St. Gallen (Schweiz)

Datei:Übersichtskarte der Schweiz.svgDatei:Karte kt st gallen.png St. Gallen ist eine Stadt mit derzeit ca. 76.000 Einwohnern und namensgebender Hauptort des ostschweizerischen Kantons St. Gallen - ca. 15 Kilometer vom Südostufer des Bodensees entfernt gelegen (Übersichtskarte der Schweiz, Maximilian Dörrbecker, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 2.5 und Skizze 'Kanton St. Gallen', A. 2005, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Im Jahre 1268 wird erstmals die Existenz eines Juden in St. Gallen urkundlich erwähnt; in der Folgezeit haben nie mehr als einige wenige jüdische Familien hier gelebt. Während des Pestpogroms von 1348/1349 wurden alle jüdischen Gemeinden im Bodenseegebiet ausgelöscht; auch die jüdischen Bewohner von St. Gallen wurden Ende Februar 1349 umgebracht bzw. aus der Stadt vertrieben, ihre Güter eingezogen. Erst um 1380/1400 sollen sich in St. Gallen wieder Juden angesiedelt haben, so an der Spisergasse und vorm Spisertor - allerdings nicht dauerhaft. Ihren Lebenserwerb bestritten sie vor allem vom Geldhandel. Ab dem ausgehenden 15.Jahrhundert lebten - bis auf wenige Ausnahmen - keine jüdischen Familien mehr in der Stadt.

Datei:St Gallen stumpf col.jpgSt.Gallen um 1550 - "Schweizer Chronik" Joh. Stumpf, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

So durften sich Juden ab der zweiten Hälfte des 18.Jahrhundert nur maximal an drei Tagen zu den Märkten in St. Gallen aufhalten. Bei Zuwiderhandlung drohte den Juden die Konfiszierung ihrer Waren. Auch der politische Umsturz in Folge der Französischen Revolution 1789 brachte zunächst keine spürbare Lockerung der Aufenthaltsvorschriften für Juden. Erst 1818 gewährte der Stadtrat jüdischen Kaufleuten gewisse Rechte; doch blieb es zunächst noch beim Niederlassungsverbot. Ab den 1820/1830er Jahren lebten wenige Juden in der Stadt.

Anfang der 1860er Jahre erließ der „Große Rat des Kantons St. Gallen“ ein „Gesetz über den Handelsverkehr, den Aufenthalt und die Niederlassung der Israeliten”, in dem es u.a. hieß:

„ ... Israeliten, welche im Kanton St.Gallen nur vorübergehend Verkehr treiben oder Aufenthalt in demselben nehmen, sind, je nach ihrer Staatsangehörigkeit als Schweizer oder Ausländer, gleich den andern handelstreibenden Aufenthaltern den diesfalls bestehenden Gesetzesbestimmungen unterworfen; das heißt schweizerische Israeliten werden den anderen Schweizern ... gleichgehalten. Israeliten, welche ihren Wohnsitz in einer Gemeinde des Kantons nehmen wollen, eigene Haushaltung führen, einen Beruf oder ein Gewerbe auf eigene Rechnung treiben, haben ... die Niederlassung nachzusuchen. ... “

In einem Artikel der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ vom 14. Juli 1863 hieß es:

St. Gallen, im Juli. (Privatmitth.) Die Stadt St. Gallen hat 27 israelitischen Niederlassungsgesuchen sammt und sonders entsprochen. Die Bürgerschaft von St. Gallen (solche Gesuche werden vor die Gemeinde gebracht) hat damit gründlich mit mittelalterlichen Vorurtheilen gebrochen und gerade der Umstand, daß alle Angemeldeten ohne Unterschied angenommen wurden, bezeugt, daß sie deutlich zu erkennen geben wollte, daß es sich bei ihr diesmal weniger um die Personen als eine Demonstration für den Grundsatz der Toleranz und einer freien Lebensanschauung handelte. 

