Thalmässing (Mittelfranken/Bayern)
Thalmässing ist ein Markt mit derzeit ca. 5.400 Einwohnern im mittelfränkischen Landkreis Roth - ca. 25 Kilometer südlich von Nürnberg gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Roth', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts machte der jüdische Bevölkerungsanteil im Markt Thalmässing zeitweilig bis zu 30% aus.
Erste Hinweise auf jüdisches Leben in Thalmässing lassen sich in der zweiten Hälfte des 15.Jahrhunderts nachweisen; allerdings lebten anscheinend seinerzeit nur sehr wenige Juden hier. Auch im beginnenden 16.Jahrhundert waren jüdische Familien - mit Schutzbriefen ausgestattet - in Thalmässing ansässig, ehe diese in den 1560er Jahren vom Ansbacher Markgrafen vertrieben wurden. Die Wurzeln einer neuzeitlichen israelitischen Gemeinde in der evangelischen Enklave Thalmässing wurden in den Jahren vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges gelegt. Im Laufe des 17./18.Jahrhunderts ließen sich in Thalmässing - es war aus drei kleinen Dörfern zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammengewachsen – weitere Familien mosaischen Glaubens nieder - nun wieder gefördert von den Markgrafen, die sich damit eine wirtschaftliche Wiederbelebung in ihren Territorien versprachen. Dadurch, dass Thalmässing seit dem Jahre 1700 auch das Marktrecht besaß und sích nun zu einem zentralen Handelsplatz entwickelte, war der Ort für jüdische Händler attraktiv – zumal in der unmittelbaren Nachbarschaft (Herzogtum Pfalz-Neuburg) Juden nicht geduldet wurden.
Gegen einen weiteren Zuzug von Juden wandte sich 1720 der hiesige Pfarrer Johann Simon Beck an die markgräfliche Kirchenbehörde mit einem Schreiben, in dem es u.a. hieß: „ … Die Judenschaft dahier ist in den letzten 70 Jahren von einigen auf über 300 Seelen angewachsen. … haben sie ein Haus ums andere … angekauft und sich so sehr vermehrt … so werden dadurch die Pfarren, sonderlich meine Pfarrei, die ohnehin nur aus 22 Haushalten besteht, merklich geschwächt werden und mithin die Kirche, Schule und Almosen, weil die Juden keine jura stolae (=Stolgebühren) entrichten, großen Abgang leiden. Daher in Erwägung dessen ergehet mein fußfälliges demütiges Bitten, … daß sämtliche Juden ihre jura stolae … entrichten müssen...“
Doch trotz dieser vorgebrachten Bedenken gewährte ein 1737 durch die Herrschaft erlassenes Dekret den hier ansässigen jüdischen Familien das Recht, Immobilien und Ackerflächen zu erwerben. Gegen Mitte des 18.Jahrhunderts erreichte die Zahl der in Thalmässing ansässigen jüdischen Familien mit weit mehr als 200 Bewohnern (in ca. 40 Familien) ihren vorläufigen Höchststand. Die meisten Familien lebten damals aber in recht ärmlichen Verhältnissen; einige waren nicht einmal in der Lage, ihr Schutzgeld aufzubringen.
Eine bereits in den 1690er Jahren bestehende Synagoge stand den Gemeindeangehörigen bis zum Bau eines an gleicher Stelle errichteten neuen Gebäudes zur Verfügung. Die Einweihung nahm Anfang August 1857 der Distriktrabbiner Dr. Mayer Löwenmayer aus Sulzbürg vor.
Synagoge in Thalmässing (Postkartenausschnitt)
Zu den gemeindlichen Einrichtungen zählten zudem eine Religions- und Elementarschule (zunächst in der Merleinsgasse, ab 1840 in der Schulgasse) und eine Mikwe in der Nähe der Synagoge.
aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 18.Okt. 1871 und "Bayerische Israelitische Gemeindezeitung" vom 9.Febr. 1927
Anm.: Außer den Lehrern hatte die Kultusgemeinde im 19. Jahrhundert zeitweise auch noch einen Vorbeter für die Wochentage angestellt, der zugleich als Schächter sowie als Gemeinde- und Begräbnisdiener tätig war.
