

 

Über die Wirtschaftsgrundlagen der Nordstetter Juden berichtete der Bezirksrabbiner Michael Silberstein: „Auf dem Lande beschäftigen sich die Israelis zumeist mit dem Handel mit Vieh, Leder und Tuch, den sie umherziehend betreiben. Daneben gibt es auch stehende Geschäfte, Gastwirte und Handwerker, jedoch nur in geringer Zahl.” Ab Mitte des 19.Jahrhunderts wanderten vermehrt jüdischen Bewohner aus Nordstetten ab; innerhalb von nur 30 Jahren verlor die Gemeinde mehr als 80% (!) ihrer Angehörigen. „ ...Gestorben ! Ausgewandert ! hört man hier ständig, wenn man nach dem und jenem fragt. Zu der Amerikasucht ist nun die Freizügigkeit im Lande gekommen, und es ist wie in einer Gesellschaft: wenn einer zum Fortgehen aufsteht, stehen die anderen auch auf.(Berthold Auerbach)

 Der Heimatdichter Berthold (Moses Baruch) Auerbach (geb. 1812, gest. 1882 in Cannes) - Nachkomme einer ‚Rabbiner-Dynastie’ väterlicherseits - ist auf dem jüdischen Friedhof seines Heimatdorfes Nordstetten beerdigt. Ursprünglich sollte er Rabbiner werden und besuchte die Talmud-Schule in Hechingen; schließlich begann er ein Jura- und Philosophie-Studium in Tübingen. Als freier Schriftsteller lebte er dann in Weimar, Leipzig, Dresden, Berlin und Wien. Zu seinen frühesten Schriften gehörten zwei Romane über jüdische Themen; so entwarf er z.B. in seinem „Spinoza“ (1837) ein einfühlbares Bild des sephardischen Juden; in „Dichter und Kaufmann“ (1840) wandte er sich der aschkenasischen Judenschaft zur Zeit Mendelssohns zu. Seine Bekanntheit als Schriftsteller gewann Auerbach mit seinen „Schwarzwälder Dorfgeschichten“, in denen er Nichtjuden den Charakter des jüdischen Milieus auf dem Lande näher zu bringen versuchte.

Aus Anlass seines 100.Todestages wurde im Nordstetter Barock-Schloss das „Berthold-Auerbach-Museum” eröffnet; auch eine Grundschule und eine Straße Nordstettens sind nach ihm benannt. Zur Erinnerung an den großen Sohn Nordstettens vergibt die Stadt Horb den mit 2.500 Euro dotierten Berthold-Auerbach-Literaturpreis.

 

Über das Verhältnis der in Nordstetten lebenden Juden zu den christlichen Dorfbewohnern ist aus Akten der hiesigen Diözese von 1871 zu entnehmen: „... Die in Nordstetten ansässigen Juden üben keinerlei Einfluß auf das kirchliche oder religiös sittliche Verhalten der Pfarrangehörigen, man lebt außer dem nöthigsten Verkehr so ziemlich getrennt.”


Anzeige der Zigarrenfabrik Gebr. Gideon und Stellenangebot für einen Geschäftsreisenden (um 1900)

Zu Beginn der 1930er Jahre gab es keinen nennenswerten jüdischen Bevölkerungsanteil in Nordstetten mehr; 1936 wurde die jüdische Gemeinde offiziell aufgelöst und die wenigen hier lebenden Juden der israelitischen Gemeinde in Horb angegliedert. Schon Jahre zuvor wurde die Synagoge geschlossen und das marode gewordene Gebäude verkauft; es wurde 1937 abgerissen.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind 13 aus Nordstetten stammende jüdische Bürger Opfer der Shoa geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/nordstetten_synagoge.htm).

 

Auf dem ca. 2.000 m² großen Friedhofsgelände stehen heute noch ca. 300 Grabsteine; auf dem Areal findet man auch das Grab des Heimatdichters Berthold Auerbach (gest. 1882).

Die in einem beim Schloss stehenden alten Wehrturm befindliche Mikwe blieb erhalten.

Im Turm beim Schloss war das rituelle Bad der Gemeinde untergebracht.http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20334/Nordstetten%20Mikwe%2012020.jpg

Turm am Schloss (Aufn. aus: ehemalige-synagoge-rexingen.de) und ehemaliges rituelles Bad (Aufn. J. Hahn. 2012)

In den Stadtteilen von Horb – so auch in Nordstetten – wurden in den letzten Jahren sog. „Stolpersteine“ verlegt.

                Mina und Sigmund Auerbacher: Der Metzger Sigmund Auerbacher aus Nordstetten war ... (Aufn. B. Breitmaier, aus: neckar-chronik.de)

 

 

 

Auch in anderen Stadtteilen Horbs existierten jüdische Gemeinden, so in Dettensee, Rexingen, Mühringen und Mühlen.

[vgl. dazu:  Horb - Dettensee - Mühlen - Mühringen - Rexingen (Baden-Württemberg)]

 

 

 

Weitere Informationen:

Michael Silberstein, Historisch-topographische Beschreibung des Rabbinatsbezirks Mühringen vom 22.Dezember 1875

A. Bettelheim, Berthold Auerbach. Der Mann, sein Werk - sein Nachlaß, Stuttgart 1907

M. T. Kill, Berthold Auerbach als Schriftsteller, Dissertation Bonn 1924

Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale - Geschichte - Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1966, S. 136 - 139

Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg, Dissertation Philosophische Fakultät Universität Tübingen, 1969

H. Wagenpfeil, Geschichte der Juden in Nordstetten, Maschinenmanuskripte, Nordstetten o.J.

Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 188 f.

Charles Bernard Bernstein, The Rothschilds of Nordstetten. Their History and Genealogy, Chicago 1989

Nordstetten, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Joachim Hahn/Jürgen Krüger, Synagogen in Baden-Württemberg, Band 2: Joachim Hahn, Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2007

Marion Tischbein (Red.), „Stolpersteine“ erinnern an Juden, in: "Schwarzwälder Bote" vom 28.11.2011

Ehem. Synagoge Rexingen e.V. (Hrg.), Gedenkblätter und Stolpersteine für die Ermordeten, online abrufbar unter: ehemalige-synagoge-rexingen.de/aktivitaeten/stolpersteine-gedenkbuch (Anm. mit Biografien/Dokumenten/Verlegeorte)

Renate Nolte, Der jüdische Friedhof von Nordstetten, 2012 (online abrufbar)

Barbara Staudacher/Karlheinz Fuchs, Häuser der Ewigkeit. Jüdische Friedhöfe im südlichen Württemberg, 2014

NC (Red.), Hier wohnte Stolpersteine in Horb, in: „Südwest Presse. Neckar-Chronik" (mit Abb. der Stolpersteine im Stadtgebiet von Horb)

NC (Red.), Nordstetten – Ortshistorie. In den Ortsarchiven geforscht. Manfred Steck legt ein dreibändiges Manuskript über die jüdische Bevölkerung Nordstetens vor, in: „Südwest Presse. Neckar-Chronik“ vom 16.8.2022