Rinteln/Weser (Niedersachsen)

 Jüdische Gemeinde - Rodenberg (Niedersachsen) Rinteln/Weser mit derzeit ca. 25.500 Einwohnern ist eine Kleinstadt im Weserbergland im Süden des Landkreises Schaumburg – ca. 45 Kilometer nordöstlich von Bielefeld bzw. nordwestlich von Hameln gelegen (hist. Karte von Lippe mit Rinteln am oberen Kartenrand, aus: wikiwand.com/de/Landratsamt_Blomberg  und  Kartenskizze 'Landkreis Schaumburg', aus: ortsdienst.de/schaumburg).

 

Erste Spuren jüdischen Lebens in Rinteln lassen sich zu Beginn des 15.Jahrhunderts nachweisen. Über Herkunft und Lebensverhältnisse der dortigen Juden lassen sich keine gesicherten Aussagen treffen; vermutlich waren sie aber als Händler und Geldverleiher oder auch als Geldvermittler für die Schaumburger Grafen tätig. Erst in den Ratsprotokollen der Stadt Rinteln aus dem Jahre 1587 lassen sich gesicherte Angaben über die wenigen im Orte ansässigen jüdischen Familien finden; sie bestritten ihren Lebensunterhalt vor allem im Geldverleih, aber auch im Viehhandel und im Metzgerhandwerk.

Rinteln um 1650 - Stich M. Merian (aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg war von wirtschaftlich motivierten Konflikten zwischen christlichen Kaufleuten und Handwerkern auf der einen Seite und jüdischen Händlern auf der anderen Seite geprägt; Juden wurden als „Diebe und Hehler“ verunglimpft, um sie aus der Stadt zu vertreiben. Von den betroffenen wurden zahlreiche Prozesse angestrengt, um die Beschuldigungen zurückzuweisen und ihre Forderungen gegenüber Rintelner Bürgern einzutreiben. Der Stadtrat Rintelns senkte schließlich die Zahl der Juden, indem deren Schutzbriefe nicht mehr verlängert wurden. In den 1830er Jahren erwarben die meisten der in Rinteln lebenden jüdischen Bewohner das Bürgerrecht, durften aber dennoch nicht Mitglieder der Zünfte und Gilden werden. Die Geschäftsbeziehungen der Rintelner Juden, z.B. im Edelmetallhandel, reichten über den gesamten mitteleuropäischen Raum. Im Laufe der Zeit konzentrierten sich die Juden Rintelns auf gewerbliche Berufe; mit der Aufhebung der Berufsschranken setzte ihr wirtschaftlicher Aufstieg ein.

Eine private jüdische Religionsschule muss es bereits im 17.Jahrhundert in Rinteln gegeben haben; Mitte des 19.Jahrhunderts war die hiesige jüdische Schule die größte im Kreise Grafschaft Schaumburg; in ihr wurden damals 23 Kinder unterrichtet; existiert hat diese Schule bis gegen Ende des 19.Jahrhunderts.

Gottesdienste wurden bis Anfang des 20.Jahrhundert in einem Privathaus abgehalten. Eine Synagoge als eigenständigen Kultbau hat es in Rinteln zu keiner Zeit gegeben. 1917 erwarb die Gemeinde ein Grundstück in der Bäckerstraße, in dessen Hintergebäude ein Betsaal eingerichtet wurde; dieser wurde auch als solcher weiter genutzt, als das Haus wenige Jahre später einen anderen Besitzer gefunden hatte. Als 1936 der Mietvertrag gekündigt wurde, fanden Gottesdienste im Hause der Gebrüder Lehmann in der Bäckerstraße 12 statt.

Der erste Hinweis auf einen jüdischen Begräbnisplatz in Rinteln - vermutlich vor dem östlichen Stadttor gelegen - stammt aus dem Jahre 1590; später wurde der Friedhof an die heutige Ostertorstraße verlegt.

Juden in Rinteln:

         --- 1587 ...........................   5 jüdische Familien,

    --- 1601 ...........................   6     “       “    (18 Pers.),

    --- 1686 ...........................   3     “       “    (26 Pers.),

    --- 1753 ........................... eine    “       “  (n),

    --- 1809 ...........................   8     “       “    ,

    --- 1827 ...........................  42 Juden,

    --- 1861 ...........................  57   “  ,

    --- 1887 ...........................  64   “  ,

    --- 1900 ...........................  79   “  ,

    --- 1926 ........................... 100   “  ,*    *andere Angabe: 53 Pers.

