Stolp (Hinterpommern)
Das seit 1310 mit Stadtrechten ausgestattete Stolp ist das heutige polnische Słupsk mit derzeit ca. 90.000 Einwohnern (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Polen' mit Słupsk rot markiert, M. 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Stolp(e) um 1620 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei) und Ausschnitt aus einer Bildkarte, um 1790 (Abb. aus: wikiwand.com/de/Grabno_(Ustka)
Die Stadt Stolp in Hinterpommern war in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts Heimat von nur einigen wenigen jüdischen Familien; 1718 erhielt der Jude Amsel Liebmann gegen Zahlung von 100 Talern als erster das Privileg, sich in Stolp dauerhaft niederzulassen. Bereits 1705 war die erste jüdische Familie (Aaron Jacob) nach Stolp gekommen, allerdings Jahre später wieder verzogen. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts zogen Juden vor allem aus den wirtschaftlichen schwachen Gebieten Westpreußens und Posens zu; innerhalb des Jahrhunderts nahm die Zahl der jüdischen Bewohner deutlich zu; um 1900 umfasste die Gemeinde nahezu 1.000 Mitglieder.
1815 erhielt die Stolper Judenschaft eine eigene Begräbnisstätte - angrenzend an den kommunalen Friedhof - zugewiesen; bis zu diesem Zeitpunkt waren Verstorbene im 60 Kilometer (!) entfernten Lauenburg (Lębork) begraben worden.
Die jüdische Gemeinde „Kahal Stolpe” errichtete 1842 im Hinterhof eines Gebäudes der damaligen Synagogenstraße eine erste Synagoge; ihre Einweihung führte der Stettiner Kantor Abraham Lichtenstein durch. Erster Rabbiner der Stolper Kultusgemeinde war seit 1841 Dr. Josef Klein (geb. 1807 in Memmelsdorf/Unterfranken); ihm folgte1860 im Amt Dr. Salomon Hahn nach (bis 1898).
Die schon existierende jüdische Religionsschule Stolps wurde 1854 einer Elementarschule (Leitung Dr. J. Klein) angeschlossen; von nun an wurden hier auch nichtjüdische Lehrer als Hilfskräfte für die Erteilung des Fachunterrichtes eingesetzt.
Zu Beginn der 1880er Jahre erfasste Pommern und Westpreußen eine Pogromwelle; diese war durch den sog. „Radau-Antisemitismus” einzelner Politiker ausgelöst worden. Auch in der Stadt Stolp kam es zu antijüdischen gewalttätigen Ausschreitungen; trotz massiven Militäreinsatzes zog eine vielköpfige Menschenmenge marodierend durch die Straßen der Stadt und plünderte zahlreiche Geschäfte und Häuser jüdischer Einwohner. Nur durch den konsequenten Einsatz der Staatsmacht und dem Engagement von christlichen Bürgern gelang es, die Ausschreitungen unter Kontrolle zu bringen. Die Gewalttäter wurden danach vor Gericht gestellt, kamen aber mit äußerst geringen Strafen davon.
1893 gründete sich in Stolp der „Antisemitische Verein Stolp”, der zahlreiche Flugschriften verbreitete. Sieben Jahre später kam es erneut zu antijüdischen Ausschreitungen. Als Anlass diente ein angeblicher Ritualmord im westpreußischen Konitz. Mit der Parole „Raus mit den Juden” ging der Mob gegen jüdische Geschäftsleute vor, die nur mühsam von Polizei und schließlich auch Militär geschützt werden konnten.
Unmittelbar nach der Jahrhundertwende ließ die jüdische Gemeinde nach langjährigen Planungen außerhalb der Altstadt, in der Arnoldstraße, ein großes Synagogengebäude errichten; verantwortlich für den Bau zeichnete der Stolper Architekt Eduard Koch. Die Synagoge - eingeweiht im Herbst 1902 - wies insgesamt 700 Plätze auf; davon waren 300 Sitzplätze auf der Empore für die Frauen bestimmt. Im hinteren Gebäudeteil befand sich die kleine Wochentagssynagoge. - In unmittelbarer Nähe wurde fast zeitgleich das jüdische Gemeindehaus fertiggestellt, das über mehrere Wohnungen für die Gemeindebeamten verfügte; im Hofgelände befand sich ein Raum für Schächtungen.
