Ober-Gleen (Hessen)

Datei:Mittelhessen Vogelsberg Kir.png Ober-Gleen – im Norden des Vogelsberg-Kreises ca. zehn Kilometer westlich von Alsfeld gelegen – ist mit derzeit ca. 500 Einwohnern seit 1971 ein Stadtteil von Kirtorf (Kartenskizze 'Vogelsbergkreis', Andreas Trepte 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Das Dorf Ober-Gleen gehörte früher zum Herrschaftsbereich der Freiherren Schenck zu Schweinsberg. Die hiesige jüdische Kultusgemeinde, die sich im Laufe des 18.Jahrhunderts herausbildet hatte, bestand stets nur aus einer überschaubaren Anzahl von Familien. Um 1830 waren es nahezu 50 Personen, ein halbes Jahrhundert später ca. 60.

Eine Synagoge – ein zweigeschossiger Fachwerkbau - wurde 1874 in der Obergasse errichtet; der Zugang zur Frauenempore erfolgte durch das angebaute Gemeindehaus. In den Jahrzehnten hatten gottesdienstliche Zusammenkünfte in einem Privathaus stattgefunden.

Ehem. Synagogengebäude (Aufn. Th. Altaras)

Religiöse Aufgaben der Gemeinde erledigte zeitweise ein angestellter Lehrer; gegen Mitte des 19.Jahrhunderts erteilte er auch vorübergehend Unterricht an der israelitischen Elementarschule in Kirtorf. Nach 1900 wurde die Lehrerstelle gemeinsam für Ober-Gleen und Kirtorf ausgeschrieben.

Stellenausschreibungen aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 8.Febr. 1900 und vom 7.März 1904

Als die Zahl der jüdischen Kinder noch weiter zurückgegangen war, erteilte dann der jüdische Lehrer aus Alsfeld den Religionsunterricht.

Ihre Verstorbenen begrub die kleine Gemeinde auf dem Friedhof in Angenrod.

Juden in Ober-Gleen:

--- 1828 .......................... 47 Juden,

--- 1861 .......................... 55   “  (ca. 8% d. Bevölk.),

--- 1880 .......................... 58   “  (ca. 8% d. Bevölk.),

--- um 1900 ................... ca. 45   “  (ca. 6% d. Bevölk.),

--- 1910 .......................... 39   “  ,

--- 1924 ...................... ca. 30   “  ,

--- 1933 .......................... 23   “  (in sechs Familien),

--- 1939 (Okt.) ...................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 447/48

 

Anfang der 1930er Jahre lebten im Dorf noch ca. 25 jüdische Bewohner (in sechs Familien).

Während des Pogroms von 1938 blieb das Synagogengebäude von einer Inbrandsetzung zwar verschont, doch wurden Ritualien aus dem Innenraum herausgeschleppt und (vermutlich) zerstört. Auch an von jüdischen Familien bewohnten Häusern vergriffen sich die SA-Männer.

Ein Jahr später lebten keine jüdischen Bewohner mehr am Ort; sie waren zumeist nach Frankfurt/M. bzw. Kassel abgewandert; von hier wurden sie vermutlich deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sollen 16 gebürtige bzw. länger am Ort ansässig gewesene jüdische Bewohner Ober-Gleens der "Endlösung" zum Opfer gefallen sein (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/ober-gleen_synagoge.htm).

 

Gedenktafeln an der restaurierten Friedhofsmauer erinnern seit 2010 an die hiesigen Opfer der NS-Gewaltherrschaft.

Im Rahmen der Dorferneuerung wurde in den Jahren 2013 bis 2017 das ehemalige Bethaus (in der Obergasse), das in den Nachkriegsjahrzehnten als Schmiede/Reparaturwerkstatt und Lagerraum gedient hatte, unter Federführung des Heimatvereins Kirdorf restauriert. In einer Feierstunde am 79.Jahrestag der Reichspogromnacht wurde das umfangreich sanierte Gebäude nach einer Bauzeit von zwei Jahren seiner neuen Bestimmung als "Haus der Geschichte, Kultur und Begegnung" übergeben.

