Rheinberg und Orsoy (Nordrhein-Westfalen)
Die am unteren Niederrhein gelegene Stadt Rheinberg mit derzeit ca. 31.000 Einwohnern liegt ca. 15 Kilometer südlich der Kreisstadt Wesel. Orsoy - mit derzeit ca. 4.200 Einwohnern - ist seit 1975 ein Stadtteil von Rheinberg (Kartenausschnitt 'Theatrum orbis terrarum, sive, Atlas novus', um 1650, aus: genwiki.genealogy.net und Kartenskizze 'Kreis Wesel', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0).
Angeblich sollen Juden bereits seit dem 13.Jahrhundert in den beiden niederrheinischen Ortschaften Rheinberg und Orsoy gelebt haben. Die Pestpogrome Mitte des 14.Jahrhunderts beendeten aber auch hier schlagartig jüdisches Leben; erst im 15.Jahrhundert lassen sich erneut wenige jüdische Familien in Rheinberg und Orsoy nachweisen. Vereinzelt sollen sich Juden bereits wenige Jahrzehnte nach den Pestpogromen zeitweilig wieder in Rheinberg aufgehalten haben. Auch in der Folgezeit war die Zahl der hier ansässigen Juden stets klein; als Schutzjuden unterstanden diese dem Kölner Erzbistum.
Zu den gemeindlichen Einrichtungen zählten neben den beiden, vermutlich im 16. Jahrhundert angelegten Friedhöfen auch ein um 1780 eingerichteter Betraum in einem zunächst gemieteten, wenig später angekauften Hause in der Gelderstraße in Rheinberg; allerdings konnte dieser erst nach längeren Auseinandersetzungen mit dem hiesigen Pfarrer und dem Großteil der christlichen Bevölkerung in Nutzung genommen werden. Die in Orsoy lebenden Juden erstellten gegen Ende der 1850er Jahre ein eigenes Synagogengebäude mit Schulhaus; doch blieb die hiesige Gemeinschaft bis in die 1890er Jahre der jüdischen Kultusgemeinde Rheinberg zugeordnet.
Ehem. Synagoge in Orsoy (Aufn. Malfoy 2006,aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Juden in Rheinberg:
--- um 1630 ........................ 3 jüdische Familien,
--- um 1750/60 ................. ca. 60 Juden,
--- 1816 ........................... 78 “ (in ca. 10 Familien),
--- 1858 ........................... 72 “ ,
--- 1875 ........................... 62 “ ,
--- 1880 ........................... 48 “ ,
--- 1900 ........................... 16 “ ,
--- 1924 ........................... 13 “ ,
--- 1936 ........................... 10 “ ,
--- 1940 ........................... keine.
Juden in Orsoy:
--- um 1750/60 ..................... 3 jüdische Familien,
--- 1816 ........................... 25 Juden,
--- 1858 ........................... 63 “ ,
--- 1875 ........................... 32 “ ,
--- 1900 ........................... 19 “ ,
--- um 1925 .................... ca. 15 “ ,
--- 1936 ........................... 5 “ ,
--- 1940 ........................... keine.
Angaben aus: Heinz Janssen, Erinnerungen an eine Schreckenszeit. Rheinberg 1933 - 1945 - 1948, S. 176
Ihren Lebensunterhalt bestritten die Rheinberger Juden gegen Mitte des 19.Jahrhunderts zumeist als Vieh- und Kleinhändler sowie als Metzger; einige Familien besaßen erheblichen Grundbesitz. Ab den 1860/1870er Jahre wanderten Familien vermehrt aus den beiden Orten ab; sie sahen hier keine ökonomischen Perspektiven mehr für sich. Ende des 19. Jahrhunderts bestand die Gemeinde nur noch aus wenigen Familien in beiden Orten. So schloss sich 1897 die Rheinberger Gemeinde - mitsamt den Juden aus Orsoy - der größeren Kultusgemeinde in Alpen an. Die beiden Synagogenräume in Rheinberg und Orsoy dienten bis 1938 nur noch gelegentlich zu gottesdienstlichen Zusammenkünften.