Arnoldstraße mit Synagoge rechts (hist. Postkarte, aus: wikipedia.org, CCO)
Stolper Synagoge (hist. Aufn. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Nachdem bereits mehr als drei Jahrzehnte Dr. Salomon Hahn (von 1861 bis 1898) als Rabbiner in Stolp tätig gewesen war, übte nach der Jahrhundertwende Dr. Max Joseph bis 1936 dieses Amt aus. Seit Seit Anfang der 1920er Jahre gab es in Stolp die „Jerimia-Loge”, die sich religiösen, aber auch sozialen Zielen verschrieb; in ihrer Satzung hieß es:
„ ... Sie [ die Jerimia-Loge LXXXVII No. 911] will ihre Mitglieder geistig und sittlich veredeln, Menschen- und Vaterlandsliebe pflegen, will Schicksalsschläge, die ihre Mitglieder und auch Außenstehende treffen, durch Rat und Tat lindern. Sie macht es sich endlich zur Aufgabe, kranken und hilfsbedürftigen Mitgliedern beizustehen und für deren Witwen und Waisen zu sorgen. ... Sie will ferner die indifferenten Glaubensgenossen für die unvergänglichen Ideale des Judentums zurückgewinnen, die Brüder durch gesellige Zusammenkünfte einander nähern, und das Gefühl der Eintracht und Freundschaft unter ihnen stärken. ...”
Siegel der „Jerimia-Loge“
Juden in Stolp:
--- 1705 ........................... eine jüdische Familie,
--- 1728 ........................... 2 " " n,
--- 1764 ........................... 6 “ “ (40 Personen),
--- 1812 ........................... 22 “ “ (63 Personen),
--- 1816 ........................... 135 Juden,
--- 1831 ........................... 239 “ ,
--- 1852 ........................... 599 “ ,
--- 1861 ........................... 757 " ,
--- 1871 ........................... 879 “ ,
--- 1880 ........................... 958 " ,
--- 1895 ....................... ca. 950 “ (ca. 4% d. Bevölk.),
--- 1898 ........................... 750 “ ,
--- 1909 ........................... 549 “ ,
--- 1925 ........................... 469 “ ,
--- 1932 ........................... 470 “ ,* * Stadt und Kreis
--- 1933 ....................... ca. 390 “ ,
--- 1937 ....................... ca. 350 “ ,*
--- 1939 ....................... ca. 275 “ ,*
--- 1941 (Okt.) ................ ca. 200 ” ,*
--- 1942 (Nov.) .................... 27 “ ,
--- 1943 ....................... ca. 5 “ .
Angaben aus: M.Heitmann/J.H.Schoeps (Hrg.), “Halte fern dem ganzen Land jedes Verderben ...”, S. 67/68 + S. 164
und Gerhard Salinger, “Zwischen Zeit und Ewigkeit” - Ein Rückblick und Beitrag zum Leben und Schicksal der Juden in Stolp ..., S. 104
Marktplatz in Stolp, um 1930 (aus: akpool.de)
Die Juden Stolps waren vorwiegend in kaufmännischen Berufen sowie im wenig gewinnbringenden Kleinhandel tätig; doch auch handwerkliche Berufe wurden von ihnen ausgeübt. Unter besonders schweren Bedingungen lebten die Kleinhändler und Hausierer, die mit Pferd und Wagen oder auch zu Fuß unterwegs waren, um der Bevölkerung auf dem Lande ihre Waren anzubieten. Wegen des Geburtenrückgangs und des Wegzugs vieler Juden Stolps nach Berlin um die Jahrhundertwende und danach sank die Zahl der Gemeindemitglieder deutlich. In dieser Zeit existierten in Stolp etwa 20 Geschäfte, die in jüdischem Besitz waren; die Zahl der ambulanten Kleinhändler war dagegen stark zurückgegangen. Vor allem die jüdischen Textilwarengeschäfte und die Möbelfabrik Decker & Blau genossen überregional einen guten Ruf.
