Schneidemühl (Pommern)

  Schneidemühl (poln. Pila), das 1380 sein erstes Stadtprivileg erhielt, fiel im Gefolge der 1. Teilung Polens (1772) an Preußen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und  Kartenskizze 'Polen' mit Pila rot markiert, K. 2005, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0). Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Stadt fast völlig zerstört und kam zunächst unter polnische Verwaltung; die deutschen Bewohner wurden vertrieben. Heute ist Pila eine Stadt mit derzeit ca. 73.000 Einwohnern in der polnischen Woiwodschaft Poznan.

 

Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts kann man von einer „geordneten“ jüdischen Gemeinde in Schneidemühl sprechen. Allerdings hatten sich bereits in den Jahrzehnten zuvor Juden in Schneidemühl aufgehalten.

Mehrere Feuersbrünste zerstörten im 17.Jahrhundert weite Teile der Stadt; eine Folge war, dass Juden nicht mehr im neu erbauten Stadtkern, sondern in einem separaten Viertel in der Vorstadt angesiedelt wurden. Diese „Judenstadt“, die auch über eine Synagoge verfügte, wurde von einem Graben begrenzt; so sollte jede weitere Siedlungsausdehnung verhindern werden. Auch in ihren Handelstätigkeiten wurden die Juden Schneidemühls eingeengt; doch unter König Ladislaus IV. wurden ihnen Privilegien eingeräumt: So durften nur sie Wolle einkaufen, welche sie gewinnbringend an die hiesigen Tuchmacher zur Verarbeitung weitergaben; später galt dies auch für den Lederhandel. Unter Friedrich dem Großen verloren die jüdischen Händler aber ihr Wollmonopol. Als um 1655 polnische und schwedische Soldateska die Stadt überfiel, hatten besonders die Juden zu leiden; zahlreiche jüdische Bewohner wurden umgebracht, ihr Eigentum geraubt und die Kultgegenstände der Synagoge vernichtet. Den Überlebenden gelang es, in nahe Orte zu fliehen. Die jüdische Gemeinde erholte sich nur langsam, zumal auch die christliche Bevölkerung Front gegen die hiesigen Juden machte. Nur dank eines königlichen Schutzbriefes von 1670 durften sie weiter im Ort leben. Doch bereits drei Jahrzehnte später, als erneut Krieg und Seuchen die Bevölkerung Schneidemühls heimsuchten, stand die Gemeinde vor der völligen Auflösung, das Rabbinat und die Gemeinde verfielen. Erst etwa 50 Jahre später etablierte sich wieder eine funktionsfähige israelitische Gemeinde. Eine Elementarschule wurde in den 1830er Jahren gegründet.

Bei einem Großbrand 1834 verloren viele jüdische Familien ihr Hab und Gut verloren; auch die Synagoge wurde mit allen Kultgegenständen ein Raub der Flammen. Durch Spenden anderer jüdischer Gemeinden, besonders der Breslauer Kultusgemeinde, lebte in der Folgezeit das jüdische Gemeindeleben in Schneidemühl wieder auf. Ein Synagogenneubau wurde im Jahre 1841 am Wilhelmsplatz eingeweiht.

Synagoge links (Postkarte um 1915, aus: uncoveringjewishheritage.wordpress.com)

Synagoge in Schneidemühl (um 1920)Synagoge (Postkarte um 1920, aus: wikiwand.com)     

Ein jüdischer Friedhof wurde vermutlich Ende der 1620er Jahre angelegt; eine deutliche Vergrößerung des Begräbnisareals geschah um 1850.

Mitte des 19.Jahrhunderts lebten in Schneidemühl etwa 1.000 Juden; die Gemeinde erreichte damals ihren zahlenmäßigen Höchststand. Von 1904 bis 1913 lenkte Dr. Julius Lewkowitz die Geschicke der Gemeinde; sein Nachfolger Dr. Israel Nobel amtierte ein Jahrzehnt bis 1924; in den Jahren 1926 bis 1934 führte Dr. Arthur Rosenzweig die Gemeinde; ihm folgten - nur für wenige Jahre - Dr. Alfred Jospe und Dr. F.David Plotke.

Arthur Rosenschweig (geb. 1883 in Teplitz/Teplice) kam nach dem Studium an der Berliner Universität u. der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums im Jahre 1907 nach Schneidemühl, wo er kurzzeitig das Rabbineramt inne hatte. Von 1909 bis 1919 hatte er diese Aufgabe in Aussig übernommen. Nach einer Tätigkeit in Stuutgart kam er nach Schneidemühl zurück; hier amtierte er von 1926 bis 1935. Bis zu seinem frühen Tode (1936) war er in Prag an der Spanischen Synagoge tätig.

Schneidemühl war seit Ende der 1920er Jahre Sitz eines Bezirksrabbinats, dem 14 Gemeinden mit insgesamt etwa 1.400 Mitgliedern angeschlossen waren.