Ehem. Synagogengebäude vor und nach der Restaurierung (Aufn. Monika Felsing, 2015/2016, aus: alemannia-judaica.de)

Anmerkungen Judenpfade waren im 18. und 19. Jahrhundert Wege, auf denen jüdische Händler als Hausierer, Vieh- oder Kleinhändler unterwegs zu den lokalen Märkten waren. Der seit 2012 bestehende Wanderweg „Judenpfad" (vom 1999 gegründeten Förderverein zur Geschichte des Judentums im Vogelsberg ins Leben gerufen) erinnert an die Bedeutung der jüdischen Minderheit als Händler und Mittler zwischen den Bauern. Der Weg führt dabei an ehemaligen Synagogen (Kestrich, Romrod), alten Friedhöfen (Ulrichstein, Angenrod, Storndorf) und Museen mit jüdischen Abteilungen (Alsfeld, Kirtorf) vorbei. Auf am Wegesrand stehenden Tafeln wird auf die Geschichte der „Landjuden“ der Regíon informiert. Ein Teilstück des sog. Judenpfades befindet sich zwischen Kirtorf und Ober-Gleen.

vgl.  Kirtorf (Hessen)

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 150

Thea Altaras, Synagogen in Hessen (betr. Ober-Gleen). Was geschah seit 1945?, Königstein i. Ts. 1988, S. 111 (Neubearbeitung 2007, S. 262/263)

Annette Weber-Möckl, Die Judengemeinde in Kirtorf und Ober-Gleen, in: Magistrat der Stadt Kirtorf (Hrg.), Kirtorf und das Eußergericht, 1989 

Thea Altaras, Das jüdische Rituelle Tauchbad und Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945? Teil II, Königstein i.Ts. 1994, S. 99 - 101 (sowie in Neubearbeitung der beiden Bände 2007, S. 258 - 260)

A. Wiesemüller/M. Krauss, Jüdische Friedhöfe im Vogelbergkreis, in: Kulturverein Lauterbach e.V. (Hrg.), Fragmente ... jüdischen Lebens im Vogelsberg, Lauterbach 1994, S. 82

Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 – 1945, Hessen II Regierungsbezirke Gießen und Kassel, 1995, S. 196/197

Ober-Gleen, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie und zahlreichen personenbezogenen Hinweisen/Bildern)

Einweihung eines ungewöhnlichen Wanderweges, Aufsatz vom April 2012, online abrufbar unter: kulturverein-storndorf.de

Jüdische Geschichte hautnah begreifen – Judenpfad wird eröffnet, in: "Osthessen News" vom 20.4.2012

Monika Felsing, Dorfgeschichte von Ober-Gleen (in vier Bänden), books on demand 2013/2016 (Anm.: Geschichte und Traditionen jüdischer Familien von Ober-Gleen sind ausführlich geschildert in Band 3 “Himmel un Höll”, 2015 und Band 4 “Schbille gieh un feiern”, 2016)

OBER-GLEEN: Großes Bestreben im Ort, die Synagoge zu erhalten, in: "Lauterbacher Anzeiger" vom 5.9.2013

Linda Buchhammer (Red.), „Eine Brücke in die Gegenwart“ - ERÖFFNET: Ehemalige Synagoge in Ober-Gleen restauriert, in: „Oberhessische Zeitung“ vom 12.11.2017

Michael Riese (Bearb.), Kirtorf: Ehemalige Synagoge in Ober-Gleen restauriert, in: Jüdische Geschichte Vogelsberg vom 17.3.2018

Lauterbacher Anzeiger (Red.), Stimmen von Zeitzeugen – Hohhaus Hörbuch „Jiddisch Leben“ vorgestellt, in: „Lauterbacher Anzeiger“ vom 7.3.2018