Proßnitz (Mähren)

 Proßnitz (tsch. Prostějov, Jidd.: Prostich) ist eine Stadt in Südmähren unweit von Brünn/Brno; Prostějov mit seinen derzeit ca. 44.000 Einwohnern ist Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks und Zentrum der tschechischen Textilindustrie (Ausschnitt aus hist. Karte aus: wikipedia.org, PD-alt-100 und Kartenskizze 'Tschechien' mit Prostějov rot markiert, P.V. 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Im 18.Jahrhundert war in Proßnitz die zweitgrößte jüdische Gemeinde Mährens beheimatet.

Erste Hinweise auf die Anwesenheit von Juden in Proßnitz finden sich im Stadtbuch für das Jahr 1392.

Die Gründung der jüdischen Gemeinde in Proßnitz hing vermutlich mit den Vertreibungen jüdischer Familien aus dem nahen Olmütz 1450 zusammen. Auch in den folgenden Jahrhunderten fanden jüdische Flüchtlinge in Proßnitz eine dauerhafte Bleibe, z.B. Juden, die 1670 aus Wien ausgewiesen wurden. Das ghettoartige Wohngebiet der Proßnitzer Juden war zwischen dem Augustinerkloster und dem Südabschnitt der städtischen Wallanlagen gelegen. Im 16.Jahrhundert war Proßnitz ein Zentrum des tschechischen und hebräischen Buchdrucks in Mähren; zudem war hier eine Jeschiwa beheimat, weswegen die Stadt auch als „hannakisches Jerusalem” bezeichnet wurde. 1697 wurde Proßnitz - also auch das Ghetto - von einem verheerenden Brand heimgesucht.          

Vom 17. bis 19.Jahrhundert spielte die Proßnitzer Judenschaft eine sehr bedeutende Rolle: Juden dominierten den Textilhandel und waren zu beachtlichem Wohlstand gekommen. Veith Ehrenstamm war der erste Jude, der eine moderne mechanische Textilfabrik betrieb; 1801 erwarb er eine Wollfabrik in Proßnitz und produzierte hier mit ca. 3.000 Arbeitskräften Uniformen für die habsburgische Armee. Mitte des 19.Jahrhunderts gab es allein in der Stadt mehr als 130 jüdische Textilhändler. Um 1860 wurde von zwei jüdischen Unternehmern - Mayer und Isaak Mandel - die erste Fabrik für Konfektionskleidung in Europa gegründet.

Besonders zwischen den Zünften und der jüdischen Händlerschaft kam es im 17./18.Jahrhundert laufend zu Konflikten, deren Ursachen vor allem wirtschaftlicher, aber auch konfessioneller Natur waren. Durch detaillierte Regelwerke wurde versucht, diesen Auseinandersetzungen die Spitze zu nehmen - was aber nicht gelang. Die christliche Seite war allein daran interessiert, die Juden aus der Stadt zu vertreiben, was aber die Schutzherrschaft nicht zuließ. Deshalb versuchte der Magistrat u.a. durch höhere Abgaben, die wirtschaftliche Lage der Juden zu schwächen.

Eine Synagoge wurde erstmals im Jahre 1552 erwähnt; ein Nachfolgebau wurde 1676 eingeweiht. Der neue Tempel war 1904/1905 vom jüdischen Architekten Jakob Gartner im Jugendstil erbaut worden.

    alte u. neue Synagoge in Proßnitz (hist. Aufn.)         Innenraum der neuen Synagoge (hist. Aufn.)

In den 1840er Jahren gründeten Proßnitzer Juden eine private, von Juden und Christen gemeinsam besuchte Schule. Diese reformerischen Bestrebungen bezüglich der Erziehung jüdischer Kinder wurden insbesondere vom ersten deutschen Prediger von Mähren Löw Schwab und seinem Nachfolger Hirsch B. Fassel getragen. Allerdings führte das Zusammenrücken von Proßnitzer Judenschaft und deutscher Minderheit zu gewissen Spannungen mit der einheimischen tschechischen Bevölkerungsmehrheit.

