Spangenberg (Hessen)
Spangenberg ist heute eine Kleinstadt mit ca. 6.000 Einwohnern im nordöstlichen Teil des nordhessischen Schwalm-Eder-Kreises - ca. 30 Kilometer südlich von Kassel bzw. wenige Kilometer östlich von Melsungen gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Schwalm-Eder-Kreis', NNW 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Blick auf Spangenberg, Stich um 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts erreichte die religiös-konservative jüdische Gemeinde von Spangenberg ihren numerischen Höchststand; ihre Wurzeln liegen vermutlich in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts. Neben Borken und Melsungen war Spangenberg auch Schauplatz der hessischen Judenlandtage.
Gottesdienste hielt die Gemeinde seit den 1840er Jahren in einem Betsaal ab, der in einem zweigeschossigen Fachwerkhause in der Untergasse untergebracht war; rein äußerlich unterschied sich das Gebäude kaum von den nebenstehenden Häusern.
Rekonstruktionsskizze ehem. Synagoge/Schulhaus (aus: Altaras, 1988)
Im gleichen Gebäude befanden sich auch der Schulraum und die Lehrerwohnung.
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 23. Juli 1925
Die seit ca. 1840 bestehende jüdische Elementarschule wurde wegen Schülermangels Mitte der 1920er Jahre aufgelöst und nun als Religionsschule weitergeführt.
Die jüdischen Schüler mit ihrem Lehrer Erich Neumann (1931) (privat, Fredel Fruhman)
An der Straße „Am Wäscheborn“ lag nahe dem dort vorbeifließenden Bach das „Judenbad“, das in einem kleinen würfelförmigen Gebäude untergebracht war.
Ehem. Mikwe (Aufn. Dieter Vaupel, 2007, aus: alemannia-judaica.de)
Eine jüdische Begräbnisstätte existierte in Spangenberg seit Ende der 1860er Jahre nördlich der Altstadt am Schlossberg/Schöffhöfen; zuvor waren die verstorbenen Gemeindemitglieder auf dem israelitischen Sammelfriedhof in Binsförth bei Melsungen beerdigt worden. Auch verstorbene Juden aus Elbersdorf wurden in Spangenberg begraben.
Die Kultusgemeinde Spangenberg gehörte zum Rabbinatsbezirk Niederhessen mit Sitz in Kassel.
Juden in Spangenberg:
--- 1724 .......................... 6 jüdische Familien,
--- 1744 .......................... 4 “ “ ,
--- 1766 .......................... 18 Juden,
--- 1827 .......................... 77 " ,
--- 1835 .......................... 88 “ (ca. 4% d. Bevölk.),
--- 1861 .......................... 129 “ ,
--- 1871 .......................... 133 “ (ca. 8% d. Bevölk.),
--- 1885 .......................... 130 “ ,
--- um 1900 ....................... 95 “ ,
--- um 1910 ................... ca. 105 “ ,
--- 1925 .......................... 88 “ ,
--- 1930 .......................... 147 “ ,* * gesamte Gemeinde
--- 1933 .......................... 112 “ ,
--- 1939 .......................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 262
Spangenberg, Postkarte um 1900 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, CCO)
Die meisten Juden von Spangenberg waren Kaufleute.
Geschäftsanzeigen jüdischer Kaufleute (Abb. aus: D, Vaupel, Initiative Stolpersteine)
Innerhalb der jüdischen Gemeinde fand bis in die 1920er Jahre ein lebhaftes traditionell-religiöses und gesellschaftliches Leben statt.
Zu Beginn der NS-Zeit waren in Spangenberg noch mehr als 100 jüdische Bewohner ansässig.
Auf Initiative des NSDAP-Ortsgruppenleiters sollen im September 1935 NSDAP-Angehörige durch den Ort gezogen sein, um die Bevölkerung, die „leider trotz aller Aufklärung noch zum Juden halte, aufzurütteln”. Während eines Fackelzuges durch die Stadt brachen SA-Angehörige gewaltsam Häuser jüdischer Bürger auf und richteten erheblichen Sachschaden an. So sollen auch die bei jüdischen Familien beschäftigten „arischen“ Hausangestellten gewaltsam in das damalige SA-Sturm-Lokal „Zur Traube“ gebracht worden sein, wo sie über ihr „Fehlverhalten aufgeklärt“ wurden.