Anzeige des Kaufhauses Tuchler & Neumann (1914)
Bis Anfang der 1930er Jahre hatte der Antisemitismus in Stolp keine Rolle gespielt; ab 1930 gewannen aber die Nationalsozialisten immer mehr Einfluss in der Stadt. Die Kommunalbehörden versuchten diesen zu begrenzen; so wollte der Stolper Oberbürgermeister Hasenjaeger den reichsweit durchzuführenden Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 in seiner Stadt verhindern. Wegen seines Widerstandes wurde er im Sommer 1933 von seinem Posten abgelöst. Dessen Nachfolger Dr. Walter Sperling - obwohl NSDAP-Mitglied - soll sich gegenüber den Angehörigen der jüdischen Gemeinde respektvoll verhalten haben. Nach der NS-Machtübernahme 1933 hatte etwa die Hälfte der 1932 in Stolp lebenden Juden die Stadt verlassen und war in die Emigration gegangen; ihre Geschäfte waren vor allem zwischen 1935 und 1938 „arisiert“ worden. Der letzte Rabbiner der Gemeinde, Wilhelm Teichner, emigrierte 1939 - wie auch andere Stolper Juden - nach Shanghai.
Während des Novemberpogroms von 1938 sollte die Stolper Synagoge durch Brandlegung zerstört werden; SA-Angehörige zündeten das Gotteshaus an und hinderten die Feuerwehr am Löschen des Brandes. Allerdings erlitt der massive Bau nur geringe Schäden, sodass dieser anschließend gesprengt wurde. Nach der Zerstörung der Synagoge konzentrierte sich das Leben der Gemeinde auf das Gemeindehaus in der Arnoldstraße; in der zweiten Etage wurden ein Betsaal und Schulräume eingerichtet. Die meisten jüdischen Männer wurden inhaftiert und vorübergehend im KZ Sachsenhausen festgesetzt. Besonderen Mut zeigte damals der Bürgermeister Dr. Sperling, der die SA-Brandstifter verhaften ließ; doch blieb deren Untat auf Weisung des Gauleiters ungesühnt. 1941 musste die jüdische Gemeinde auf Anweisung der NS-Behörden ihr Friedhofsgelände veräußern; nur ein Teil blieb als solches bestehen; nach 1945 wurde der ‚Rest’-Friedhof völlig eingeebnet. 1940/1941 mussten alle arbeitsfähigen Juden unter 50 Jahren - Männer und Frauen - meist bei Bauunternehmen „Arbeitsdienst“ in Stolp und Umgebung leisten. Teilweise mussten die Stolper Juden ihre Wohnungen aufgeben; anschließend wurden sie mit anderen zusammengelegt.
Am Morgen des 9. Juli 1942 hatten sich alle Juden unter 65 Jahre in der Turnhalle der Gemeindeschule in der Wollmarktstraße einzufinden; nachdem ihnen dort ihre Wertsachen abgenommen worden waren, wurden sie am 10.Juli 1942 in Richtung Auschwitz deportiert. In dem Zug befanden sich auch alle anderen Juden aus dem Regierungsbezirk Köslin, die tags zuvor ebenfalls nach Stolp gebracht worden waren. In Küstrin wurden an den Eisenbahnzug weitere Waggons mit Juden aus anderen Teilen Deutschlands angekoppelt. Der Zugtransport soll am 12.Juli 1942 in Auschwitz angekommen sein; er war der erste, der nach Fertigstellung der Gaskammern das Vernichtungslager erreichte. Ende August 1942 wurden die älteren jüdischen Einwohner Stolps nach Theresienstadt deportiert; nur die wenigen „in Mischehe“ lebenden Juden blieben in Stolp zurück.
Eine Gedenktafel erinnert an die ehemalige (neue) Synagoge mit den Worten:
Ten mur jest rekonstrukcją ogrodzenia synagogi,
która stała w tym miejscu od roku 1902 do jej zniszczenia w czasie "nocy kryształowej" w listopadzie 1938."
Im Jahre 2006 wurde der Zaun rekonstruiert, der einst die Synagoge umgab. An den wieder errichteten Pfeilern wurden zwei Gedenktafeln angebracht, die an das einstige Gotteshaus und die Gemeinde erinnern und Inschriften in polnischer, hebräischer, englischer und deutscher Sprache tragen:
Viersprachige Gedenktafel (Aufn. N., 2007, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Auf dem verbliebenen Friedhofsteil sind kaum noch Grabsteine vorhanden; die 1907/1908 errichtete Friedhofshalle steht seit 1988 unter Denkmalschutz. Mitte der 1990er Jahre wurde hier eine Gedenktafel angebracht, die in polnischer Sprache die Inschrift trägt:
„Dies war das Leichenhaus beim jüdischen Friedhof, erbaut in den Jahren 1907/08 vom Architekten E. Röser. Stiftung zum ewigen Gedenken - Gesellschaft für Denkmalschutz
Ansonsten finden sich kaum Zeugnisse jüdischer Geschichte in der Stadt.
