Thüngen (Unterfranken/Bayern)
Thüngen mir derzeit ca. 1.300 Einwohnern ist ein Markt im unterfränkischen Landkreis Main-Spessart und Mitglied der Verwaltungsgemeinschaft Zellingen – nur wenige Kilometer östlich der Kreisstadt Karlstadt bzw. ca. 25 Kilometer nördlich von Würzburg gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Main-Spessart', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die jüdische Kultusgemeinde von Thüngen war Mitte des 19.Jahrhunderts die zahlenmäßig größte im Gebiet des heutigen Landkreises Main-Spessart.
Vereinzelt waren aus Würzburg vertriebene Juden vermutlich bereits um 1429/1430 nach Thüngen gekommen. Weitere Ausweisungen führten gegen Mitte des 16.Jahrhunderts zur Ansiedlung zahlreicher jüdischer Familien in reichsritterschaftlichen Territorien in der Region. Die in Thüngen nun lebenden jüdischen Familien standen zu einem Teil unter dem Schutz der Freiherren von Thüngen und (später) zum anderen Teil unter dem des Juliusspitals, das mit Erlaubnis des Würzburger Fürstbischofs 13 jüdische Familien ansiedeln ließ. Als Gegenleistung ihrer gestatteten Ansässigkeit waren die Juden zur Zahlung von Schutzgeldern an die Freiherren bzw. an das Juliusspital verpflichtet, zu denen im Laufe der Zeit noch weitere Abgaben hinzukamen, wie z.B. Leibzoll und Totenzoll.
(Abb. aus: gutsverwaltung-thuengen.de)
Der Adelsfamilie der Thünger Freiherren war bereits 1412 vom Kaiser Wenzel das "Judenprivileg" zugestanden worden. Um 1810 sollen ihrer Grundherrschaft mehr als 800 (!) Juden unterstanden haben. Am Burggraben war den Juden gestattet worden, „Schutzjudenhütten“ zu bauen. Da sie keine Landwirtschaft betrieben und kein Handwerk ausüben durften, bestritten die hiesigen Juden ihren schmalen Lebensunterhalt als Hausierer und als Geldverleiher. Für die kleine Ortschaft bedeutete die Existenz von Juden eine Belebung des Handels, der mit Stoffen, Holz- und Eisenwaren, aber auch mit Vieh betrieben wurde.
An Stelle der alten inzwischen baufälligen "Judenschule" in der Oberen Gasse - diese wurde lange Zeit von beiden Teilen der Thünger Judenschaft benutzt und unterhalten, wobei es des öfteren zu Kontroversen zwischen 'Burgjuden' und 'Spitaljuden' kam - errichtete die Kultusgemeinde in den 1850er Jahren auf dem gleichen Gelände ein neues zweigeschossiges Synagogengebäude.
Ehemalige Synagoge (aus: Heimatbuch Franz Kugler)
Stellenangebote aus der Zeitschrift „Der Israelit" vom 10.März 1869 und vom 13.Sept. 1879
1884 wurde die Einweihung einer neuen Torarolle feierlich begangen, wie in einem Bericht der Zeitschrift „Der Israelit“ vermeldet wird: “ … Am Freitag Abend gegen 8 Uhr versammelten sich die zu dieser Feier eingetroffenen Gäste in einem herrlich dekorierten Saale … Die erhebende Andacht dauerte bis 2 Uhr und ein jeder freute sich mit der Pracht auch die Bedeutung der Tora vereint zu sehen. Nach früh vollendetem Aufstehen versammelten sich die Festteilnehmer Vormittags gegen 9 Uhr zum Festzuge.
Dieser war aufs Gelungenste arrangiert, und wurde von der hiesigen Schuljugend eröffnet. Die Schüler mit Fahnen und Schärpen versehen, während die Mädchen mit Kränzen und Bändern geschmückt waren. - Diesen folgten einige Fahnenträger, diesen ein Teil der Chevra-Mitglieder, dann der Distrikts-Rabbiner, die neue Torarolle tragend, vom Lehrer und Chevravorstand begleitet. Den übrigen Teil des Zuges bildeten die Chevra mit 4 Torarollen - als Begleitung der neuen - die Herren Vorstände, der Herr Bürgermeister mit dem ganzen Gemeindeausschusse, die Ehrengäste und die übrigen Gemeindeangehörigen. Der Festgottesdienst verlief ganz dem Programme entsprechend. Die Festpredigt, die Herr Distriktsrabbiner Nathan Bamberger hielt, war eine sehr gediegene und fand ungeteilten Beifall. …
Der Tag bot noch manches Vergnügen für Jung und Alt. So verlief denn das ganze Fest in würdigster Weise und herrschte bei Allen nur die eine Stimme, daß die Feier eine höchst gelungene gewesen. ...“ (Bericht stark gekürzt)
Seit Mitte des 19.Jahrhunderts gab es am Ort eine jüdische Elementarschule in der Bauerngasse; zuvor hatten die Kinder die evangelische Ortsschule besucht.