 

Die jüdische Gemeinde in St. Gallen wurde offiziell im Jahre 1863 gegründet - unmittelbar nach der endgültigen Gewährung der Niederlassungsfreiheit. Zu den Mitbegründern gehörten auch Familien aus Hohenems im Vorarlberg, die ihre wirtschaftliche Zukunft in den städtischen Zentren sahen. Während die jüdische Gemeinde in St. Gallen bald aufblühte, schrumpfte die Hohenemser Gemeinde immer mehr zusammen.

[vgl. Hohenems (Österreich)]

In den ersten Jahren hielt die jüdische Gemeinde ihre Gottesdienste in einem angemieteten Raume im Hinterhof des Hauses „Zum Stein“ am Bohl ab. Über die Eröffnung der Gebetsstätte berichtete die Lokalzeitung „Der Säntis” Mitte September 1866:

... Letzten Sonntag wurde die hiesige Synagoge zum ersten Mal besucht. Gleichzeitig feierten die Israeliten ihren Jahreswechsel 5626 - 5627. Außer den festfeiernden Israeliten waren auch Katholiken und Protestanten anwesend, welche von dem Vortrag des Rabbiners sehr befriedigt waren und den Wunsch nicht unterdrücken konnten, daß alle ihre Geistlichen beider Konfessionen ihre Religionsbegriffe mit ebensoviel Humanität ihren Kirchangehörigen vortragen möchten wie dieser Priester einer in die Welt zerstreuten Nation, die seit Jahrhunderten in ihren Rechten beschränkt und verhindert war, in freier Weise ihren kirchlichen Anforderungen zu genügen. ... Das Jahr 5627 hat den hiesigen Israeliten in kirchlicher Beziehung eine schöne Errungenschaft gebracht. ...

           Stellenangebote von 1880 und 1890

1880/1881 ließ die St. Gallener Kultusgemeinde an der Frongartenstraße eine Synagoge im maurisch-orientalischen Stil errichten, die von den Architekten Chiodera und Tschudy entworfen worden war; sie wurde Mitte September 1881 feierlich eingeweiht. Die Festpredigt hielt der hiesige Rabbiner Dr. Hermann Engelbert. Über die Einweihung berichtete die "Allgemeinen Zeitung des Judentums" in ihrer Ausgabe vom 11. Oktober 1881 wie folgt:

"... Indem wir heute über die Einweihung von vier Synagogen zu berichten haben, nämlich zu St. Gallen in der Schweiz, zu Göppingen in Württemberg ...., werden wir der ersteren eine größere Aufmerksamkeit zuwenden, weil dieselbe in der Ostschweiz die erste Synagoge ist und die Einweihung die Theilnahme der christlichen Bevölkerung ungewöhnlich in Anspruch nahm. Wir geben daher hier die Urtheile wieder, welche der Referent des 'Tageblatt der Stadt St. Gallen' vom 23. September abgab, ...:  'Auf Mittwoch, Abends 6 Uhr war die Einweihung der von der hiesigen israelitischen Gemeinde neu erbauten Synagoge angekündigt und fand unter Theilnahme nicht nur von Angehörigen der Gemeinde, sondern auch einer ziemlichen Anzahl eingeladener Gäste nicht-israelitischer Konfession statt. Es war in der That eine recht erhebende, ächt religiöse Feier. War schon das prächtige, in edlen Formen und stimmungsvollen Farben ausgeführte Innere des neuen Gotteshauses dazu angethan, den Eintretenden weihevoll zu stimmen, so wurde die religiöse Empfindung noch mehr gehoben und getragen durch die Feier selbst. Nach einem ernsten, edlen Choralgesand einer Anzahl Mitglieder des 'Frohsinn' schritten die Träger der Thoras (der Mosaischen Gesetzestafeln) durch den Tempel, und unter den üblichen Gebeten und Gesängen geschah sodann das Öffnen der Lade und das Einheben der Thoras in dieselbe. Weitere Choralgesänge folgten, abwechselnd mit Dank- und Weihegebeten. Die Festpredigt, mit welcher der Rabbiner der Gemeinde, Herr Dr. Engelbert, die Feier krönte, war ein von solch erleuchtetem, wahrhaft religiösem Geiste getragener Vortrag, daß wir hätten wünschen mögen, es wäre einem noch größeren konfessionell gemischten Auditorium vergönnt gewesen, denselben anzuhören; es würde jeder Zuhörer reich erbaut und belehrt über die vielverkannte jüdische Lehre von dannen gegangen sein. Der Vortragende gab den Nachweis, daß der israelitische Kultus ebenso weit entfernt sei von dem ihm so vielfach imputirten verknöcherten Formalismus, wie sein Bekenntnis fern von engherziger, beschränkter Intoleranz. Die Synagoge könnte nach dem tiefinnersten Geist des Judenthums ebenso gut ein Gotteshaus sein für alle Völker, in welchem sie alle ihr Gebet zu Einem und demselben höchsten Wesen empor sendeten. In begeisterter formvollendeter Sprache schilderte der Redner die Religion seines Volkes als die Religion der Herzensbelebung, der Geisteserleuchtung und der Verbrüderung. Die Worte des Vortragenden waren so durchdrungen vom Gefühle eines wahrhaft religiösen Bekenntnisses, so weit erhaben über jeden Geist engherziger konfessioneller Schablone, daß die Zuhörer mit gespanntester Aufmerksamkeit an jedem seiner Worte hingen und wohl alle mit dem Gedanken schieden: der israelitischen Gemeinde in St. Gallen, wenn sie von solchem Geistes ihres derzeitigen Vorstehers beseelt ist, soll eine heimische Stätte in unserer Stadt gewährt bleiben, und sie soll erfahren, daß sie im Hort unserer freiheitlichen Institutionen und Gesetze wohl geboren und geschützt ist. ...“