Juden in Schneidemühl:

    --- um 1570 ........................     5 jüdische Haushaltungen,

    --- 1655 ....................... ca.    80     “           “     ,

--- 1775 ...........................   318 Juden (knapp 30% d. Bevölk.),

    --- 1804 ...........................   483   “  ,

    --- 1834 ...........................   648   “  ,*                        * andere Angabe: ca. 400 Pers.

    --- 1858 ........................... 1.039   “  ,

    --- 1880 ...........................   805   “  ,

    --- 1890 ....................... ca.   800   “  ,

    --- 1905 ....................... ca.   650   “  ,

    --- 1925 ....................... ca.   750   “   (ca. 2% d. Bevölk.)*,    * andere Angabe: ca. 590 Pers.

    --- 1933 ....................... ca.   600   “  ,*                        * andere Angabe: ca. 490 Pers.

    --- 1937 ....................... ca.   260   “  ,

    --- 1939 (Mai) .....................   116   “  ,

    --- 1940 (Dez.) ....................   keine.

Angaben aus: A.Heppner/J.Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden .., S. 924

und                 The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), S. 1149

http://static1.akpool.de/images/cards/57/575920.jpg Stadt Schneidemühl (gelaufene hist. Postkarte, um 1930)

 

Die Geschäfts- u. Wohnsitze der jüdischen Familien Schneidemühls konzentrierten sich am Neuen Markt, in der Mühlen-, Friedrich-, Posener- und Wilhelmstraße.

Über die Geschäfte/Unternehmen, die im Besitz jüdischer Familien waren, erhält man detaillierte Informationen (mit zahlreichen Geschäfts- u. Werbeanzeigen) unter: kehilalinks.jewishgen.org/Pila/adverts.html

Um 1900 verstärkte sich die antisemitische Agitation in der Stadt.

Schneidemühl, 10.Januar. Die von dem Fleischermeister Hoffmann geleitete antisemitische Agitation und die im Dezember von den Antisemiten Bruhn und Bindewald gehaltenen aufreizenden Vorträge haben bereits zu Ausschreitungen geführt, welche selbst die ‘Staatsbürger-Zeitung’ aus naheliegenden Gründen als tief bedauerlich bezeichnet. In den frühen Morgenstunden des Neujahrstages sind 16 Fensterscheiben der Synagoge zertrümmert worden. Die unbekannt gebliebenen Thäter haben von einem in der Nähe befindlichen Neubau Mauersteine entnommen und damit das Gotteshaus bombardiert. Ueber 20 Steine fanden sich im Innern der Synagoge.

(aus einem Artikel "Im Deutschen Reich" , Jan. 1901)

Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus wanderten immer mehr Juden aus Schneidemühl ab.

Während der „Kristallnacht“ im November 1938 wurde die Synagoge am Wilhelmsplatz in Brand gesetzt und zerstört, mehr als 60 jüdische Geschäfte und zahlreiche Wohnungen demoliert und geplündert. Männer wurden verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Der jüdische Friedhof wurde 1939/1940 völlig zerstört und an dessen Stelle eine Grünanlage angelegt. Gegen Kriegsbeginn hatten die allermeisten Juden die Stadt bereits verlassen.

Die endgültige Zerstörung der hiesigen jüdischen Gemeinde setzte am 21 Februar 1940 ein, als hier – und in fast ganz Pommern - eine „Aktion“ stattfand, bei der mehr als 500 Juden aus Gemeinden der Region nach Schneidemühl verschleppt wurden; deren vorläufige „Unterbringung“ soll in der Friedhofs-Leichenhalle, im Gemeindehaus und im Bürgergarten-Restaurant („Straubel's Tivoli“) erfolgt sein, bevor man sie in verschiedene Orte/Lager innerhalb des Reichsgebietes schickte. Während es noch wenigen gelang zu emigrieren, wurden die meisten später in „Lager des Ostens“ deportiert, wo sie ermordet wurden. Mindestens 55 Juden aus Schneidemühl wurden Opfer der Shoa.

 

Auf dem Areal des ehemaligen jüdischen Friedhofs – es diente lange Jahre als militärisches Übungsgelände und ist heute Sitz einer Polizei-Akademie – wurde 2015 ein steinernes Mahnmal in Form eines David-Sterns erstellt - ein Werk des Posener Künstlers Janusz Marciniak. Eine in drei Sprachen abgefasste Inschrift mahnt die Überlebenden, die Opfer des Holocaust nicht zu vergessen.

                              https://uncoveringjewishheritage.files.wordpress.com/2015/06/pomnik-w-pile_1.jpg Mahnmal in Pila (Aufn. Marysia Galbraith, 2015)

 

 

 

In Chodziesen (poln. Chodziez) – einer Kleinstadt südöstlich von Schneidemühl, ab 1879 dann Kolmar/Posen genannt – ist bereits im 17.Jahrhundert jüdische Ansiedlung nachweisbar; denn aus dem Jahre 1688 ist ein Privileg erhalten geblieben, das den hiesigen Juden gewisse Rechte einräumte. Aus dieser Frühzeit stammt auch der dortige Friedhof. Die jüdischen Zuwanderer siedelten anfänglich auf einem zwischen Burg/Schloss und Stadtsiedlung befindlichen Areal, das dann zu Beginn des 18.Jahrhunderts in die Stadt eingebunden wurde. Tuch- und Textilhandel waren wesentliche Lebensgrundlage der hier lebenden Juden.