Zur Zeit der NS-Machtübernahme 1933 lebten nur noch sehr wenige jüdische Familien in Rheinberg bzw. Orsoy. Der jüdische Viehhändler Adolf Rothschild aus Rheinberg wurde im Zusammenhang der „Boykott-Aktion“ Anfang April 1933 „in Schutzhaft“ genommen. Die gleiche Familie war dann fünf Jahre später (im November 1938) erneut betroffen, als nach einer „spontanen-Kundgebung“ ihre Wohnung aufgebrochen und verwüstet wurde. Das Familienoberhaupt wurde gewaltsam aus dem Hause geschleppt und ins Ortsgefängnis verbracht; dort soll Adolf Rothschild wenige Tage später Selbstmord begangen haben.
Während der Novembertage von 1938 zerstörten SA-Angehörige auch die Inneneinrichtung der Synagoge in der Gelderstraße. Auch in Orsoy kam es zu antijüdischen Ausschreitungen; allerdings blieb das Synagogengebäude verschont, da es bereits zu diesem Zeitpunkt in „arischem“ Besitz war und als Wohnhaus diente. Zu Kriegsbeginn lebten noch 17 Bewohner jüdischen Glaubens in Rheinberg und Orsoy.
Das Gebäiude, in dem sich der Sakralraum befand, ist bis heute erhalten und wird als Geschäftshaus genutzt.
Gebäude, in dem sich der Sakralraum in Rheinberg befand (Aufn. C., 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0))
Ein Mahnmal oder ähnliches vermisst man bisher in Rheinsberg.
2009 wurden zehn sog. „Stolpersteine“ in der Gelderstraße verlegt; ein Jahr später kamen weitere Steine in Orsoy dazu.
Stolpersteine für Fam. Rothschild, Gelderstraße (Aufn. C., 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
und für Fam. Friedemann in Orsoy, Egerstraße (Aufn. rp-online.de)
Im Rheinberger Ortsteil Orsoy (am Kuhdyck) befindet sich der umfriedete jüdische Friedhof (Lohmühle), dessen Ursprünge angeblich auf einen mittelalterlichen Begräbnisplatz zurückgehen sollen. Auf der gepflegten Begräbnisanlage mit insgesamt ca. 15 Grabsteinen stammen die ältesten aus dem 18.Jahrhundert.
Jüdischer Friedhof in Orsoy (Aufn. Steffen Schmitz, 2015, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Im Rheinberger Ortsteil Borth wurde jüngst eine Gedenktafel enthüllt, die an das Ehepaar Eva und Johannes de Lattré erinnert. Mit dem Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ wurden beide bereits 1878 von der Gedenkstätte Yad Vashem (Jeerusalem) ausgezeichnet, weil sie während der NS-Zeit in ihrem Hause (Wallacher Straße) Juden versteckt hatten. Seit 2024 erinnert nun eine kleine Tafel am Hause Wallacher Straße 5 an das mutige Ehepaar de Lattré.
[vgl. Alpen (Nordrhein-Westfalen)]
Weitere Informationen:
Dieter Kastner/Gerhard Köhnen, Orsoy. Geschichte einer kleinen Stadt, Duisburg 1981
Bärbel Otten, Die Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Rheinberg. Von den Anfängen bis in die Zeit des Nationalsozialismus, (unveröffentlichte) Diplomarbeit, Manuskriptdruck Stadt Rheinberg, 1986 (online abrufbar)
Heinz Janssen, Erinnerungen an eine Schreckenszeit. Rheinberg 1933 - 1945 - 1948, in: "Schriften der Stadt Rheinberg zur Geschichte und Heimatkunde", Rheinberg 1988, Band 1, S. 173 ff.
Heinz Janssen, Die jüdischen Familien in Rheinberg und Orsoy und ihr Schicksal im 3.Reich, Hrg. Stadt Rheinberg, Rheinberg 1990
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 420/421 und S. 456/457
Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Regierungsbezirk Düsseldorf, J.P. Bachem Verlag, Köln 2000, S. 601 - 607
Claudia Pohl (Bearb.), jüdischer Friedhof Orsoy, in: Jüdische Friedhöfe in Westfalen – Übersicht über alle Projekte zur Dokumentation auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland - Nordrhein-Westfalen. o.J.
Jessica Rösner (Red.), Rheinberg: Zeichen der Erinnerung, in: rp-online.de vom 1.11.2009
Sabine Hannemann (Red.), Rheinberg: Acht Stolpersteine für Orsoy, in: rp-online.de vom 12.11.2010
N.N. (Red.), Rheinberg: Film über die Verlegung der Stolpersteine, in: rp-online.de vom 20.1.2015
Auflistung der in Rheinberg verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Rheinberg