Die lokale „St. Gallener Zeitung” hatte bereits unmittelbar nach der Synagogen-Einweihung in ihrer Ausgabe am 22.9.1881 darüber berichtet:              

Gestern fand die feierliche Einweihung der neuen israelitischen Synagoge, eines in maurischem Stil erstellten, edel gegliederten, dekorativ und farbenprächtig gehaltenen Baues statt. Herr Rabbiner Dr. Engelbert leitete den bezüglichen gottesdienstlichen Kultus, dessen Mittelpunkt die Niederlegung der Thora in dem dafür bestimmten Schrank bildete, und hielt dann die Weiherede, welche - religiös und patriotisch zugleich gehalten - auf die zahlreichen Zuhörer, unter denen auch verschiedene christliche Glaubensbekenntnisse vertreten waren, den besten Eindruck machte. ... Im Schlußgebet wurde vorab das engere und weitere Vaterland dem göttlichen Schutz empfohlen. ...

                                   Synagoge in St. Gallen - Bauentwurf (Stadtarchiv St. Gallen)

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20170/Gudensberg%20REngelbert%20010.jpg Der langjährig in St. Gallen tätige Rabbiner Dr. Hermann Engelberg wurde 1830 in Gudensberg geboren. Nach seiner religiösen Ausbildung in seiner Geburtsstadt und in Würzburg absolvierte er ein Studium in Berlin und Marburg; anschließend war er als Prediger und Religionslehrer tätig. Seit 1866 stand er an der Spitze des.Jüdischen Religionsgesellschaft St. Gallen, die er bis zu seinem Tode (1900) führte.

Bis in die 1880er Jahre war mehr als die Hälfte der erwerbstätigen Juden im Handel beschäftigt, die meisten in der Textilbranche; zehn Familien besaßen eigene Produktionsbetriebe.

   aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 17.6.1891

und zwei weitere Annoncen jüdischer Gewerbetreibender:

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20282/St%20Gallen%20FrfIsrFambl%2007071905.jpg http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20330/St%20Gallen%20CV-Ztg%2013091924.jpgKleinanzeigen von 1905 und 1924