Die jüdische Gemeinde unterhielt am Ort eine Armenherberge; hier erhielten jüdische Bettler eine Mahlzeit und ein Nachtlager.
Ein Friedhofsgelände war um 1830/1832 am südlichen Ortsrand (in der Flur 'Leiten') angelegt worden; die beiden ortsansässigen Familien Heidecker und Niedermair (Niedermayer) hatten durch ihre Spenden dessen Anlage (mit einem Taharahaus) ermöglicht. In den Zeiten zuvor hatten Verstorbene auf dem mehr als 20 Kilometer entfernten jüdischen Verbandsfriedhof in Georgensgmünd ihre letzte Ruhe gefunden. Auf dem Friedhof in Thalmässing wurden dann auch verstorbene Glaubensgeenossen aus Eichstätt begraben.
Die Gemeinde gehörte bis 1851 zum Bezirksrabbinat Schwabach, anschließend zu dem von Sulzbürg; zuletzt unterstand sie dem Bezirksrabbinat Nürnberg.
Juden in Thalmässing:
--- 1618 ....................... ca. 5 jüdische Familien,
--- 1674 ........................... 8 “ “ ,
--- 1689 ........................... 14 “ “ ,
--- 1714 ........................... 21 “ “ ,
--- 1743 ........................... 227 Juden (in 42 Familien),
--- 1811/12 ........................ 210 “ (ca. 21% d. Bevölk.),
--- 1835 ....................... ca. 330 “ (ca. 30% d. Bevölk.),
--- um 1855 .................... ca. 55 jüdische Haushaltungen
--- 1867 ........................... 202 Juden (ca. 17% d. Bevölk.),
--- 1880 ........................... 112 “ (ca. 10% d. Bevölk.),
--- 1890 ........................... 98 “ (ca. 8% d. Bevölk.),
--- 1910 ........................... 51 “ ,
--- 1925 ........................... 42 “ ,
--- 1933 ........................... 33 “ ,
--- 1937 ........................... 19 “ ,
--- 1939 (Mai) ..................... keine.
Angaben aus: Baruch Z.Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945 , S. 230
und Thalmässing, in: alemannia-judaica.de
Im Unterschied zu anderen jüdischen Gemeinden führte in Thalmässing der sog. Matrikelparagraph von 1813 nicht zu einer Reduzierung der jüdischen Bevölkerung, sondern zu deren weiteren Anwachsen und erreichte in den 1830er Jahren etwa ein Drittel der Gesamteinwohnerschaft. Anders als im 18.Jahrhundert setzte sich nun die hiesige Judenschaft mehrheitlich aus „vollbegüterten Familien“ zusammen. 1840 kam es in Thalmässing zu wochenlangen Ausschreitungen gegen hiesige jüdische Bewohner; hervorgerufen wurden diese Exzesse durch das Wiederaufleben einer Ritualmord-Legende.
Mit der Aufhebung des Matrikelparagraphen (1861) sank innerhalb weniger Jahrzehnte die Zahl der jüdischen Familien durch Ab- und Auswanderung beträchtlich.
hist. Postkarte mit Synagoge oben rechts (Abb. aus: wikipedia.org, CCO)
Die in Thalmässing lebenden Juden waren weitestgehend integriert und genossen wegen ihres Engagements innerhalb der kleinstädtischen Gesellschaft allgemein Anerkennung.
Zu Beginn der 1930er Jahre lebten nur noch etwa 30 Juden im Ort. 1937 löste sich die jüdische Gemeinde völlig auf, da hier noch verbliebene jüdische Händler systematisch boykottiert wurden und so ihre Wirtschafts- und Lebensgrundlage verloren; die Synagoge wurde nun wegen fehlenden Minjans geschlossen. Der Synagogeninnenraum wurde beim Novemberpogrom von 1938 verwüstet, wobei noch vorhandene Ritualgegenstände vernichtet wurden; sechs Thorarollen waren bereits zuvor in die Obhut des Verbandes der Bayrischen Israelitischen Gemeinden in München gegeben worden. Die drei Tage andauernden Ausschreitungen erlebte die nur noch aus sieben Personen bestehende örtliche Judenschaft mit; bis Mitte Mai 1939 hatten dann alle den Ort verlassen.
