Schwerin/Warthe (Posen/Westpreußen)
Schwerin wurde um 1300 gegründet und fiel in Folge der 2.Teilung Polens (1793) an Preußen. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte die Stadt bis 1938 zur Grenzmark Posen-Westpreußen. 1945 kam die teilweise zerstörte Stadt unter polnische Verwaltung; heute gehört die Kleinstadt Skwierzyna mit derzeit knapp 10.000 Einwohnern zur polnischen Woiwodschaft Zielona Góra (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und aus: europe1900.eu).
Im wichtigen Handelsort Schwerin a. d. Warthe - an einer Fernhandelsstraße von Brandenburg nach Großpolen - wohnten Juden vermutlich bereits seit dem 14.Jahrhundert; nach der Vertreibung jüdischer Familien aus Brandenburg 1510 vergrößerte sich ihre Zahl noch, was zu zunehmenden Spannungen zwischen den christlichen Kaufleuten und Handwerkern und der jüdischen Bevölkerung führte. Ein Versuch von 1520, die Juden dauerhaft aus der Stadt zu vertreiben, scheiterte aber. Detaillierte Vorschriften des Rates beschränkten daraufhin ihre Wirtschaftsaktivitäten innerhalb Schwerins. Doch war das Zusammenleben zwischen Christen und Juden in der Stadt auch weiterhin nicht konfliktfrei. Die Tatsache, dass die hiesigen Juden einen Teil der städtischen vom König geforderten Steuern trugen, verhinderte wohl eine Vertreibung der Familien aus Schwerin.
Gegen Ende des 18.Jahrhunderts waren mehr als 30% der Gesamtbevölkerung von Schwerin Juden; die Gemeinde zählte damals zu den größten und einflussreichsten in Posen. Die Judenschaft Schwerins konzentrierte sich in einem Viertel im Südwest der Stadt - zu beiden Seiten des Stadttores am Katzbach.
Nach der Vernichtung der Synagoge durch einen Brand (1784) errichtete die Gemeinde wenig später einen Neubau am gleichen Standort (Krumme Straße). Zu den weiteren gemeindlichen Einrichtungen gehörten ein Cheder (Schulhaus), eine Mikwe, ein Schlachthaus, eine Matzen-Bäckerei und ein Friedhof.
Mit der sich zu Beginn des 19.Jahrhunderts noch deutlich gesteigerten Zahl der Gemeindeangehörigen wurde ein größerer Synagogenbau notwendig; dieses an der Pfarrstraße gelegene Gotteshaus wurde im Jahre 1841 eingeweiht.
Synagoge in Schwerin/Warthe (Ausschnitt aus hist. Postkarte)
Zeitgleich mit der Eröffnung des neuen Synagoge wurde eine neue, aus 48 Paragraphen bestehende Synagogenordnung in Kraft gesetzt, die für die künftige Abhaltung der Gottesdienste auch reformerische Tendenzen aufwies; den Anstoß dazu hatte der damals amtierende Rabbiner Heymann Joel gegeben.
Bereits in den 1830er Jahren bestand eine jüdische Elementarschule; drei Jahrzehnte später ein Waisenhaus (für Jungen) eingerichtet..
In der Schweriner Gemeinde wirkten anerkannte Rabbiner, so u.a. Mordechai ben Meir-ha Kohen (um 1710), Ibi Hirsch aus Prag (um 1765), Joshua Spira aus Frankfurt a.d.Oder (um 1770) und Hirsch Aaron London (1777–1790). Aus Schwerin stammten der später in Amsterdam tätige Rabbiner Gassel Simon ben Israel (gest. 1712) und Eliakim ha-Kohen Schwerin Goetz (geb. 1760), der später als einer der hervorragendsten ungarischen Rabbiner des 19. Jahrhunderts bekannt wurde und damit der berühmteste Vertreter der Schweriner Jüdischen Gemeinde war.
Die Nähe zu Berlin, dem Zentrum der Haskala, und die Verbindungen zur dortigen Gemeinde bewirkten, dass die Aufklärungsideen in der Schweriner Gemeinde verstärkt aufgenommen wurden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt die Schweriner Gemeinde neben der Wollsteiner (Wolsztyn) als eine der reformfreudigsten jüdischen Gemeinden in Westpreußen. Deren Angehörigen assimilierten sich auch fast vollständig mit der deutschen Kultur.