Die ersten beiden Bethäuser fielen Stadtbränden (1713 und 1835) zum Opfer. Aus den 1830er Jahren stammte der letzte Synagogenbau, der 1941 von den Nationalsozialisten zerstört wurde.

 

Synagoge von Chodziesen/Kolmar (hist. Aufn., um 1900/1910)

Juden in Chodziesen/Kolmar:

--- 1799 .........................   930 Juden (ca. 37% d. Bevölk.),

--- 1809 ..................... ca. 1.000   “  ,

--- 1816 .........................   724   “  ,

--- 1838 ......................... 1.062   “  ,

--- 1854 ......................... 1.059   “   (ca. 32% d. Bevölk.),

--- 1871 .........................   795   “   (ca. 24% d. Bevölk.),

--- 1880 .........................   665   “   (ca. 21% d. Bevölk.),

--- 1900 .........................   351   “   (ca. 7% d. Bevölk.),

--- 1910 .........................   197   “   (ca. 3% d. Bevölk.),

--- 1921 .........................    27   “  ,

--- 1934 ..................... ca.    60   “  .

Angaben aus: Chodziez, in: sztetl.org.pl

In den ersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts lebten im Ort mehr als 1.000 jüdische Bewohner, die damals ca. ein Drittel der Gesamtbevölkerung stellten; in den 1870er Jahren waren es immerhin noch ca. 800 Personen; doch forcierte die Emigration zahlreicher Familien nach Nordamerika den Bevölkerungsrückgang. Anfang der 1920er Jahre lebten dann kaum noch 100 Personen mosaischen Glaubens in der Stadt. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges waren nur noch ca. 20 Juden ansässig, die alsbald von hier deportiert wurden (und vermutlich in Treblinka ermordet wurden). Synagoge und Friedhof wurden 1940/1941 zerstört.

Spuren des ehemaligen jüdischen Friedhofs sind heute kaum noch vorhanden.

Am ehemaligen Standort der Synagoge wurde 2012 ein Gedenkstein aufgestellt, der zweisprachig an das jüdische Gotteshaus mit den folgenden Worten erinnert:

An dieser Stelle stand bis 1941 die Synagoge der jüdischen Gemeinde.

Ihre Mitglieder und ihr Gotteshaus wurden Opfer des Nationalsozialismus.

Uns und künftigen Generationen zum Gedenken und zur Mahnung gewidmet.

 Gedenkstein (Aufn. Kajtek, 2014)

Anm.: Zeitgleich enthüllten Vertreter des Freundeskreises Kolmar sowie der Heimatkreisgemeinschaft Kolmar zudem einen Gedenkstein am früheren Standort der evangelischen Kirche in Kolmar.

[vgl. Chodziesen - Kolmar (Posen)]

 

 

 

In der im Netzekreis liegenden Kleinstadt Schönlanke, dem heutigen poln. Trzcianka, gab es auch eine jüdische Gemeinde, die um 1780 mit etwa 280 Personen ein Achtel der dortigen Gesamtbevölkerung ausmachte. Drei Jahrzehnte später lebten hier etwa 600 jüdische Bewohner, das entsprach etwa 20% der Gesamtbevölkerung. 

[vgl. Schönlanke (Westpreußen)]

 

 

 

Weitere Informationen:

A.Heppner/J.Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden in den Posener Landen, Koschmin - Bromberg 1909, S. 922 - 926

Karl Boese, Geschichte der Stadt Schneidemühl, in: "Ostdeutsche Beiträge aus dem Göttinger Arbeitskreis", Band 30, Würzburg 1965, S. 105 ff.

Heimatkreis Schneidemühl e.V. (Hrg.), Geschichte der Stadt Schneidemühl, o.O. o.J.

The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), New York University Press, Washington Square, New York 2001, Vol. 1, S. 254 (Chodziez) und Vol. 2, S. 1149/1150 (Schneidemühl)

Andrew Gray, Denkmäler und Relikte der jüdischen Kultur in der Region Pila, Maschinenmanuskript o.J.

Peter Simonstein-Cullmann, History of the Jewish community of Schneidemühl. 1641 to the Holocaust, Bergenfield (NJ/USA) 2006

Pila und Chodziez, in: sztetl.org.pl

Krzysztof Swiniarski, The jewish cemetery of Pila, in: kirkuty.xip.pl

Abtransport aus Schneidemühl, online abrufbar unter: statistik-des-holocaust.de

The old Jewish cemetery of Schneidemühl (mit hist. Aufn. einzelner Grabstätten), online anrufbar unter: http://kehilalinks.jewishgen.org/Pila/cemetry.html 

Peter Simonstein-Cullmann, Gedenkbuch der ehemaligen jüdischen Gemeinde Schneidemühl (in Vorbereitung)