Das Synagogengebäude - danach als landwirtschaftlicher Lagerraum bzw. als Sporthalle genutzt - blieb bis zu dessen späterem Abriss (1972) erhalten.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind nachweislich 40 gebürtige bzw. längere Zeit in Thalmässing ansässig gewesene jüdische Bürger Opfer der NS-Verfolgung geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/thalmaessing_synagoge.htm).
Der mit einer Mauer umgebene jüdische Friedhof beherbergt noch relativ viele alte Grabsteine; allerdings steht ein Großteil der Steine nicht mehr an seinem ursprünglichen Platz. Der in der NS-Zeit schwer geschändete Friedhof war unmittelbar nach Kriegsende wieder hergerichtet worden; auf Initiative eines US-Soldaten hatten ehemalige NSDAP-Angehörige die verstreuten Grabsteine auf dem Friedhofsgelände wiederaufzurichten. Das Taharahaus wurde Ende der 1960er Jahre wegen Baufälligkeit abgebrochen.
Jüdischer Friedhof in Thalmässing (Aufn. Hoefler, 2018, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Zum 80. Jahrestag des Novemberpogroms wurde auf dem jüdischen Friedhof ein Gedenkstein für die 33 deportierten Opfer des NS-Regimes aufgestellt. Jüngst fand die Dokumentation der ca. 130 Grabsteine des jüdischen Friedhofs ihren Abschluss (Stand 2022).
ehem. Synagogengebäude (Aufn. Renate Pannenbecker, um 1965)
Unweit des Standortes der Synagoge - das Gebäude wurde Anfang der 1970er Jahre abgebrochen, nachdem es während der Krieges als Getreidespeicher und dann bis in die 1960er Jahre als Turnhalle zweckentfremdet worden war - erinnert in der Merleinsgasse seit 2000 ein Gedenkstein an die einstige jüdische Gemeinde des Marktes Thalmässing.
Gedenktafel (Aufn. aus: thalmaessing.de)
Zum Gedenken (hebr.)
Wie ehrfurchtsgebietend ist dieser Ort, hier ist nichts anderes als Gottes Haus (Gen. 28,17)
Im Gedenken an die jüdische Gemeinde in Thalmässing.
1531 Erste Erwähnung von Juden – 1690 Bau der Synagoge – 1832 Errichtung des Friedhofs – 1857 Neubau der Synagoge –
1938 Pogrom und Vertreibung der Juden – 1972 Abriss der Synagoge
Das Gebäude der ehemaligen jüdischen Schule ist noch erhalten und dient Wohnzwecken (Aufn. Markt Thalmässing).
Eine dreieckige granitene Gedenksäule wurde 2018 im Gedenken an die ermordeten Bewohner der ehemaligen Synagogengemeinde aufgerichtet. Hier sind die Namen der 33 Thalmässinger Juden verewigt, die in den Jahren der NS-Zeit von hier deportiert und ermordet wurden.
Im Rahmen des Kooperationsprojekts „TACHLES – Spuren jüdischen Lebens im südlichen Mittelfranken“ wurden - über den Ort verteilt - vier Informationstafeln aufgestellt, die über das einstige jüdische Leben in Thalmässing Auskunft geben: so weist eine Tafel auf die sog. "Judenwege" hin; eine zweite befindet sich am Standort der ehemaligen jüdischen Schule; eine dritte steht am Synagogengedenkstein (Ringstraße) und die vierte am jüdischen Friedhof.