Diese Vorkommnisse führten zu einer beschleunigten Abwanderung der jüdischen Familien aus Spangenberg. Nur wenige Juden Spangenbergs emigrierten (in die USA u. nach Palästina), die allermeisten verzogen innerhalb Deutschlands, meist in die nahe Großstadt Kassel. Ende 1938 sollen in Spangenberg keine Juden mehr gelebt haben.
Während des Novemberpogroms von 1938 blieb das Synagogengebäude verschont - mit Ausnahme der Kultgegenstände, die zuvor teilweise nach Kassel ausgelagert worden waren und dort vernichtet wurden. 1941/1942 wurden von Kassel aus die vormals in Spangenberg ansässigen Juden deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden mindestens 53 gebürtige bzw. über einen längeren Zeitraum in Spangenberg ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der Opfer siehe: alemannia-judaica.de/spangenberg_synagoge.htm).
Das zu einem Wohnhaus umgebaute Synagogengebäude und das kleine Badehäuschen sind bis auf den heutigen Tag erhalten.
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. I., 2010, aus: wikipedia.org CC BY-SA 3.0)
Der jüdische Friedhof, auf dem die letzte Beerdigung 1936 erfolgte, weist heute noch ca. 100 Grabsteine auf. Oberhalb des Gräberfeldes befindet sich ein 1981 errichteter Gedenkstein, der an die jüdischen NS-Opfer erinnert; die Initiative für die Aufstellung der Gedenkstele ging von Schüler/innen der hiesigen Burgschitz-Schule aus.
Jüdischer Friedhof Spangenberg (Aufn. I. 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Der Gedenkstein trägt die Inschrift:
Zum Gedenken
an die jüdischen Opfer der Gewaltherrschaft 1933 - 1945
Stadt Spangenberg
Ein Teil des Thorasilber aus der Spangenberger Synagoge befindet sich heute im Jüdischen Museum in New York.
2007/2008 ist auch in Spangenberg mit dem Projekt „Stolpersteine“ begonnen worden; damals wurden 17 dieser Gedenktäfelchen verlegt; allerdings konnten in den Folgejahren zunächst keine weiteren Steine in die Gehwege eingelassen werden, da einige Grundstückseigentümer sich dagegen ausgesprochen hatten. Nachdem dann aber deren Bedenken ausgeräumt waren, konnte 2021 die Verlegung fortgesetzt werden: allein sechs "Stolpersteine" in der Langen Gasse erinnern an Angehörige der jüdischen Familie von Hugo u. Selma Spangenthal, denen die Flucht nach Buenos Aires/Argentinien gelang. Im Folgejahr wurden weitere 13 Steine in der Stadt verlegt.
verlegt in der Burgstraße und in der Rathausstraße
und in der Obergasse (alle Aufn. G., 2023, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
2024 wurden weitere elf messingfarbene Gedenkquader verlegt, die an Angehörige jüdischer Familien (Blumenkrohn, Friedemann, Rosenbaum. Schartenberg, Kurzmann) erinnern.
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Auch in Gensungen findet man seit jüngster Zeit "Stolpersteine" in der Eppenbergstraße, die an Angehörige der vierköpfigen Familie Weinstein erinnern; drei von ihnen gelang es, die NS-Zeit zu überleben
Aufn. G., 2022, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, FrankfurtM. 1971, Bd. 2, S. 260 f.
Kurt Knierim, Die Synagoge und die jüdische Gemeinde zu Spangenberg, o.O. o.J.
Max Spangenthal, Eine hessische Kleingemeinde, in: "Bulletin des Leo Baeck Instituts", No. 69/1984, S. 53 - 67
Eva Grulms/Bernd Kleibl, Jüdische Friedhöfe in Nordhessen - Bestand und Sicherung, Johannes Stauda Verlag, Kassel 1984, S. 154
Thea Altaras, Synagogen in Hessen - was geschah seit 1945 ?, Verlag K.R. Langewiesche Nachfolger Hans Köster Verlagsbuchhandlung, Königstein (Taunus) 1988, S. 57 - 59
Dieter Vaupel, Die Vertreibung der Juden aus Spangenberg. Ein Beitrag zum 50.Jahrestag der Reichspogromnacht, in: "Jahrbuch Schwalm-Eder-Kreis 1989", S. 109 ff.