Als ab 1900/1905 osteuropäische Juden (aus Polen, Russland, Litauen u. Galizien) in die Region um St. Gallen zuwanderten, organisierten sie sich zunächst in mehreren Vereinen bzw. Gemeinschaften, die eigene Minjanim in getrennten Betstuben bildeten. Am 25. Februar 1917 schlossen sich drei Vereine ostjüdischer Glaubensgemeinschaften zur Gemeinde Adass Jisroel zusammen; 1918 gehörten zu dieser neuen Gemeinde etwa 100 Mitglieder mit insgesamt 500 Personen. Seit 1919 besaß die orthodoxe Gemeinschaft „Adas Jisroel“ eine eigene Synagoge in der Kapellenstraße. Im "Jüdischen Jahrbuch für die Schweiz" (Jg. 1918/1919) wurde darüber unter der Überschrift „Der erste Synagogenbau der Ostjuden in der Schweiz“ berichtet: „ ... Die im vergangenen Jahre erfolgte Errichtung und Einweihung der Synagoge der Adass-Jisroël-Gemeinde in St. Gallen ist ein Ereignis, welches nicht nur für die lokale Gemeinde von Bedeutung ist, sondern in der Entwicklung der Schweizer Judenheit als bemerkenswerte Tatsache Beachtung verdient. Wohl haben die in den letzten Jahren in verschiedenen Städten der Schweiz emporblühenden ostjüdischen Gemeinden da und dort sich ihre eigenen Synagogen und Bethäuser errichtet, aber in St. Gallen ist es das erste Mal, daß die Ostjuden sich eine eigene Synagoge erbaut haben. Die Ostjuden haben zwar in den bestehenden Synagogen der Schweiz jederzeit ohne irgendwelche Schranken freundliche Aufnahme gefunden, aber sie haben sich dort zumeist wegen der Unterschiede in den 'Minhogim' (Anm.: religiöse Riten) nie ganz heimisch gefühlt. ... Den andauernden Bemühungen des während des zweiten Kriegsjahres in St. Gallen weilenden Oberrabbiners A. J. Kuk ist es gelungen, diese Einigkeit herzustellen. So ist die Gemeinde Adass-Jisroël aus den bestehenden Gruppen Talmud Thora, Minjon-Verein und Agudas-Achim am 25. Februar 1917 hervorgegangen. Nicht ein prunkvoller Bau sollte erstellt werden, sondern ein bescheidenes Gotteshaus, das gerade durch seine Einfachheit wirkt. So ist diese Synagoge an der Kapellenstraße entstanden. …“

  Synagoge der „Adas Jisrael“ (Aufn. aus: Jüdisches Jahrbuch der Schweiz, 1918)

Ende der 1860er Jahre erwarb die jüdische Gemeinde ein Gelände in St. Fiden im Hagenbuch (ehem. Gemeinde Tablat), das zukünftig als Begräbnisstätte diente. Zuvor waren Verstorbene in Hohenems (Vorarlberg) beigesetzt worden.

Über die Einweihung und erste Beisetzung berichtete die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ am 23.März 1869:

St. Gallen, 3. März. Die „Schweiz“ berichtet: Gestern Nachmittag 2 Uhr fand hier das erste israelitische Leichenbegängniß statt. Ein sehr ansehnliches Trauergeleit aus allen Classen der Bevölkerung folgte dem Sarge des dahingeschiedenen jungen Lebens, eines 1 ½ jährigen Mädchens des Hrn. B. Burgauer, Kaufmann, trotz des schlechten Wetters den weiten Weg bis auf den neuen israelitischen Gottesacker. Mit dieser Bestattung fand zugleich die Inauguration des Gottesackers statt. Das Blatt rühmt die Grab- und Weiherede des Herrn Rabbiner Dr. Engelbert, und giebt eine Analyse derselben. Dann fügt es hinzu: „Mit der Einsenkung dieser Leiche in St. Gallischen Boden ist die Ansiedelung der Israeliten in unserer Stadt zu einer dauerhaften und bleibenden, damit denselben als Religionsgenossenschaft auch die volle Gleichberechtigung mit den christlichen Confessionen betreffend Niederlassung und öffentliches Leben anerkannt worden, während vor wenigen Jahren noch sie weder Eigenthum noch Niederlassung im Canton erwerben konnten. Freuen wir uns mit ihnen dieses schönen Fortschrittes, dieses Triumphes der Humanität.“

Eine von den Anwohnern beantragte Schließung des Friedhofs 1875 konnte erst ein wissenschaftliches Gutachten verhindern, das eine Schädigung der Bewohner durch die Nähe zu den Gräbern ausschloss. Der Friedhof in St. Finden wurde bis zur Eröffnung des neuen Friedhofs an der Kesselhade 1913/1915 genutzt.