Als wohl bekannteste jüdische Persönlichkeit aus Thalmässing gilt Josef Schülein (geb. 1854). Nach dem frühen Tod seines Vaters verließ die Familie das Dorf und ließ sich in München nieder. Neben Bank- u. Immobiliengeschäften bildete auch der von ihm betriebene Hopfenhandel die Basis für das Betreiben einer Großbrauerei in München, die aus.der „Unionsbrauerei Schülein & Cie.“ hervorging und nach Übernahme der ‚Münchner-Kindl-Brauerei‘ zum ‚Löwenbräu' wurde. Josef Schülein engagierte sich vorbildlich auf sozialem Gebiet, so ermöglichte er u.a. den Bau einer Siedlung mit Sozialwohnungen (Stadtteil Berg am Laim). Nach antisemitischen Anfeindungen zog er sich 1933 aus dem Geschäftsleben zurück und gab seinen Aufsichtsratsposten bei ‚Löwenbräu‘ ab. Fünf Jahre später verstarb er auf seinem Schlossgut Kaltenberg. In Berg am Laim erinnert heute ein Straße und ein Platz (mit Schüleinbrunnen) an den jüdischen Unternehmer.
Weitere Informationen:
Eugen Pfitzinger, Christen und Juden lebten einträchtig nebeneinander. Aus der Thalmässinger Judengemeinde, in: "Heimatblätter für den Kreis Hilpoltstein", No. 1/1960, S. 3 f.
Baruch Z.Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, München/Wien 1979, S. 230/231
Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, München/Wien 1979
Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 194
Michael Trüger, Der jüdische Friedhof in Thalmässing, in: "Der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern", 11.Jg., No. 73/1997, S. 16 f.
Ralf Rossmeisl, Jüdische Heimat Thalmässing (Faltblatt), hrg. von der Evang. KirchengemeindeThalmässing 1998
Andrea Karch/Ernst Wurdak, 1100 Jahre Thalmässing. Geschichte und Gegenwart, Markt Thalmässing 2000
Thalmässing, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Cornelia Berger-Dittscheid, Thalmässing, in: Mehr als Steine ... Synagogengedenkband Bayern, Band 2, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2010, S. 639 – 651
Lothar Mayer, Jüdische Friedhöfe in Mittel- und Oberfranken, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2012, S. 182 - 185
luf/al (Red.), Thalmässing – Reiche jüdische Geschichte, in: „Donaukurier“ vom 8.11.2013
N.N. (Red.), Gedenkstein für die jüdischen Opfer, in: „Hilpoltsteiner Kurier“ vom 22.12.2017
N.N. (Red.), Das Gedenken hat jetzt einen Ort, in: „Donaukurier“ vom 13.9.2018
Robert Unterburger (Red.), Gedenkstein erinnert an die Thalmässinger Juden, in: nordbayern.de vom 17.9.2018
Robert Unterburger (Red.), Den Ermordeten ein Andenken – Thalmässing ergänzt die Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof um einen Gedenkstein für die 33 Deportierten, in: „Hilpoltsteiner Kurier“ vom 31.1.2019
Andrea Karch (Red.), Verbeugung vor der jüdischen Vergangenheit, in: „Donaukurier“ vom 11.4.2019
Andrea Karch (Red.), Jüdische Geschichte im Focus – Thalmässing, Georgensgmünd und Pappenheim sind am Leader-Projekt „Tachles“ beteiligt, in: „Hilpoltsteiner Kurier“ vom 28.8.2020
Nathanja Hüttenmeister (Bearb.), Traditionsbewusst und modern aufgeschlossen. Inschriftenstilistik auf dem jüdischen Friedhof Thalmässing, in: "Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut", Heft3/4 2020
Miriam Zöllich (Red.), Die Broschüre „Tachles“ ist fertig – Das jüdische Leben in der Region auf 80 Seiten, in: nordbayern.de vom 1.8.2021
Kommunen Pappenheim, Thalmässing u. Georgensgmünd (Bearb.), Tachles – Spuren jüdischen Lebens im südlichen Mittelfranken (Broschüre), 2021, online abrufbar unter: thalmaessing.de/fileadmin/Dateien/ERLRO_Tachles_A5_Web.pdf (zu Thalmässing siehe: S. 56 - 69)
HK (Red.), Ein weiterer Baustein jüdischer Geschichte, in: „Hilpoltsteiner Kurier“ vom 27.12.2021