Öhringen (Baden-Württemberg)
Öhringen ist eine Kleinstadt mit derzeit ca. 25.500 Einwohnern im Nordosten Baden-Württembergs (Hohenlohekreis) - ca. 25 Kilometer östlich von Heilbronn gelegen (Karte der Hohenlohebahn mit Öhringen, Kj. 2007, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0 und Kartenskizze 'Hohenlohekreis', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die mittelalterliche jüdische Gemeinde in Öhringen stand seit 1253 unter dem Schutz des Stiftsvogts, dem Herrn von Hohenlohe. Im Zuge des sog. „Rindfleisch-Pogroms“ von 1298 wurden auch hiesige Juden erschlagen; in den folgenden Jahrzehnten dürfte sich die Gemeinde von den Folgen des Pogroms aber wieder erholt haben. Das Wohngebiet der jüdischen Familien lag wahrscheinlich im Bereich der Gerbergasse in der Altstadt; hier befand sich auch das Bethaus.
Im Zuge des Pestpogroms von 1348/1349 wurde die jüdische Gemeinde samt Synagoge endgültig zerstört. Die Grafen von Hohenlohe duldeten seit dem 15.Jahrhundert keine Juden mehr auf ihrem Territorium, also auch nicht in Öhringen. So hielten sich in den folgenden Jahrhunderte nur wenige Juden zeitweilig in Öhringen auf. Von durchziehenden Juden wurden in ganz Hohenlohe Wegzölle erhoben.
Stadt u. Schloss Öhringen um 1750 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Erst ab 1850 kam es nun zu dauerhaften Zuzügen aus Dörfern der näheren und weiteren Umgebung, und es bildete sich eine neue jüdische Gemeinde, die innerhalb kürzester Zeit schnell wuchs; sie konstituierte sich offiziell 1869, zunächst als Filialgemeinde von Eschenau; 1890 wurde sie autonom.
Stellenangebot aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 27.Okt. 1875
Gottesdienste wurden zunächst in einem angemieteten Betsaal in der Karlsvorstadt abgehalten; 1888 wurde das Gasthaus „Zur Sonne” in der Unteren Torstraße angekauft und zur Synagoge umgebaut; diese wurde im Frühjahr 1889 feierlich eingeweiht.
FESTPROGRAMM
In der Zeitschrift „Der Israelit” vom 8.April 1889 wurde über die Einweihung berichtet:
Oehringen, 31. März. Die hiesige israelitische Gemeinde feierte vergangenen Freitag ein längst ersehntes Freudenfest, die Einweihung ihrer neuen Synagoge. Hiezu hatten sich eingefunden: Herr Kirchenrath Dr. von Wassermann aus Stuttgart, Herr Rabbiner Dr. Engelbert aus Heilbronn, Herr Regierungsrath Böltz, sämmtliche hiesige Geistliche, ... und eine große Anzahl sonstiger Ehrengäste von hier und auswärts. Nach dem Abschiedsgottesdienst im Betsaal bewegte sich der Zug durch die Stadt zur neuen Synagoge, welche aufs geschmackvollste dekorirt war ... Als sämmtliche Theilnehmer ihre Plätze eingenommen hatten, wurde von dem durch Herrn Lehrer Schloßmann neu gegründeten und vorzüglich eingeschulten Synagogenchor der Gottesdienst eingeleitet. Die Festpredigt hielt Herr Bezirksrabbiner Dr. Engelbert, ... Abends fand ein aus allen Ständen und Confessionen so zahlreich besuchtes Bankett im Saale des Württ. Hofes statt. ... In ungetrübter Festfreude blieben die Theilnehmer bis lange nach Mitternacht versammelt.
Gebäude der ehemaligen Synagoge (Aufn. nach 1945, Stadtarchiv)
Ihre Verstorbenen beerdigte die Judenschaft Öhringens zunächst auf den Friedhöfen in Affaltrach und Berlichingen; seit 1911 existierte dann ein eigener Friedhof auf dem „Galgenberg“ (oder im „Galgenfeld“) im Flurstück Schönblick westlich des Ortes.