Juden in St. Gallen:

         --- 1824 .......................... eine jüdische Familie (10 Pers.),

    --- 1850 ...................... ca.    50 Juden,

    --- 1860 ..........................   138   “  ,

    --- 1870 ..........................   158   “  ,  (im Kanton: 212 Pers.)

    --- 1880 ..........................   371   “  ,*

    --- 1888 ..........................   544   “  ,* (0,2% d. Bevölk.)

    --- 1900 ..........................   556   “  ,*

    --- 1910 ..........................   955   “  ,*

    --- 1920 .......................... 1.131   “  ,*

    --- 1930 ..........................   702   “  ,*

    --- 1941 .......................... 1.133   “  ,*

    --- 1950 ..........................   565   “  ,*  

    --- 1960 ..........................   458   “  ,*

    --- 1970 ..........................   321   “  ,*

    --- 1990 ..........................   210   “  ,*

    --- 2000 ..........................   231   “  .*           *alle Angaben: Kanton St.Gallen

Angaben aus: Artur Wolfers, Die Geschichte der Juden in St. Gallen, S. 166

und                 Historische Statistiken eidgenössischer Volkszählungen

http://www.heimatsammlung.de/topo_unter/schweiz_ab_08/images-03/st-gallen-6789.jpg Blick auf St. Gallen, um 1930

 

In den 1920er Jahren kam es zu ersten antisemitischen Anfeindungen in St. Gallen; doch das Einschreiten der städtischen Behörden unterband frühzeitig jegliche Eskalation. Auf Grund der politischen Entwicklung im benachbarten Nazi-Deutschland wuchs die Zahl der Juden in der Schweiz, auch die in St. Gallen und erreichte fast 1.200 Personen.

Anmerkungen: Der St. Gallener Polizeioffizier Paul Grüninger (1891-1971) rettete im Krieg zahlreichen jüdischen Flüchtlingen das Leben, indem er Reisedokumente von Juden fälschte und ihnen so den Aufenthalt in der Schweiz sicherte. Als die Manipulationen ans Tageslicht kamen, wurde gegen Grüninger eine Untersuchung eingeleitet, die zu seiner Entlassung aus dem Polizeidienst führte.

Kurz vor Kriegsende trafen zwei Zugtransporte mit geretteten Juden aus Konzentrationslagern in St. Gallen ein: ein großer Transport ungarischer Juden aus Bergen-Belsen im Dezember 1944 und im Februar 1945 der zweite aus Theresienstadt mit ca. 1.000 Menschen.

1947 weihte die jüdische Gemeinde St. Gallen die neuen Gemeinderäume ein; gleichzeitig beging sie das 75jährige Jubiläum ihrer Synagoge. 1952 schloss sich die jüdische Gemeinde St. Gallens wieder feierlich mit der orthodoxen Betgemeinschaft zusammen; sie umfasste damals mehr als 1.000 Angehörige. Die Synagoge an der Kapellenstraße wurde daraufhin aufgegeben. Gegenwärtig besteht die jüdische Gemeinde St. Gallens aus etwa 120, zumeist älteren Mitgliedern; zahlreiche Familien waren aus der Stadt abgewandert, als sich der Niedergang der Textilindustrie abzeichnete.

   http://www.alemannia-judaica.de/images/Images11/hagenbuch-1.jpg Blick auf den älteren Friedhof "Am Hagenbuch" (Aufn. Peet Lenel)

Am Eingang des neuen jüdischen Friedhofs in St. Gallen (Teil des Ostfriedhofs) ist seit 1953 eine Gedenktafel mit der folgenden Inschrift angebracht:

Zum Gedenken an die Millionen jüdischer Menschen

die in den Jahren der deutschen Verfolgung 1933 – 1945 erbarmungslos vernichtet wurden

Die Synagoge in der Frongartenstraße blieb bis heute fast nahezu unverändert; ihr detailreiches Dekor stellt ein einzigartiges Beispiel gut erhaltener, orientalisierender Architektur dar, wobei die bunte Ausgestaltung des Innenraumes noch im Original erhalten ist. Die letzte umfängliche Restaurierung des Gebäudes erfolgte im Jahre 2004.