In Stolp wurde 1878 der Maler, Bildhauer und Graphiker Otto Freundlich geboren, einer der frühesten Vertreter der abstrakten Kunst. Nach Studien in Berlin unternahm er 1908 eine erste Reise nach Paris und fand dort Anschluss an die avantgardistischen Künstlerkreise auf dem Montmartre. Seine später in München eröffnete eigene „Malschule“ war allerdings nicht erfolgreich. Nach der Revolution 1918 engagierte sich Otto Freundlich auch politisch. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 zerstörte Freundlichs enge Kontakte zu den deutschen Kunstkreisen; seine Werke wurden aus deutschen Museen entfernt - seine monumentale Plastik „Der neue Mensch“ von 1912 wählten die NS-Kunstexperten als Titelmotiv des Ausstellungskatalogs „Entartete Kunst“. In den 1930er Jahren lebte Freundlich vorwiegend in Frankreich; bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde er hier interniert und auf Betreiben Picassos von den französischen Behörden freigelassen. Nach seiner Denunzierung wurde er von der deutschen Besatzungsmacht ins KZ Majdanek-Lublin deportiert, wo er 1943 umkam. - In St. Wendel erinnert heute eine vom Künstler Leo Kornbrust gestaltete Basalt-Pyramide an Otto Freundlich; dessen Idee, eine völkerverbindende Skulpturenstraße zu schaffen, wurde inzwischen realisiert; man findet diese zwischen St.Wendel und Bostalsee.
Hedwig Lachmann - eine der bedeutendsten jüdischen Schriftstellerinnen, Übersetzerinnen u. Dichterinnen - wurde als ältestes von sechs Kindern des Kantors Isaak Lachmann (1838–1900) in Stolp geboren, wo sie ihre ersten sieben Lebensjahre verbrachte; danach war Hürben (Krumbach) ihr Zuhause. Bereits als Fünfzehnjährige machte sie ihr Examen als Sprachlehrerin in Augsburg. Danach war sie in verschiedenen Ländern tätig, ab 1889 war Berlin dann ihr Wohnort, wo sie literarisch (zunächst als Übersetzerin) tätig war. Später veröffentlichte sie Gedichte und 1905 eine Oscar-Wilde-Monographie. Nach ihrer Übersiedlung nach Krumbach (1917) starb sie ein Jahr später an einer Lungenentzündung; sie wurde auf dem jüdischen Friedhof Krumbach beigesetzt.
Weitere Informationen:
F. Schulz/B. Wolter, Stolp - Bilder aus dem Leben der Stadt von 1860 - 1984, hrg. im Auftrag der Heimatkreisausschüsse Stadt Stolp und Landkreis Stolp, Bonn/Bad-Godesberg 1984
Gerhard Salinger, “Zwischen Zeit und Ewigkeit” - Ein Rückblick und Beitrag zum Leben und Schicksal der Juden in Stolp in Pommern, Wedel 1991 (Selbstverlag)
Paul Salinger (Bearb.), Die jüdische Gemeinde in Stolp, in: M.Heitmann/J.H.Schoeps (Hrg.), “Halte fern dem ganzen Land jedes Verderben ...” Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, Georg Olms Verlag, Hildesheim/Zürich 1995, S. 163 - 172
Bernhard Vogt, Antisemitismus und Justiz im Kaiserreich: Der Synagogenbrand in Neustettin, in: M.Heitmann/J.H.Schoeps (Hrg.), “Halte fern dem ganzen Land jedes Verderben ...” Geschichte und Kultur der Juden, in Pommern, Georg Olms Verlag, Hildesheim/Zürich 1995, S. 388 f.
Peter Kohlhas (Bearb.), Bildung einer jüdischen Gemeinde, Hrg. Stolper Heimatkreise e.V., online abrufbar unter: stolp.de/stolp_kirchliche_gemeinden
Wolfgang Wilhelmus, Geschichte der Juden in Pommern, Ingo Koch Verlag, Rostock 2004
Joel Mattey, Die verlorene Spur. Auf der Suche nach Otto Freundlich, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005
Gerhard Salinger, Die einstigen jüdischen Gemeinden Pommerns. Zur Erinnerung und zum Gedenken, New York 2006, Teilband 3, Teil III, S. 774 – 812
Slupsk, in: sztetl.org.pl
K.Bielawski (Red.), Der jüdische Friedhof von Stolp (Slupsk), in: kirkuty.xip.pl