Die israelitische Gemeinde Öhringen war zunächst dem Bezirksrabbinat Heilbronn, später dann dem von Schwäbisch Hall zugeordnet.
Juden in Öhringen:
--- 1867 ........................... 8 Juden,
--- 1871 ........................... 57 “ ,
--- 1875 ........................... 102 “ ,
--- 1880 ........................... 158 " ,
--- 1886 ........................... 180 “ (ca. 40 Familien),
--- 1895 ........................... 156 " ,
--- 1900 ........................... 164 “ (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1910 ........................... 154 “ ,
--- 1925 ........................... 159 “ ,
--- 1933 ........................... 163 “ ,
--- 1940/41 ........................ 5 jüdische Familien.
Angaben aus: Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, S. 146
und Arbeitskreis für Zeitgeschichte Öhringen (Bearb.), Jüdische Bürger in Öhringen - eine Dokumentation
Marktplatz in Öhringen, Postkarte um 1905 (Abb. aus: akpool.de)
Die Juden der Kleinstadt stellten zwar nur etwa 4 - 5 Prozent der Gesamtbevölkerung, spielten seit den 1880er Jahren im Wirtschaftsleben Oehringens aber eine bedeutsame Rolle; so lag z.B. der Mehl- und Getreidehandel fast ausschließlich in Händen jüdischer Unternehmer; auch der Vieh- und Pferdehandel wurden von ihnen dominiert.
Anzeigen von 1929 bis 1932
Es gab aber auch jüdische Bewohner, die in sozial schwachen Verhältnissen lebten. Ein israelitischer Wohltätigkeits-, ein Armen- und ein Frauenverein kümmerten sich vornehmlich um diese minderbemittelten Gemeindemitglieder.
Mit Beginn der NS-Machtübernahme verschlechterte sich das zuvor meist einvernehmliche Zusammenleben zwischen der jüdischen und nicht-jüdischen Bevölkerung sichtbar. Erste nationalistisch-antisemitische Misstöne hatte es bereits in den 1920er Jahren gegeben - eine Brandstiftung, Vergiftung von Haustieren und ein angestrebtes Schächtverbot waren Ausdruck einer sich ausbreitenden antijüdischen Stimmung. Seit 1933 waren Schmierereien an jüdischen Geschäften an der Tagesordnung. Am 18.März 1933 gingen in Öhringen SA-Trupps unter dem Kommando des Heilbronner SA-Standartenführers Fritz Klein gegen Kommunisten, Sozialdemokraten und Juden vor; dabei kam es Festnahmen und schweren Misshandlungen.
Die „Hohenloher Rundschau”, zum Sprachrohr der NS-Propaganda geworden, forderte die jüdischen Einwohner auf: “Also ihr Juden und Judenknechte, packt eure Koffer und macht es wie die Kinder Israels zur Zeit des Moses selig!“ Von der NSDAP-Ortsgruppe gesteuerte Leserbriefe in der Lokalpresse heizten die antijüdische Stimmung im Orte weiter an; so hieß es u.a.: "... Wenn Sie glauben, es sei ein paar Juden Unrecht geschehen, dann wollen wir Ihnen noch aufklärend mitteilen, daß in unserer Geschäftsstelle Bauern und Bäuerinnen in Scharen ankommen und erzählen, teils unter Tränen, wie sie durch den und jenen Juden um Hab und Gut gekommen von Haus und Hof vertrieben worden seien und vor einem Nichts stehen. ..."
Über den Boykotttag berichtete das „Hohenloher Tageblatt” am 3. April 1933:
Am Samstag, 1.April, hatten um 10 Uhr alle SA- und SS-Männer ihre Posten vor jüdischen Geschäften bezogen. In Flugblättern wurde die Bevölkerung aufgefordert, nur bei Deutschen zu kaufen. Kauflustige, die die Geschäfte betreten wollten, wurden von den Posten höflich, aber bestimmt auf den Boykott hingewiesen ...”