Die erste Begräbnisstätte der Proßnitzer Juden soll bereits aus dem 17.Jahrhundert stammen. Ab ca. 1800 wurde dann ein neuer Friedhof genutzt, der später mit einer Mauer eingefriedet wurde. Bei seiner Schließung (1908) wurden auf einer Fläche von ca. 6.500 nahezu 2.000 Grabsteine gezählt. Während der NS-Zeit (1943) wurde der Friedhof zerstört. Noch in den Jahren zuvor hatte die Kommune den Versuch unternommen, das im bebauten Teil der Stadt liegende Gelände anzukaufen bzw. zu enteignen – wogegen sich die jüdische Gemeinde aus religiösen Gründen gewehrt hatte. Schließlich wurde nach Auflösung der Kultusgemeinde das Friedhofsareal „arisiert“ und ging ins Eigentum des Reiches über.

Gold hřbitov (2).jpg  aus: H. Gold, Die Juden und Judengemeinden Mährens in Vergangenheit und Gegenwart, S. 497

Seit 1908 bestand ein weiteres Beerdigungsgelände nahe des städtischen Friedhofs; auf diesem Areal findet man auch einige ältere Grabsteine, die hierher versetzt wurden.

Juden in Proßnitz:

    --- um 1585 ....................... ca.    30 jüdische Familien,

    --- um 1640 ...........................   143 Juden,

    --- 1670 ..............................    64 jüdische Familien,

    --- 1713 ..............................   318     “       “  (ca. 1.400 Pers.),

    --- 1798 .......................... ca. 1.460 Juden,*

    --- 1830 .......................... ca. 1.700   “  ,*

    --- 1847 .............................. 1.742   “  ,*

    --- 1869 .............................. 1.839   “  ,*       * gesamte Israelit. Gemeinde

    --- 1880 .......................... ca. 1.800   “  ,*

    --- 1890 ..............................   953   “  ,**     ** davon 797 in der jüd. pol. Gemeinde

    --- 1900 .............................. 1.555   “  ,**     ** davon 566 in der jüd. pol. Gemeinde

    --- 1921 .............................. 1.428   "  ,

    --- 1930 .......................... ca. 1.400   “   (ca. 4,2% d. Bevölk.),

    --- 1942 (Jan.) ................... ca. 1.600   “  ,

         (Dez.) .......................  sehr wenige (?).

Angaben aus: Theodor Haas, Juden in Mähren - Darstellung der Rechtsgeschichte und Statistik ..., S. 62

und                  Hugo Gold, Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden Mährens, S. 104

 

Von 1849 bis zu beginn des 20. Jahrhunderts besaß die Judengemeinde Proßnitz auch den Status einer unabhängigen politischen Gemeinde

Im Unterschied zu anderen jüdischen Gemeinden konnte Proßnitz seinen hohen jüdischen Bevölkerungsanteil halten; das war der Tatsache geschuldet, dass Juden einen erheblichen Anteil am Aufschwung der hiesigen Industrien hatten.

                  Bildergebnis für Proßnitz historischBildpostkarte, um 1910 (Abb. aus: "DAVID - Jüdische Kulturzeitschrift", No. 121)

Während des Ersten Weltkrieges und später während der sog. Sudetenkrise (1938) kamen jüdische Flüchtlinge nach Proßnitz, was kurzfristig die Zahl der Gemeindeangehörigen erhöhte. Ausgelöst durch die wirtschaftlich schlechte Lage war es 1890 und 1917 in der Stadt zu antisemitischen Ausschreitungen gekommen, die von Teilen der tschechischen Bevölkerung getragen wurden; sie richteten sich insbesondere gegen deutsch-sprachige Juden.

Mit der deutschen Besetzung im März 1939 begann auch der faschistische Terror gegen die jüdischen Bewohner. Im Sommer 1939 ließen die Besatzungsbehörden die Synagoge schließen. 1939/1940 gelang es noch einem Großteil der hiesigen Juden, die Stadt zu verlassen. Die hier verbliebenen und die aus der Region hierher verbrachten Personen wurden im Laufe des Jahres 1942 - via Theresienstadt - in die Konzentrations- und Vernichtungslager abtransportiert; die allermeisten - man geht dabei von ca. 1.300 Personen aus - wurden Opfer des Holocaust; nur ca. 80 Überlebende sollen nach Kriegsende in die Stadt zurückgekehrt sein.