    --- 1933 (Juni) ....................  73   “  ,

    --- 1935 ...........................  54   “  ,

    --- 1936 ...........................  64   “  ,

    --- 1938 ...........................  44   “  ,

    --- 1940 (Nov.) ....................  29   “  ,

    --- 1942 (Jan.) ....................  27   “  ,

    --- 1943 ...........................   4   “  .*    * in ‘Mischehe’ lebende Juden

Angaben aus: Kurt Klaus, Rintelns Juden - Geschichte der israelitischen Gemeinde, S. 197 - 199

Stadtansicht um 1845 - Stahlstich (aus: commons.wikimedia.org, CCO)

 

Gegen Ende des 19.Jahrhunderts waren Rintelner Juden weitestgehend in das gesellschaftliche Leben der Stadt integriert; dies beweist die Tatsache, dass sie aktive Mitglieder verschiedener lokaler Vereine waren. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg zogen sie sich aber meist aus den Vereinsaktivitäten zurück, da diese nun im erheblichen Maße politisiert wurden.

Ende des 19.Jahrhundert äußerte sich der Antisemitismus in Rinteln in dem hier 1897 gegründeten rechtskonservativen Bürgerverein; schon ein Jahrzehnt zuvor war in der Stadt ein ‚Ableger’ des Kasseler antisemitischen Frauenvereins „Rosenbund” gegründet worden. Auch ein 1893 gegründeter „Antisemitischer Jugendbund” warb hier um Mitglieder. Zunehmend tauchten in der Stadt antisemitische Flugblätter auf; auch rechtsnationale Kundgebungen verunsicherten in zunehmendem Maße die hiesigen jüdischen Einwohner. Dies konnten auch sozialdemokratische und liberale Parteigänger nicht verhindern, die versuchten, die Juden verbal zu verteidigen. Ab Mitte der 1920er Jahre waren dann zunehmend Nationalsozialisten für antisemitische Schmierereien verantwortlich. Ab 1929 kam es unter der Führung der SA-Angehörigen Wetzel und Winkelmann zu offenem Straßenterror. Unter dem Absingen antijüdischer Lieder wurden jüdische Geschäfte belagert und Käufer am Betreten der Läden gehindert; dabei wurden teilweise sogar einzelne Kunden verprügelt.

Nach der NS-Machtübernahme fand auch in Rinteln der organisierte Boykott der jüdischen Geschäfte statt; bereits zwei Tage zuvor hatten die jüdischen Geschäftsinhaber ihre Läden geschlossen. Trotzdem beschmierten SA-Männer die Schaufensterscheiben und postierten sich mit Transparenten vor den Geschäften.

                 Die Lokalzeitung „Die Schaumburg” vom 31.3.1933 berichtete:

Auch in Rinteln wirkungsvoller Boykott

Nachdem über die jüdischen Geschäfte laut Anordnung der Reichsleitung der Boykott verhängt worden ist, schlossen sämtliche jüdischen Geschäfte am Donnerstag bzw. Freitag ihre Läden. SA-Posten sorgten dafür, daß in diesen Geschäften nicht gekauft wurde, auch hat ein Teil dieser Hebräer dem Personal vorsorglich gekündigt. Nun wollen wir mal abwarten, wer es länger aushält, die jüdische Welthydra mit ihrem Lügenmaul über deutsche Greueltaten oder das deutsche Volk, das willens ist, auch mit dem jüdischen Volk auskömmlich zu leben, daß es sich aber verbittet, von ihm tyrannisiert zu werden. Gäste eines Volkes haben sich wie Gäste zu benehmen.

In den folgenden Monaten kam es immer wieder zu Provokationen gegenüber Juden. Zudem wurde zu Denunziationen „arischer“ Bürger aufgerufen, die weiterhin Kontakte zu Juden unterhielten.

                 Aus einem (internen) Aufruf der NSDAP-Kreisleitung von 1933:

Zur Aufklärung

Ich bitte jeden Parteigenossen und jede Parteigenossin in der Grafschaft Schaumburg mir Personen namhaft zu machen, die in jüdischen Geschäften kaufen, und diejenigen Personen, die mit Juden handeln. Ich gebrauche diese Unterlagen zur Ausarbeitung für Propaganda.