Boykotte jüdischer Geschäfte wurden in der Folge weiter überwacht; diejenigen, die dennoch in jüdischen Läden einkauften, wurden öffentlich angeprangert und verwarnt. Relativ lange konnten sich noch jüdische Vieh- und Pferdehändler behaupten, da Bauern der Region weiterhin Geschäfte mit ihnen abschlossen. Doch ging es auch in Öhringen den jüdischen Unternehmen langsam immer schlechter; immer mehr Geschäfte schlossen bzw. wurden „arisiert“.
Anzeige der „Hohenloher Rundschau” vom 10. Nov.1937
Anm.: Dieses Marktverbot wurde allerdings vom Wirtschaftsministerium als „unzulässige Einzelaktion“ kritisiert und wieder aufgehoben.
Am 10. November 1938 wurden die verbliebenen jüdischen Geschäfte von SA-Trupps und NSDAP-Angehörigen demoliert. Die Synagoge wurde zwar nicht in Brand gesetzt, doch zerstörten aus Heilbronn herangebrachte SA-Männer die Inneneinrichtung. Die aus der Synagoge herausgeschleppten Gegenstände und Thorarollen transportierte man zum Schillerplatz, um sie dort öffentlich zu verbrennen. Das umgebaute Synagogengebäude - es war 1939 von der Stadt Öhringen erworben worden - diente im Zweiten Weltkriege als Lehrerinnen-Bildungsanstalt, danach als Frauen-Fachschule, ehe es dann später zu einem Jugendheim umfunktioniert wurde. Heute dient das Gebäude vor allem Wohnzwecken. Bis 1940/1941 konnten sich die meisten Öhringer Juden ins Ausland retten; mehr als 80 gelangten in die USA und etwa 20 nach Palästina. Die restlichen fünf jüdischen Familien wurden Ende 1941 nach Riga deportiert, die allermeisten kamen hier ums Leben.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind nachweislich 38 gebürtige bzw. längere Zeit in Öhringen wohnhaft gewesene jüdische Bürger Opfer der „Endlösung“ geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/oehringen_synagoge.htm ).
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. M. Hassler, 2008, aus: wikipedia.de, CC BY-SA 3.0)
Am „Haus der Jugend” in Öhringen erinnert seit 1998 eine Gedenktafel an die Geschichte dieses Gebäudes, das bis November 1938 über 50 Jahre hinweg den jüdischen Familien Öhringens als Synagoge gedient hatte. Unter einer stilisierten Menora befindet sich die folgende Inschrift:
Dieses Gebäude wurde im Jahr 1888 von der jüdischen Gemeinde erworben und diente als Synagoge. Fanatismus und Haß führten am 10.November 1938 zu seiner Verwüstung. Die jüdische Gemeinde wurde zerstreut, viele ihrer Angehörigen wurden deportiert und ermordet.
Bürger der Städte Öhringen wollen daran erinnern und nicht vergessen.
“Geschehene Dinge lassen sich nicht ändern,
aber man kann dafür sorgen, dass sie nicht wieder vorkommen.”
Anne Frank, 7.Mai 1944
Seit 1991 erinnert die Merzbacher-Straße an den jüdischen Arzt Dr. Julius Merzbacher, der bis zu seiner Deportation nach Gurs in Öhringen lebte; zusammen mit seiner Frau wurde er in Majdanek ermordet; seinen beiden Söhnen gelang die Flucht in die Schweiz.
Im Kreuzgang der Öhringer Stiftskirche wurden im Jahre 2000 zwei Tafeln angebracht, auf denen namentlich alle 42 jüdischen NS-Opfer aus Öhringen genannt sind.
eine der beiden Gedenktafeln (Abb. aus: juden-in-oehringen.de)
Vom jüdischen Friedhof sind ca. 55 Grabsteine erhalten, obwohl diese während der Kriegsjahre „abgeräumt“ werden sollten und an Steinmetze zur „Weiterverarbeitung“ verkauft werden sollten.
