Storndorf/Vogelsberg (Hessen)

Kreis Hungen - WikiwandDatei:Mittelhessen Vogelsberg Sal.png Das derzeit ca. 800 Bewohner zählende Dorf Storndorf ist heute Teil der Verbandsgemeinde Schwalmtal im hessischen Vogelsbergkreis – knapp 15 Kilometer südlich von Alsfeld gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von Storndorf, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Vogelsbergkreis', Andreas Trepte 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 2.5).

 

In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts stellten die jüdischen Bewohner etwa ein Fünftel der gesamten Dorfbevölkerung.

Im am Oberlauf der Schwalm gelegenen Storndorf siedelte sich Ende des 16.Jahrhunderts erstmals urkundlich nachweisbar eine jüdische Familie an. Die wenigen Juden standen unter dem Schutz der Junker von Storndorf und lebten in ärmlichen Verhältnissen. Bei der christlichen Bevölkerung stieß ihre Ansässigkeit auf Ablehnung, wie eine Aussage des Pfarrers aus Oberbreidenbach um 1660 belegt: „... Es ist nicht ohne, daß Christenleute den christenfeindlichen Juden aufsäßig [sind] und das muß sein. Daß aber die Dorfobrigkeit [die Junker] ihnen geneigt ist, sie schützen und uns unterdrücken will, solches ist Gott zu klagen.” Die Unterhälfte des Dorfes stand bis 1713 im Lehen der adligen Familie von Storndorf (nach ihrem Aussterben fiel es an den hessischen Landgrafen); die obere Hälfte wurde von den Herren von Seebach verwaltet. In beiden Ortsteilen lebten je elf jüdische Familien, die zu Schutzgeldzahlungen verpflichtet waren.

Mehrfach wurden schriftliche Beschwerden gegen die Juden geführt und an die Behörden weitergeleitet; so schrieb um 1770 der Pfarrer von Oberbreidenbach: „... Die Juden maßen sich vieles Recht an. Ihre Schule ist an offener Straße, ihre Zusammenkünfte auch an christlichen Feiertagen. Sie versammeln sich oft an ihren Feiertagen in großer Zahl auf dem Anger, so daß die Gefahr der Excesse groß ist. Die Beschneidung durch den sogenannten Judendoktor und das darauf stattfindende Festmahl findet oft an christlichen Feiertagen statt. ... (aus: Alfred Deggau, Storndorf - Beiträge zum Geschichtsbild eines Vogelsberger Dorfes ..., S.73 ff.)

Die hessischen Landgrafen wiesen die beiden Storndorfer Adelsfamilien an, die Zahl der jüdischen Familien in Storndorf auf sehr wenige zu begrenzen. Doch diese gewährten weit mehr Familien Schutz - natürlich gegen entsprechende finanzielle Gegenleistungen. Das Verhältnis zwischen christlicher und jüdischer Bevölkerung war bis ins 19.Jahrhundert hinein voller Spannungen; auch kam es zu Gewalttätigkeiten. Oft ging es dabei um Nutzungsrechte der dörflichen Gemeindeflächen.

Eine organisierte jüdische Gemeinde bildete sich erst um 1750. Im Jahre 1770 ist mit Aron Joseph für die inzwischen auf 13 Familien angewachsene Gemeinde erstmals ein „Judenschulmeister“ namentlich genannt, der die religiösen Aufgaben innerhalb der Gemeinde wahrnahm. Von 1865 bis 1897 war hier als Elementarlehrer und Kantor der aus Heppenheim/Bergstraße stammende Jakob Stern tätig.

Gegen Ende des 18.Jahrhunderts nahm die Zahl der in Storndorf lebenden Familien deutlich zu und erreichte in den 1870er Jahren mit fast 200 Personen ihren Höchststand.

        aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 10.Dez. 1885

Im Jahre 1887, als bereits vermehrt jüdische Familien aus Storndorf abwanderten, weihte die Gemeinde in der Valkenröder Straße ein neues zweigeschossiges Synagogengebäude ein; zuvor hatte es hier einen bescheidenen Betraum gegeben, der um 1830 erweitert worden war.

Ein relativ großer jüdischer Begräbnisplatz („Judengarten“) befand sich an der Straße nach Meiches hinter dem Galgenberg; vermutlich war er gegen Ende des 18.Jahrhunderts angelegt worden. Bei Beerdigungen innerhalb der Gemeinde war es Brauch, dass die Frauen den Trauerzug nur bis zum Flüsschen Schwalm begleiteten.

Die Gemeinde gehörte dem orthodoxen Provinzialrabbinat Oberhessen mit Sitz in Gießen an.