 

Nach 1945 bildete sich wieder eine kleine Gemeinde heraus, die der Kultusgemeinde von Olmütz (Olomouc) angeschlossen war, aber auf Dauer nicht lebensfähig war. Seit 1966 zählen die wenigen Juden zur Religionsgemeinschaft von Brno/Brünn.

File:Jewish cemetery in Prostějov 8.jpgFile:Jewish cemetery in Prostějov 3.jpg

(neuer) jüdischer Friedhof in Prostějov (Aufn. P., 2014, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)

In der Zeremonienhalle des Friedhofs wurde eine Gedenktafel an die jüdischen NS-Opfer von Proßnitz angebracht; auch ein Denkmal erinnert an die Opfer des Faschismus.

Fast 2.000 Grabstätten zählte der alte jüdische Friedhof, auf dem seit 1908 keine Beerdigungen mehr stattfanden; während der Nazi-Zeit wurde er zerstört. Das Areal liegt heute mitten in einer Plattenbausiedlung und ist heute eine Grünanlage. Gegenwärtig gibt es einen Konflikt zwischen jüdischer Seite und der Kommune, den ehemaligen Friedhof wieder als solchen kenntlich zu machen und aufgefundene Grabsteine wieder an ihren angestammten Ort zu bringen.

Prostějov, starý židovský hřbitov, památník 01.jpgAreal des alten jüdischen Friedhofs (Aufn. Baránek, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

Anfang der 1990er Jahre wurden die meisten Häuser des ehemaligen jüdischen Ghettos abgerissen.

                                                         Ehemaliges jüdisches Viertel (Skizze ?) 

Seit 1970 dienen die Räumlichkeiten der alten Synagoge als Ort von Ausstellungen.

Old synagogue-Prostějov.jpg 

Ehem. (alte) Synagoge (Aufn. B. Skála, 2007  und  Ondřej Žváček, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY 2.5)

Die neue Synagoge ist Domizil der Hussitischen Kirche.

                                    ehem. (neues) Synagogengebäude (Aufn. Stadtverwaltung, aus: hrady.cz)

Die ersten elf sog. „Stolpersteine“ wurden 2019 vor den letzten Wohnsitzen verschleppter jüdischer Bewohner verlegt.

verlegt in der Erbenova Straße (Abb. aus: waymarking.com)

Bereits ein Jahr zuvor war am Hauptbahnhof der Stadt eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Holocaust-Opfer angebracht worden.

 1816 wurde Moritz Steinschneider in Proßnitz geboren; er gilt als Vater der modernen jüdischen Literatur. Er erhielt eine vielseitige Ausbildung (verschiedene Fremdsprachen). Seit 1859 war er als Dozent an der Veitel-Heine-Ephraimsche Lehranstalt in Berlin tätig, wo er fast ein halbes Jahrhundert lehrte. Sein lebenslanges Interesse galt der Untersuchung der Beziehungen zwischen der jüdischen und der allgemeinen Kultur, vor allem während der Zeit des Mittelalters. 

Aus dem mährischen Proßnitz stammte der jüdischePhilosoph Edmund Husserl, der 1859 als Sohn eines wohlhabenden Tuchhändlers geboren wurde. Nach seiner Konvertierung zum Protestantismus schlug er eine akademische Laufbahn ein. Husserl gilt als Begründer der Phänomenologie, mit deren Hilfe er die Philosophie als strenge Wissenschaft zu begründen versuchte. 1901 veröffentlichte Husserl sein epochales Werk „Logische Untersuchungen“. Nach seiner Lehrtätigkeit in Göttingen wurde er 1916 an die Universität nach Freiburg berufen; zu seinen Schülern zählte u.a. Martin Heidegger. Obwohl bereits 1928 emeritiert wurde er 1933 von den Nationalsozialisten „beurlaubt“. Edmund Husserl starb 1938. Sein viele tausend Seiten umfassender schriftlicher Nachlass konnte gerettet werden.

Max Fleischer architect.jpg Der Architekt Max Fleischer, der durch zahlreiche Synagogenbauten sich einen Namen machte, wurde im Jahre 1841 in Proßnitz geboren. Neben Synagogen im neogotischen Stile (u.a. in Wien, Budweis und Pribram) erbaute er auch jüdische Sakralbauten in anderen Stilrichtungen, so in Lundenburg, Krems und Nikolsburg. Auf dem Wiener Zentralfriedhof gestaltete Fleischer mehrere monumentale Grabmäler. Max Fleischer starb 1905 in Wien.