Ummauertes Friedhofsareal und Taharahaus (Aufn. Sarang, 2017, aus: wikipedia.org, CCO)
Die Erstverlegung von 21 sog. „Stolpersteinen“ vor sieben Häusern in der Innenstadt Öhringens geschah im November 2011; weitere Steine sieben bzw. zwölf folgten 2013 bzw. 2017, so dass inzwischen nun 40 "Stolpersteine" gezählt werden (Stand 2023).
"Stolpersteine"* (Abb. Arbeitskreis ehemalige Synagoge Öhringen)
*Der Stein für Hilde Merzbacher liegt in ihrer Geburtsstadt Konstanz.
Weitere Informationen:
Dürr, Das Schicksal der Juden in Stadt und Kreis Öhringen, in: "Hohenloher Chronik" - Zeitungsbeilagen vom Nov. 1963 und Jan.1964
Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale - Geschichte - Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag Stuttgart 1966, S.146/147
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 265/266
Norbert Strauß, Monarchie - Demokratie - Diktatur, Öhringen 1914 bis 1945, in: G.Taddey/W.Rößler/W.Schenk (Bearb.), Öhringen - Stadt und Stift, Hrg. Stadt Öhringen 1988, S. 259 f.
Norbert Strauß, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Öhringens, in: „Heimatbuch Öhringen, Stadt und Stift, 1988
Eberhard Knobloch, Die Baugeschichte der Stadt Öhringen vom Ausgang des Mittelalters bis zum 19.Jahrhundert, Öhringen 1991 (Anmerkung: auch zur Baugeschichte der Synagoge Öhringen)
Arbeitskreis für Zeitgeschichte Öhringen (Bearb.), Jüdische Bürger in Öhringen - eine Dokumentation, Hrg. Stadt Öhringen, Öhringen 1993
Arbeitskreis für Zeitgeschichte Öhringen (Bearb.), Ein Öhringer Schicksal - Das Lebensbild des Öhringer Arztes Dr. Julius Merzbacher, Hrg. Stadt Öhringen, Öhringen o.J.
Peter Hohl (Red.), „Niemand soll sagen, er habe nichts gewusst“ - Zwei Gedenktafeln im Kreuzgang des Öhringer Stifts …, in: „Hohenloher Zeitung“ vom 20.11.2000
Naftali B.G. Bamberger, Memor-Buch. Die jüdischen Friedhöfe im Hohenlohekreis (2 Bände), Hrg. Landratsamt Hohenlohekreis, 2002
Eva Maria Kraiss/Marion Reuter, Bet Hachajim - Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Württembergisch Franken, Swiridoff Verlag, Künzelsau 2003, S. 98 - 103
Gerhard Taddey (Hrg.), ... geschützt, geduldet, gleichberechtigt ... Die Juden im baden-württembergischen Franken vom 17.Jahrhundert bis zum Ende des Kaiserreiches (1918), in: "Forschungen aus Württembergisch Franken", Band 52, Ostfildern 2005, S. 103/104
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 367 – 370
Stadt Öhringen (Hrg.), Unvergessene Mitbürger – Zur Erinnerung an die ermordeten jüdischen Bürger Öhringens - ausgegrenzt - entwürdigt - verschleppt – ermordet – Stolpersteine Verlegung 2011 – 2013 – 2017, als PDF-Datei abrufbar unter: oehringen.de/fileadmin/images/content/Stadt-Info/Geschichte/Stolpersteine_Broschüre_neu.pdf
Gregor Spuhler, Gerettet - zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung, Chronos-Verlag, Zürich 2011
Öhringen, in: alemannia-judaica.de (umfangreiche Dokumentation der Historie der Öhringer Kultusgemeinde und ihrer Angehörigen)
Arbeitskreis ehemalige Synagoge Öhringen (Hrg.), Juden in Öhringen. Erinnern – nicht vergessen!, online abrufbar unter: juden-in-oehringen.de
Große Kreisstadt Öhringen (Hrg.), Stolpersteine in Öhringen (namentliche Nennung mit Verlegeorten), online abrufbar unter: oehringen.de/stadt/stadtgeschichte/stolpersteine-oehringen.html
Auflistung der in Öhringen verlegten Stolpesteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Öhringen