Ernst Koch, Kreispropagandaleiter Rinteln, Kirchplatz

 

Auf Initiative des NSDAP-Ortsgruppenleiters und stellvertretenden Bürgermeisters Aldag verschärfte der Stadtrat die antijüdischen Maßnahmen; an den Ortseingängen wurden außerdem Schilder mit der Aufschrift „Der Handel mit Juden ist verboten!” aufgestellt. Im gleichen Jahre kam es in Rinteln zu einer „spontanen Aktion“, in der eine Menschenmenge laut grölend durch die Straßen zog und versuchte, Juden aus ihren Häusern zu holen. Mit dieser von der NSDAP-Ortsgruppe gesteuerten „Aktion“ sollten wohl jüdische Einwohner provoziert werden, um einen Vorwand für ihre Inhaftierung zu haben.

Der Novemberpogrom 1938 fand in Rinteln nur in wenigen Straßen der Altstadt statt und wurde von den meisten Einwohnern zunächst kaum bemerkt; vier jüdische Geschäfte wurden demoliert und geplündert, Waren teilweise mit LKW abtransportiert. Der Betraum in der Bäckerstraße 12 wurde "leergeräumt"; Kultgegenstände wurden aus dem Fenster geworfen und anschließend verbrannt. Die wenigen jüdischen Männer wurden am Morgen des 10.Novembers verhaftet, in der Weserstraße zusammengetrieben und sieben von ihnen anschließend ins KZ Buchenwald eingeliefert.

                 Die „Schaumburger Zeitung” berichtete am 11.11.1938:

Die Vergeltungsaktion in Rinteln

Als am Abend des 9.November die Nachricht vom Tode des in Paris von feiger jüdischer Meuchlerhand niedergeschossenen Gesandtschaftsrates vom Rath bekannt wurde, wuchs auch in Rinteln und anderen Orten des Kreises die Empörung gegen das glücklicherweise nur schwach vertretene jüdische Element und machte sich in Vergeltungsaktionen Luft. Bald nach Mitternacht wurden in jüdischen Häusern einzelne Fensterscheiben eingeworfen und gegen Morgen auch einige Schaufenster jüdischer Geschäfte zertrümmert. Jüdische Schriften, die im Versammlungsraum gefunden waren, wurden auf dem Kirchplatz öffentlich verbrannt. Eine Anzahl Juden wurde in Schutzhaft genommen und ihre Häuser durch Posten bewacht ... Die Bevölkerung hat jetzt aber bestimmt genug von den Juden und will nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Das beweisen auch die Demonstrationen in den anderen, an Zahl geringen Orten des Kreises, wo sich noch Juden aufhalten. Auch hier kam es zu Vergeltungsaktionen.

 

Bis Kriegsbeginn verließen zahlreiche jüdische Familien ihre Heimatstadt Rinteln und verzogen meist in deutsche Großstädte, danach emigrierten sie zunehmend ins Ausland. Nach 1939 engten die NS-Behörden die Bewegungsfreiheit der Juden Rintelns immer mehr ein; ab Januar 1941 wurden die wenigen noch hier lebenden Juden in den beiden „Judenhäusern“ in der Dauestr. 1 und Bäckerstr. 53 zusammengelegt. Bis Ende 1941 waren etwa zehn jüdische Bewohner zwangsweise zum Arbeitseinsatz abgestellt. Die letzten Juden Rintelns wurden Ende März und Ende Juli 1942 deportiert; über die "Sammelstelle" Hannover-Ahlem wurden sie entweder nach Trawniki (bei Warschau) oder nach Theresienstadt verschleppt. Nur vier „in Mischehe” verheiratete Personen blieben von einer Deportation verschont und überlebten. Von den 25 Rintelner Juden, die 1942 deportiert worden, sind nachweislich 17 in NS-Lagern ermordet worden; fünf gelten als „verschollen“.

 

Erst 1988 wurde eine Gedenktafel in der Bäckerstraße angebracht, die auf die ehemaligen jüdischen Bürgern von Rinteln hinweist; die Inschrift lautet:

Der Herr schafft Recht denen, die Gewalt leiden (Psalm 148.7)

Unsere ehemaligen jüdischen Mitbürger, die ein Opfer der Gewaltherrschaft wurden,

mahnen uns zum Frieden in Gerechtigkeit.