Herausragende Lehrerpersönlichkeit Thüngens war Ascher Eschwege (geb. 1850). Als Sohn eines Lehrers hatte er einen Teil seiner Kindheit bereits in Thüngen verbracht, als er dann 1879 die Lehrerstelle in Thüngen übernahm, die er ca. vier Jahrzehnte inne hatte. Durch seine Tätigkeit erwarb er sich hohes Ansehen im Ort unter Juden und Christen gleichermaßen, sodass er an seinem 80. Geburtstag im Jahr 1930 als „eine der populärsten und ehrwürdigsten Persönlichkeiten in der unterfränkischen Judenheit“ gefeiert wurde.
Neujahrswünsche von Lehrer Eschwege u. Frau (1897)
Ihre Verstorbenen beerdigte die hiesige Judenschaft auf dem jüdischen Verbandsfriedhof in Laudenbach, der von bis zu 14 Gemeinden genutzt wurde.
Hinweis: Mit seinen noch mehr als 2.300 erhaltenen Grabsteinen ist dieser jüdische Friedhof der zweitgrößte in Unterfranken.
Juden in Thüngen:
--- um 1700 ...................... 28 ‘Schutzjuden’-Familien,
--- um 1740 ...................... 42 “ “ ,
--- 1813 ......................... 271 Juden (ca. 28% d. Bevölk.),* * andere Angabe: 160 Pers.
--- 1837 ......................... 350 “ (ca. 40% d. Bevölk.),
--- 1848 ......................... 203 " (in 44 Familien),
--- 1867 ......................... 227 “ (ca. 25% d. Bevölk.),
--- 1880 ......................... 231 “ ,
--- 1900 ......................... 218 “ (knapp 20% d. Bevölk.),
--- 1910 ......................... 194 " ,
--- 1925 ......................... 180 “ ,
--- 1933 ......................... 152 “ (ca. 14% d. Bevölk.),
--- 1937 ..................... ca. 140 “ ,
--- 1939 ......................... 14 “ ,
--- 1940 (Dez.) .................. 4 “ ,
--- 1942 (Febr.) ................. 3 “ ,
(April) ................. keine.
Angaben aus: Leonard Scherg, Jüdisches Leben im Main-Spessart-Kreis. Orte, Schauplätze, Spuren, S. 49 f.
und Fritz Kugler, 1200 Jahre Thüngen - Heimatbuch
Jüdische und christliche Bevölkerungsgruppen sollen - von Ausnahmen abgesehen - konfliktfrei zusammengelebt haben.
Aus einem Bericht des Jahres 1915: „ ... Die Israeliten gehören zum Distrikts-Rabbinat Würzburg. Sie besitzen hier eine eigene Synagoge und Schule; die Gottesdienste hält der hiesige jüdische Lehrer. Zwischen den einzelnen Konfessionen besteht ein durchaus friedliches Verhältnis. ...” Zu Beginn der 1930er Jahre lebten etwa 150 Juden in Thüngen, d.h. jeder 7. Bewohner war zum damaligen Zeitpunkt mosaischen Glaubens.
Geschäftsanzeigen (1904/1924)
Nach der NS-Machtübernahme 1933 wurden auch in Thüngen die bestehenden teilweise recht freundschaftlichen Beziehungen untereinander gekappt; eine scharfe antijüdische Propaganda setzte ein.
Aus einem Flugblatt, das in Thüngen 1935 kursierte:
Ohne Brechung der Judenherrschaft keine Erlösung der Menschheit.
Wir haben gemerkt, daß die Juden in Thüngen sich einbilden, daß die nat.soz. Revolution vorüber wäre und sie verschont geblieben seien.
Wir sagen den Juden ab heute den schärfsten Kampf an. Wir werden nicht ruhen, bis wir die Blutsauger, Parasiten, Rassenschänder und Teufel in Menschengestalt in Thüngen vernichtet haben. Ihr, die Ihr Euch “Deutsche” nennt und mit diesen asiatischen Pack noch Geschäfte macht, sei an dieser Stelle gesagt, daß Ihr Euch eines Tages für Euer volksverräterisches Tun zu verantworten habt. Daß artvergessene Frauen von Parteigenossen heute noch zu Juden laufen, veranlaßt uns dieselben demnächst an den Pranger zu stellen. ... Ihr deutschbewußten Volksgenossen, Euch fordern wir auf, uns weiterhin in unserem Kampf zu unterstützen.
Aus der Lokalzeitung vom 17.12.1936:
Vor dem sog. „Anschluss” Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 kam es hier zu antijüdischen Ausschreitungen, in deren Verlauf Fenster eingeschlagen und Bewohner bedroht wurden. Zahlreiche Juden flüchteten daraufhin in Nachbarorte oder nach Würzburg; sie kehrten wenige Tage später nach Thüngen zurück. Einige lösten ihre Geschäfte bzw. Wohnungen auf und verließen ihren Heimatort endgültig. Während der sog. „Sudeten-Krise“ im September 1938 kam es hier erneut zu Ausschreitungen.