Juden in Storndorf:

         --- um 1680 ................... ca.  50 Juden,

    --- um 1770 .......................   8 jüdische Familien,

    --- 1800 ..........................  11     “        “   ,

    --- 1822 .......................... 123 Juden (ca. 20% d. Dorfbev.),

    --- 1839 .......................... 158   “  ,

    --- 1846 .......................... 173   “  ,

    --- 1870 .......................... 188   “   (ca. 20% d. Dorfbev.),

    --- um 1905 .......................  92   “   (ca. 11% d. Dorfbev.),

    --- 1925 ..........................  38   “   (ca. 4% d. Dorfbev.),

    --- 1933 ..........................  21   “  ,

    --- 1939 (Sept.) ..................  keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 300

und                 Alfred Deggau, Storndorf - Beiträge zum Geschichtsbild eines Vogelsberger Dorfes unter dem Adel

 

Bis in die 1860er Jahre spielte der Handel im nahen Lauterbach eine größere Rolle; denn hier bestand für Juden kein Wohnrecht, da die Familie Riedesel ihnen dies verweigerte. Die Zahl der in Storndorf lebenden Juden verringerte sich ab Ende der 1880er Jahre deutlich; durch Abwanderung verlor die Kultusgemeinde innerhalb 30 Jahre etwa Dreiviertel ihrer Angehörigen. Die im Orte verbliebenen Familien verdienten ihren Lebensunterhalt im Vieh- und Manufakturenhandel. Zu Beginn der NS-Zeit war die jüdische Gemeinschaft auf wenige Familien zusammengeschrumpft.

Im November 1938 wurde der Innenraum der hiesigen Synagoge zerstört; ein gelegter Brand wurde von Nachbarn gelöscht. Das verwüstete Synagogengebäude stand eine Weile leer, wurde dann für 400 RM verkauft und diente während der Kriegsjahre als Unterkunft für polnische und russische Kriegsgefangene, die auf Bauernhöfen Zwangsarbeit leisten mussten.

Ein Jahr später war Storndorf „judenfrei”.

Namentlich sind 13 aus Storndorf stammende Personen mosaischen Glaubens bekannt, die der „Endlösung“ zum Opfer fielen; anderen Angaben zufolge (nach Listen der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem) sollen insgesamt 45 gebürtige bzw. länger am Ort ansässig gewesene Storndorfer Juden die NS-Herrschaft nicht überlebt haben (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/storndorf_synagoge.htm).

 

Heute erinnert nur das weit außerhalb des Ortes gelegene großflächige Friedhofsgelände (ca. 4.000 m²) mit seinen ca. 100, oft mit phantasievollen Ornamenten versehenen Grabsteinen an die frühere Existenz einer jüdischen Gemeinde am Ort.

grab_044

"Versteckte Grabsteine" (Aufn. R. Hauke, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)  - ein Grabstein von 1805 (Abb. Kulturverein Storndorf)

Auf Grund von Umbauten lassen sich heute am ehemaligen Synagogengebäude keine Merkmale seiner früheren Bestimmung mehr erkennen. Im Umkreis von Storndorf findet man auf dem sog. „Judenpfad“ Informationstafeln, die über die jüdische Geschichte der Region Auskunft geben.

 Anm.: Der Wanderweg „Judenpfad“ soll die alten Handelswege der Vogelsberger Juden wiederbeleben und Orte miteinander verbinden, in denen einst jüdische Gemeinden existierten. Auf Initiative des 1999 gegründeten „Fördervereins zur Geschichte des Judentums im Vogelsberg“ soll der Wanderweg auf ca. 50 Kilometer Länge die Verbindung von Gedenk- und Dokumentationsstätten im Vogelsbergkreis fördern und mit ca. 50 Tafeln als ein „dezentrales Museum“ die jüdische Geschichte der ländlichen Region vermitteln. Im Frühjahr 2012 wurde die erste Etappe des „Judenpfades“ eingeweiht.

 

 

In Schwalmtal - im Ortsteil Waldniel - erinnern seit 2019 einige sog. „Stolpersteine“ an Angehörige jüdischer Familien, die Opfer der NS-Verfolgung geworden sind.

verlegt in der Pumpenstraße

            .... und am Bleichwall, in der Gladbacher u. in der Dülkener Straße (alle Abb. Rudolpho, 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0) 

 

 

 

Weitere Informationen:

Alfred Deggau, Storndorf - Beiträge zum Geschichtsbild eines Vogelsberger Dorfes unter dem Adel, Hrg. Geschichts- und Altertumsverein der Stadt Alsfeld, o.J., S.73 ff.

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 300 f.

A. Wiesemüller/M. Krauss, Jüdische Friedhöfe im Vogelsbergkreis, in: Kulturverein Lauterbach e.V. (Hrg.), Fragmente ... jüdischen Lebens im Vogelsberg, Lauterbach 1994, S. 85/86

Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945, Hessen II Regierungsbezirk Darmstadt, 1995 S. 203

Storndorf, in: alemannia-judaica.de (mit einigen Dokumenten zur jüdischen Lokalhistorie)

Kulturverein Storndorf (Bearb.), Der Judenfriedhof in Storndorf, online abrufbar unter: kulturverein-storndorf.de

Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde (mit Namensnennung der während der NS-Zeit verschleppten und ermordeten jüdischen Storndorfer), online abrufbar unter: kulturverein-storndorf.de

Mathilda Wertheim Stein, The Way it Was. The Jewish World of Rural Hesse, FrederickMax Publications, Atlanta/Georgia (USA) 2000

Mathilda Wertheim Stein, The Way it was. Jewish life in Storndorf and Ulrichstein in Upper Hesse, FrederickMax Publications, Atlanta/Georgia/USA 2011

Auflistung der Stolpersteine in Schwalmtal, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Schwalmtal

Kulturverein Storndorf (Hrg.), Jüdische Geschichte, Storndorf Nov. 2019 (mit kurzen Aufsätzen zur jüdischen Gemeindehistorie)