 

 

 

Weitere Informationen:

J. Freimann, Geschichte der Juden in Proßnitz, in: "Jahrbuch der jüdischen literarischen Gesellschaft", Frankfurt/M. o.J., Band XV, S. 35 ff.

Theodor Haas, Juden in Mähren - Darstellung der Rechtsgeschichte und Statistik unter besonderer Berücksichtigung des 19.Jahrhunderts, Brünn 1908

Leopold Goldschmied (Bearb.), Geschichte der Juden in Prossnitz, in: Hugo Gold (Hrg.), Die Juden und Judengemeinden Mährens in Vergangenheit und Gegenwart, Jüdischer Buch- und Kunstverlag, Brünn 1929, S. 491 - 504

Bernhard Heilig, Urkundliches über die Wirtschaftsgeschichte der Juden in Proßnitz, Brünn 1929

Hugo Gold, Die Juden und Judengemeinden Mährens in Vergangenheit und Gegenwart, Brünn 1929

Hugo Gold, Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden Mährens, Olamenu-Verlag, Tel Aviv 1974, S. 103 - 105

Wilma Iggers (Hrg.), Die Juden in Böhmen und Mähren. Ein historisches Lesebuch, München 1986

Jiri Fiedler, Jewish Sights in Bohemia and Moravia, Prag 1991, S. 151 - 153

Jaroslav Klenovský, Židovské mesto v Prostejove [Die jüdische Stadt in Proßnitz], Brno 1997

Elias Bohuslav, Zur Geschichte der Israelitengemeinde von Prostejov (Proßnitz), in: Zeitschrift „Husserl Studies“, Heft 10/1993, S. 237 – 248

The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 1028/1029

Heinz J. Herrmann, Mein Kampf gegen die Endlösung. Von Troppau und Proßnitz durch Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Dachau nach Israel. Tschechisch-jüdische Schicksale 1921 - 1948, Hrg. Erhard Roy Wiehn, Konstanz 2002

Rudolf Grulich, Proßnitz, das ‘Hannakische Jerusalem’ als Geburtsstadt deutscher Literaten und Gelehrter, in: "Sudetenland - Europäische Kulturzeitschrift" 44/2002, S. 338 - 346

The Jewish Community of Prostejov (Prossnitz), Hrg. Beit Hatfutsot – The Museum of the Jewish People, online abrufbar unter: dbs.bh.org.il/place/prostejov

Jewish Persons from Prostéjov (Proßnitz), Moravia, Czech Republic, online abrufbar unter: geni.com/projects/Jewish-Families-from-Prost%25C4%259Bjov-Prossnitz-Moravia-Czech-Republic/12456 (Anm. enhält Personendaten einst hier ansässiger jüdischer Familien)

The Old Jewish Cemetery in Prostějov - Der alte jüdische Friedhof in Prostějov, online abrufbar unter: prostejov.zidovskyhrbitov.cz/en/history/

Maria Dokoupilová (Bearb.), The demise of the second Jerwish Cemery of Prostějov - Der Tod des zweiten jüdischen Friedhofs in Prostjow, online abrufbar unter: prostejov.zidovskyhrbitov.cz/en/history/

Kilian Kirchgeßner (Red.), Böser Streit um Guten Ort, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 18.5.2017

Irene Moser, Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge von Prostějov – Diplomarbeit an der TU Wien, 2018

Prostejov – Die jüdische Geschichte, online abrufbar unter: hanackyjeruzalem-cz (in englischer und deutscher Übersetzung vorhanden)

Irene Moser (Red.), Die ehemalige Synagoge in Prostějov , in: "DAVID – Jüdische Kulturzeitschrift", Heft 121 (Juli 2019)

Martina Schneibergová (Red.), In Prostějov werden elf Stolpersteine gelegt, in: "Czech Radio" vom 26.8.2019 (abrufbar unter: deutsch.radio.cz/prostejov-werden-elf-stolpersteine-gelegt-8122374

Kateřina Čapková /Hillel J. Kieval (Hrg.), Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern, in: "Veröffentlichungen des Collegium Carolinum", Band 140, München 2020, u.a. S. 403