 

links: Synagogenfront (Aufn. B., 2006, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)  -  rechts: Innenraum (Aufn. aus: swissinfo.ch)

Hermann Schmelzer An der Spitze der St. Gallener Gemeinde stand seit 1968 (in Nachfolge von Lothar Rothschild) der Rabbiner Hermann Schmelzer, der dieses Amt mehr als vier Jahrzehnte inne hatte. 2012 gab er als damals dienstältester Schweizer Rabbiner sein Amt auf; acht Jahre später verstarb er; er galt als einer der bedeutendsten rabbinischen Gelehrten und jüdischen Humanisten der Schweiz.

Bildergebnis für St. Gallen ben chorin Seit 2016 stand der hochbetagte Rabbiner Tovia Ben-Chorin an der Spitze der St Galler Gemeinde, die er in eine liberale Richtung zu führen versuchte; mit seinem Engagement strebte er einen interreligiösen Dialog an (Aufn. aus: kath.ch). Tovia Ben-Chron verstarb im Frühjahr 2022.

 

 

In Rheineck – einem kleinen Schweizer Grenzort zu Österreich, östlich von St. Gallen gelegen – wurde 2024 am Ende der ehemaligen "Judengasse" eine Gedenktafel zur Erinnerung an die im Jahre 1634 vertriebenen jüdischen Familien angebracht.

Ab Mitte des 16.Jahrhunderts war das St.-Gallische Rheineck eine von relativ vielen Juden bewohnte Ortschaft; damals soll jeder 8.Einwohner mosaischen Glaubens gewesen sein. Bis ins beginnende 17.Jahrhundert war Rheineck die wohl größte jüdischer Siedlung im Kanton St. Gallen. Die Familien wohnten in einem eigenen Viertel, der "Judengasse". Deren Ansiedlung ´war unter dem Schutz des Landvogtes erfolgt; doch konnte er auf Dauer nicht verhindern, dass es 1634 zur Auflösung und Vertreibung der jüdischen Gemeinde kam; ein Teil der Vertriebenen soll in Hohenems Aufnahme gefunden haben.

 

 

Weitere Informationen:

Leopold Brandt, Chronik der Israelitischen Kultusgemeinde St. Gallen zu ihrem 50jährigen Jubiläum 1863 – 1913, St. Gallen 1913

Lothar Rothschild, Im Strom der Zeit. Hundert Jahre Jüdische Gemeinde St. Gallen (Jubiläumsschrift), St. Gallen 1963

Augusta Weldler-Steinberg, Geschichte der Juden in der Schweiz vom 16.Jahrhundert bis nach der Emanzipation, Hrg. Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund Zürich 1966/70, Band 1/2

Imre Hermann Schmelzer, Zur Geschichte der Israelitischen Gemeinde St. Gallen, in: "Gallus-Stadt, Jahrbuch der Stadt St. Gallen 1981", S. 69 f.

Imre Hermann Schmelzer, Zeugnis und Perspektive: Die Israelitische Gemeinde St. Gallen in den Jahren 1968 – 1988, St. Gallen 1988

Karl Heinz Burmeister, Dokumente zur Geschichte der Juden im Vorarlberg, Dornbirn 1988

Karl Schweizer, Jüdisches Leben und Leiden in Lindau, Eigenverlag, Lindau 1989

Artur Wolfers, Die Geschichte der Juden in St. Gallen, in: "Landjudentum im Süddeutschen- und Bodenseeraum. Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs", Heft 11/1992, Hrg. Vorarlberger Landesarchiv, Dornbirn 1992, S. 145 - 149

Karl Heinz Burmeister, Geschichte der Juden in Stadt und Herrschaft Feldkirch, in: "Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft", 31/1993, Feldkirch 1993, S. 24 f.