Die ältesten Grabsteine des großflächigen jüdischen Friedhofs auf dem „Judenberg“ datieren aus der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts; doch dürfte das im Süden der Stadt befindliche Begräbnisgelände wesentlich früher angelegt worden sein - vermutlich zu einer Zeit, als die ersten jüdischen Familien in Schwerin ansässig geworden sind. Mehrere hundert erhaltengebliebene Grabmäler aus Sandstein tragen zumeist hebräische und deutsche Inschriften.
Juden in Schwerin/Warthe:
--- um 1790 ..................... ca. 720 Juden (ca. 30% d. Bevölk.),
--- um 1800 ..................... ca. 900 “ ,
--- 1838 ............................ 1.543 “ ,
--- 1849 ............................ 1.198 “ ,
--- 1871 ............................ 640 “ ,
--- 1880 ............................ 473 “ ,
--- 1901 ............................ 188 “ ,
--- 1913 ............................ 115 “ ,
--- 1933 ............................ 85 “ ,
--- 1936 ............................ 44 “ .
Angaben aus: Heppner/J.Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden ..., S. 971
und The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), S. 1154
Ihren zahlenmäßigen Höchststand erreichte die Judenschaft Schwerins um 1830/1840 mit mehr als 1.500 Angehörigen. Die Verleihung der Bürgerrechte an den jüdischen Bevölkerungsteil führte einerseits zur Migration in die größeren Zentren - vor allem nach Berlin und Posen - und damit zur steten Verringerung der jüdischen Bevölkerung, andererseits zur verstärkten wirtschaftlichen Aktivität derer, die sich für einen Verbleib in Schwerin entschieden hatten.
Das erste von einem Juden gegründete größere Unternehmen hatte Simon Boas im Jahre 1814 gegründet, das mit Eisenwaren, Kohle u.a. handelte und weit über die Grenzen Schwerins tätig war. Zu den Großhändlern für landwirtschaftliche Erzeugnisse gehörte u.a. Jacob Levy, dessen Firma über Getreidespeicher verfügte. Arthur Joel war ein bedeutender Händler für Schlachtvieh, dessen Produkte auch nach Berlin und in andere große Städte verkauft wurden. Mit Hermann Schlesinger und Gustav Schramm waren zwei jüdische Kaufleute im Pferdehandel engagiert. Der größte Unternehmer in der Stadt war (bis 1918) Jakub Cohn, der mit in ostpolnischen Gebieten angekauften Rohfellen handelte. Neben ihm ist auch Salomon Stargardt zu nennen, der u.a. einen Großhandel für Kolonialwaren betrieb.
Marktplatz und Poststraße in Schwerin, um 1900/20 (Abb. aus: wikipedia.org. PD-alt-100 bzw akpool.de)
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges zählte Schwerins Judengemeinde gerade einmal noch 100 Angehörige; der wirtschaftliche Zusammenbruch nach 1918 beschleunigte nun die Emigration der noch verbliebenen Schweriner Juden; zwei Jahrzehnte später hatte sich ihre Zahl abermals halbiert.
Nach der NS-Machtübernahme mussten auch die oben aufgeführten jüdischen Betriebe/Unternehmen aufgeben bzw. wurden ‚arisiert‘. Nach 1936 gab es in Schwerin dann fast keine Juden mehr.
Während der „Kristallnacht“ im November 1938 wurde die Schweriner Synagoge von Nationalsozialisten im Innern demoliert und das Gebäude danach in ein Getreidelager umfunktioniert; gegen Kriegsende wurde es abgerissen. Die wenigen jüdischen Bewohner, die in Schwerin zurückgeblieben waren, wurden Opfer der Shoa. Im März 1940 waren sie in ein Internierungslager nahe Schneidemühl abtransportiert und von hier aus in ein Vernichtungslager deportiert worden.
Einem Teil der Juden Schwerins war vor Kriegsbeginn noch die Emigration gelungen.
Nach 1945 lebten wieder einige aus Ostpolen zugezogene jüdische Familien in der Stadt.
Der jüdische Friedhof in Skwieryna hat die Zeit des Zweiten Weltkrieges nahezu unversehrt überstanden. In den 1960/70er Jahren erfolgten dann Zerstörungen des Begräbnisgeländes, die dessen äußeres Aussehen völlig veränderten: der größte Teil der Grabsteine wurde – auch mit Zustimmung der kommunalen Behörden – entfernt und „andersweitig“ verwendet.