In dieser Straße war bis 1938 die jüdische Synagoge.

2013 wurden die ersten 15 sog. „Stolpersteine“ an vier ehemaligen Wohnstätten jüdischer Bewohner Rintelns verlegt; in einer weiteren Verlegeaktion (Frühjahr 2017) wurden weitere 17 Steine an sechs Standorten in das Gehwegpflaster eingelassen. Derzeit zählt man in der Stadt insgesamt 32 Steine (Stand 2022).

G. Demnig bei seiner Arbeit (Aufn. Ernestinum Rinteln, 2013) 

File:Stolperstein Rinteln Bäckerstraße 53 Vera Heinemann.jpgFile:Stolperstein Rinteln Bäckerstraße 53 Henry Heinemann.jpgFile:Stolperstein Rinteln Bäckerstraße 53 Eva Heinemann.jpgFile:Stolperstein Rinteln Bäckerstraße 53 Hermann Heinemann.jpg verlegt in der Bäckerstraße

in der Klosterstraße/am Markt File:Stolperstein Rinteln Klosterstraße 19 Julius Sundheimer.jpgFile:Stolperstein Rinteln Markt 1 Henriette Leeser.jpgFile:Stolperstein Rinteln Markt 1 Ludwig Leeser.jpg (Abb. Gmbo, 2013, aus: wikimedia.org, CCO)

Stolperstein für Ludwig LeeserStolperstein für Henriette Leeser geb.SamuelStolperstein für Paul LeeserStolperstein für Werner Leeser am Markt

 

Auf dem jüdischen Friedhof an der Ostertorstraße - er blieb während der NS-Zeit von Zerstörung bewahrt - findet man heute noch ca. 55 Grabsteine. Ende der 1960er Jahre wurde das Begräbnisgelände schwer geschändet, als 25 Grabmale mit Hakenkreuzen beschmiert wurden.

Rinteln-JüdischerFriedhof1-Bubo.JPGEingangspforte zum jüdischen Friedhof (Aufn. B., 2018, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)

 Zwei Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Rinteln.JPG

Einzelne Grabsteine (Aufn. Ingo C., 2013, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)

 

 

Weitere Informationen:

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Niedersachsen II (Reg.bez. Hannover und Weser-Ems), Pahl-Rugenstein Verlag GmbH, Köln 1986, S. 96 f.

Kurt Klaus, Kesseltreiben gegen die Rintelner Juden ..., aus: ders. (Hrg.), Rinteln unterm Hakenkreuz, Rinteln 1989, S. 91 - 117

Kurt Klaus, Rintelns Juden - Geschichte der israelitischen Gemeinde, Selbstverlag, Porta-Westfalica/Eisbergen 1993

Albert Marx, Geschichte der Juden in Niedersachsen, Fackelträger Verlag GmbH, Hannover 1995

Andreas Michelbrink (Bearb.), Rinteln, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 2, S. 1309 - 1315

N.N. (Red.), Stolpersteine gegen das Vergessen, in: „Schaumburger Nachrichten“ vom 13.2.2012

Gymnasium Ernestinum Rinteln (Bearb.), Stolpersteinprojekt: Erinnerung an Rintelner Opfer des Nationalsozialismus, online abrufbar unter: gym-rinteln.de

Liste der Erinnerung an die Rinteler Juden, online abrufbar unter: gym-rinteln.de

Förderverein ehemalige Synagoge Stadthagen e.V. (Bearb.), Hermann, Edith, Eva & Vera Heinemann, online abrufbar unter: synagoge-stadthagen.de/bildungsarbeit/verfolgte-im-nationalsozialismus/  (Anm. aus der Wanderausstellung "Entrechtet - vertrieben - ermordet. Verfolgte des Nataionalsozialismus in Schaumburg")

Auflistung der in Rinteln verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Rinteln  bzw. commons.wikimedia.org/wiki/Category:Stolpersteine_in_Rinteln?uselang=de

Cornelia Kurth (Red.), Neue Stolpersteine für Rinteln. Aus Nummern wieder Namen machen, aus: „Schaumburger Zeitung/Landeszeitung“ vom 24.3.2017

Sandra Castrup (Red.), Ausstellung im Stadtarchiv ist jüdischem Leben auf der Spur, in: „Lippische Landeszeitung“ vom 30.1.2022