Jacques Picard, Die Schweiz und die Juden 1933 - 1945. Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik, Chronos-Verlag, Zürich 1994, S. 301/302

Germania Judaica, Band III/2, Tübingen 1995, S. 1298 - 1300

Karl Heinz Burmeister, Medinat bodase - Zur Geschichte der Juden am Bodensee (Band 1 und 2), Konstanz 1996

Sabine Schreiber, Jüdinnen und Juden in der Stadt St. Gallen 1803 - 1880, Philosophische Fakultät Universität Zürich, Zürich 1998 (Anm.: als Buch erschienen unter dem Titel: „Hirschfeld, Strauss, Malinsky – Jüdisches Leben in St. Gallen 1803 bis 1933“)

Karl Heinz Burmeister, Geschichte der Juden im Kanton St. Gallen bis zum Jahre 1918, St. Gallen 2001

Peet Lenel, Die Geschichte der Juden St. Gallens, in: Verein Jüdischer Studierender St. Gallen, 2002

St. Gallen, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Gemeindehistorie)

Jörg Krummenacher, Flüchtiges Glück in der Schweiz, Limmat-Verlag, Zürich 2005

Sabine Schreiber, Hirschfeld, Strauss, Malinsky: Jüdisches Leben in St. Gallen 1803 - 1933, in: "Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz", Band 11, Chronos Verlag, Zürich 2006

Ron Epstein-Mil, Die Synagogen der Schweiz – Bauten zwischen Emanzipation, Assimilation und Akkulturation, in: "Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz", Band 13, Chronos-Verlag, Zürich 2008, S. 130 – 141

Gerhard Salinger, Jüdische Gemeinden im alpinen Grenzgebiet, in: "DAVID - Jüdische Kulturzeitschrift", Heft 85/Juni 2010

Josef Osterwalder (Red.), Rabbiiner mit Augenmaß, in: „Tagblatt“ vom 28.8.2012 (betr. Amtsende von Hermann Schmelzer)

Seraina Hess (Red.), Glauben in St. Gallen: Drei Gotteshäuser in der Stadt, in: "St. Galler Tagblatt“ vom 24.8.2018

Noemi Heule (Red.), „Ich bin bereit, mit jedem zu sprechen, der bereit ist, an allem zu rütteln“ : Der rastlose St.Galler Rabbiner bleibt, in: „St. Galler Tagblatt“ vom 7.5.2019

Yves Kugelmann (Red.), St. Gallen – Hermann Schmelzer verstorben, in: tachles.ch vom 16.11.2020

Fabian Brändle (Red.), Ein Leserbrief und seine Folgen – Ein Pogrom in St. Gallen im Jahre 1883, in: „DAVID – Jüdische Kulturzeitschrift“, Heft 131/Dez. 2021

Daniel Klingenberg (Red.), „Er konnte Herzen öffnen, indem er sein eigenes Herz öffnete“: Die jüdische Gemeinde St. Gallen ehrt Rabbiner Tovia Ben-Chorin, in: „Liechtensteiner Vaterland“ vom 23.5.2022

Luca Hochreutener (Red.), „Unnützes Gesindel“: In Rheineck befand sich im 17.Jahrhundert die wohl größte jüdische Siedlung St. Gallens – schon damals grassierte der Judenhass, in: „Tagblatt“ vom 27.5.2023

Judith Wipfler (Red.), Jüdisches Leben in der Schweiz – Darum schrumpfen unsere jüdischen Gemeinden, in: srf.ch vom 24.9.2023

Julia Benz (Red.), Gedenken an jüdische Vertriebene in der Frühen Neuzeit, in: rheintaler.ch vom 15.8.2024

Sarah Leonie Durrer (Red.), Rheineck. Tafel erinnert an Gemeinde, in: „tachles – Jüdisches Wochenmagazin“ vom 23.8.2024

Ernst Ziegler (Bearb.), „Judechele“ und „Deutsches Heim“ – zwei ungleiche Nachbarn, online abrufbar unter: stgallen24.ch vom 14.9.2024