1938 begann sich die jüdische Gemeinde aufzulösen; mehr als 100 jüdische Bewohner verließen den Markt Thüngen; den allermeisten gelang eine Emigration in die USA.
Beim Pogrom von 1938 eskalierten die antijüdischen Ausschreitungen in Thüngen: Neben Verwüstungen und Plünderungen von Privatwohnungen und Ladengeschäften und auch körperlichen Übergriffen auf jüdische Bewohner wurde die komplette Einrichtung der Synagoge mitsamt der Ritualien zerstört. Ein Großteil der beweglichen Güter der jüdischen Familien sowie das Inventar der Synagoge wurde zum Sportplatz verbracht, wo es im Beisein zahlreicher Ortsbewohner verbrannt wurde. Auch die Leichenhalle mitsamt dem Leichenwagen wurde vom Pöbel vernichtet. Die wenigen noch in Thüngen verbliebenen jüdischen Einwohner - 1939 waren es gerade noch 14 Personen - wurden 1940/1941 nach Würzburg gebracht und von dort im Laufe des Jahres 1942 nach Izbica bei Lublin deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 72 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene jüdische Bewohner aus Thüngen Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/thuengen_synagoge.htm).
In insgesamt drei Prozessen beim Landgericht Würzburg wurde 1949/1950 gegen eine größere Zahl von Personen ermittelt, die an den gewalttätigen Vorgängen im November 1938 in Thüngen und Arnstein beteiligt waren. Das Strafmaß für die Verurteilten bewegte sich zwischen drei und zehn Monaten Gefängnis.
Das ehemalige Synagogengebäude in der Obergasse ist heute noch erhalten; nach jahrzehntelanger gewerblicher Nutzung dient es heute Wohnzwecken. 2007 wurde hier eine Gedenktafel angebracht.
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. Elisabeth Böhrer, 2009)
Seit 2009 gibt es ein steinernes Mahnmal am Thüngener Planplatz, das die Namen von 20 Holocaust-Opfern nennt.
Mahnmal für die ermordeten Juden aus Thüngen (Aufn. J. Hahn, 2009)
Auch Thüngen beteiligt sich am Würzburger "DenkOrt Deportationen 1941-1944" mit einer aus Holz gefertigten Koffer-Skulptur; deren Doublette wurde Ende 2021 auf dem Thüngener Planplatz aufgestellt.
Kofferskulptur des Marktes Thüngen (Abb. aus: markt-thuengen.de)
Weitere Informationen:
Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München/Wien 1979, S. 410/411
Gisela Krug, Die Juden in Mainfranken zu Beginn des 19.Jahrhunderts: Statistische Untersuchungen zu ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation, in: "Mittelfränkische Studien", Band 39/1987, Würzburg 1987, S. 19 ff
Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern - eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 125
Fritz Kugler, 1200 Jahre Thüngen - Heimatbuch, Thüngen 1988, S. 238 ff.
Theodor Harburger, Die Inventarisation jüdischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Bayern, Band 3: Markt Berolzheim - Zeckendorf, Hrg. Jüdisches Museum Franken - Fürth & Schnaiitach, Fürth 1998, S. 723/724
Leonard Scherg, Jüdisches Leben im Main-Spessart-Kreis. Orte, Schauplätze, Spuren, Hrg. Förderkreis Synagoge Urspringen e.V., Haigerloch 2000, S. 40/41
Rita u. Konrad Weigelt, Erinnerungen an die ehemalige Israelitische Kultusgemeinde in Burgsinn, in: Markt Burgsinn (Hrg.), 1000 Jahre Burgsinn - Festschrift zur Milleniumsfeier der Marktgemeinde Burgsinn im Jahr 2001, Gemünden/M. 2001, S. 399/400
Thüngen, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Text- und Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Michaela Moldenhauer (Red.), Thüngen: Großvaters bester Freund war Jude, in: „Main-Post“ vom 3.1.2008 (betr.: geplante Stolperstein-Verlegung)
Holgar Reiff, Thüngen - Ein Gedenkstein wider das Vergessen. Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus am Thüngener Planplatz enthüllt, in: "Mainpost" vom 29. 6. 2009
Axel Töllner/Cornelia Berger-Dittscheid (Bearb.), Thüngen, in: W.Kraus/H.-Chr.Dittscheid/G.Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine ... Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III/1 (Unterfranken), Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2015, S. 309 - 331
Günter Roth (Red.), Thüngen beteiligt sich am Gedenkort für deportierte Juden, in: “Main-Post” vom 17.6.2020
Günter Roth (Red.), 350 Jahre lang lebten Juden in Thüngen, in: “Main-Post” vom 15.11.2021
Günter Roth (Red.), Thüngen. Gemeinsam eine bessere Geschichte schreiben, in: “Main-Post” vom 15.11.2021