Thea Altaras, Das jüdische rituelle Tauchbad und Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945? Teil II, 1994, S. 59 – 61 (Neubearbeitung 2007)
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II - Regierungsbezirke Gießen und Kassel, Hrg. Studienkreis Deutscher Widerstand, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 186
Spangenberg, in: alemannia-judaica.de (mit diversen, zumeist perssonenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Jechiel Ogdan*/Dieter Vaupel, Sie werden immer weniger, 2004 (2., überarbeitete Auflage, 2012) *als Manfred Blumenkrohn in Spangenberg geboren
Reiner Ploß - Archiv Spangenberg (Hrg.), Jüdisches Leben in Spangenberg – Verlegung der ersten 9 Stolpersteine, Spangenberg 2007
Dierter Vaupel, Stolpersteine – Gedenken an die jüdischen Opfer in Spangenberg, Hrg. Initiative Stolpersteine, Spangenberg 2007
Reiner Ploß - Archiv Spangenberg (Hrg.), Jüdisches Leben - Die Häuser der Juden Spangenbergs, Spangenberg 2007/2208
Claudia Brandau (Red.), Initiative Stolpersteine stößt auf geteilte Resonanz bei Eigentümern, in: „HNA - Hessisch-Niedersächsische Allgemeine“ vom 27.2.2014
Claudia Brandau (Red.), Debatte um Stolpersteine: Überlebender will für die Opfer reden, in: "HNA - Hessisch-Niedersächsische Allgemeine" vom 22.8.2014
Claudia Feser (Red.), Moses Katz: Vor 80 Jahren wurde der letzte Jude in Spangenberg begraben, in: "HNA - Hessisch-Niedersächsische Allgemeine" vom 13.8.2016
nh (Red.), Initiative Stolkpersteine überreicht Spende an Synagogenverein, in: "SEK-News" vom 12.1.2017 (Anm. nach Scheitern der für Spangenberg vorgesehenen Stolperstein-Verlegungen)
Claudia Feser (Red.), Womöglich letzter Jude aus Spangenberg ist gestorben, in: "HNA - Hessisch-Niedersächsische Allgemeine“ vom 13.6.2018
N.N. (Red.), Stolperstein-Initiative Spangenberg nimmt nach sieben Jahren einen neuen Anlauf, in: nh24.de vom 17.6.2021
N.N. (Red.), Gedenken an Verfolgte und Vertriebene, in: „SEK-News“ vom 26.9.2021
Manfred Schaake (Red.), Stolpersteine in Gensungen und Spangenberg: Den Nachbarn wieder Namen geben, in: „HNA - Hessisch-Niedersächsische Allgemeine“ vom 11.10.2021
Dieter Vaupel, Gensungen war ihre Heimat – Stolpersteine zur Erinnerung an Familie Frieda und Julius Weinstein, o.O. 2021
Dieter Vaupel, Stolpersteine zur Erinnerung an jüdische Spangenberger Familien - Broschüre, Spangenberg 2022
Manfred Schaake (Red.), Steine erinnern an Spangenberger Juden – 13 Stolpersteine aus Messing wurden in der Stadt verlegt, in: „HNA - Hessisch Niedersächsische Allgemeine“ vom 12.9.2022
Jüdische Gemeinde Kassel (Hrg.), „Das sind doch auch Menschen“ – Geschichte der jüdischen Lebens in Nordhessen, Soremski Agentur & Verlag, 2023
Kerim Eskalen (Red.), 21 Stolpersteinverlegungen in Beiseförth und Spangenberg, in: „HNA - Hessische Niedersächsische Allgemeine“ vom 14.9.2024
Rolf Färber (Red.), Verlegung neuer Stolpersteine in Spangenberg für mehrere Familien, in: „HNA – Hessische Niedersächsische Allgemeine“ vom 20.9.2024