Teilansicht des jüdischen Friedhofs Schwerin/W. (Aufn. Sh., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Grabsteine aus dem 19.Jahrhundert (Aufn. Sh. + Pl., 2010/2013, aus: commons.wikimedia, CC BY-SA 4.0)
Der jüdische Friedhof Schwerins - mit immerhin noch ca. 250 Grabsteinen - gehört heute trotzdem noch zu den am besten erhaltenen jüdischen Begräbnisstätten im gesamten Oder- u. Wartheland. In einem 2001/2002 durchgeführten Projekt namens „Die Vergangenheit wieder finden – nur noch Steine sprechen hebräisch“ haben hiesige Schüler mit denen der Partnerschule aus Büren/Westfalen Grabsteine des alten Friedhofs wieder aufgespürt, die als Uferbefestigung von Entwässerungsgräben zweckentfremdet waren. Mehrfach erfolgte Schändungen durch „unbekannte Täter“, die Grabsteine umstürzten bzw. mit antisemitischen Parolen beschmierten, wurden 2003 bekannt.
An der Stelle eines der ehemaligen Synagoge nahestehenden Gebäudes ist ein Hinweis in Form einer Mesusa angebracht, der an das einstige jüdische Gotteshaus von Schwerin erinnert (Aufn. Staszek, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0).
Im Dorf Blesen (poln. Bledzew, derzeit ca. 1.200 Einw.) – ca. zehn Kilometer südwestlich von Schwerin gelegen – gab es eine winzige jüdische Gemeinde, an die heute noch einige Dutzend Grabsteine bzw. -relikte eines kleinen Friedhofs erinnern; dieses Begräbnisgelände westlich des Dorfes soll im 19.Jahrhundert angelegt worden sein. Aus Dokumenten aus den 1880er Jahren ist auch die Existenz eines Bethauses bestätigt.
Nach Ende des Ersten Weltkrieges lebten in Blesen nur noch zwei jüdische Familien; 1939 verließen die letzten beiden jüdischen Bewohner die Ortschaft und übersiedelten nach Berlin. Mehreren aus Blesen stammenden Juden gelang es, die NS-Zeit unter dramatischen Umständen im Untergrund in Berlin zu überleben.
Aufn. aus: cmentrarze.zydowskie.pl
Weitere eingehende Informationen siehe: Andrzej Kermiel (Bearb.), Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Blesen (Bledzew) in: Universität Potsdam – Institut für jüdische Studien und Religionswissenschaft (Hrg.), Jüdische Friedhöfe in Polen auf den Gebieten der ehemaligen Provinz Brandenburg, online abrufbar unter: uni-potsdam.de/ (2021)
Weitere Informationen:
A.Heppner/J.Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden in den Posener Landen, Koschmin - Bromberg 1909, S. 966 - 971
Erich Klemt, Mein Schwerin - Warthe. Ein Heimatbuch des Kreises Schwerin-Warthe, 2. Heft/ 1951
The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 1154
Barbara Lovenheim, Überleben im Verborgenen. Sieben Juden in Berlin, Berlin 2002 (Anm. betrifft ehem. jüdische Bewohner aus Blesen)
Anderzej Kirmiel, Skwierzyna - die Grenzstadt: Geschichte der Stadt bis 1945, Bydgoszcz 2004
Andrzej Kirmiel, Jüdische Gemeinde und jüdischer Friedhof Schwerin a.d.Warthe, in: "Transodra Online", 2007
Skwierzyna, in: sztetl.org.pl
Michael Rembas, Skwierzyna, in: kirkuty,xip.pl
Der jüdische Friedhof in Schwerin/Warthe - Dokumentation der einzelnen Grabsteine, online abrufbar unter: commons.wikimedia.org/wiki/Category:Jewish_cemetery_Skwierzynwikipedia.org
Hubert Petzelt, Der Judenfriedhof in Blesen, in: "Unser Heimatkreis Schwerin/W," No.121/ 2010, S. 18 - 20
Andrzej Kirmiel/Anke Geißler-Grünberg (Bearb.), Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Schwerin/Warte (Skwierzyna) und ihres Friedhofs, in: Universität Potsdam – Institut für jüdische Studien und Religionswissenschaft (Hrg.), Jüdische Friedhöfe in Polen auf den Gebieten der ehemaligen Provinz Brandenburg, online abrufbar unter: uni-potsdam.de/ (2021)
Andrzej Kermiel (Bearb.), Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Blesen (Bledzew) in: Universität Potsdam – Institut für jüdische Studien und Religionswissenschaft (Hrg.), Jüdische Friedhöfe in Polen auf den Gebieten der ehemaligen Provinz Brandenburg, online abrufbar unter: uni-potsdam.de/ (2021)
Robert Schwaß (Red.), Ruhestätten in Westpolen. Viadrina-Projekt erforscht jüdische Friedhöfe, in: Sendung Antenne Brandenburg vom 17.2.2022