Tilsit (Ostpreußen)
Die Stadt Tilsit gehört heute zur Kaliningrader Exklave Russlands, trägt den Namen Sovetsk und besitzt derzeit ca. 40.000 Einwohner (Ausschnitte aus hist. Karten, aus: europe1900.eu und aus: genwiki.genealogy.net).
Der Marktflecken Tilsit hatte 1552 Stadtrechte erhalten. Nach der Entvölkerung der Region durch die Pest (um 1710) siedelten sich in den folgenden Jahrzehnten Menschen aus allen Teilen Deutschlands hier wieder an. Tilsit wurde im Jahr 1895 zur kreisfreien Stadt erhoben.
Anm.: Die meisten Dokumente zur Stadthistorie sind in Folge des Zweiten Weltkrieges verlorengegangen, so auch die Unterlagen zur Geschichte der Tilsiter Juden.
Auf Grund ihrer günstigen geographischen Lage bot die Stadt breitgefächerte Möglichkeiten für in- und ausländische Kaufleute; dies bewog auch Juden, in Tilsit ansässig zu werden. Bevor Juden in Tilsit Stadtbürgerrechte erwerben konnten, hielten sich hier bereits jüdische Kaufleute in nennenswerter Zahl auf. Sie erreichten die Stadt zum einen auf dem Landweg über die nahegelegene Landesgrenze, zum anderen kamen sie mit Flößen auf der Memel von Litauen und Weißrussland.
Stadt Tilsit auf der Schroetterkarte, um 1800
Die Juden, die sich hier Anfang des 19.Jahrhunderts hier ansiedelten, kamen aus Westpreußen, aber auch aus russischen und litauischen Städten. Eine Gemeinde etablierte sich nach 1812. Ein um 1825 erworbenes Grundstück für den Bau einer Synagoge blieb jahrelang unbebaut, da der preußische König seine Genehmigung dafür verweigerte. Erst um 1840 erhielt die Tilsiter Judenschaft die Genehmigung zur Gründung einer eigenen Gemeinde, nachdem 1837 ein Gesetz über die Bildung von Synagogengemeinden verabschiedet worden war. Ein Jahr später begann man mit dem Bau einer Synagoge am westlichen Stadtrand an der Ecke Kirchen-/Rosenstraße; das Gebäude wurde 1842 eingeweiht.
Synagoge - Ecke Kirchen-/Rosenstraße (hist. Aufn., Stadtgemeinschaft Tilsit e.V.)
Zu Festtagen besuchten auch Juden aus nahen litauischen Dörfern die Synagoge in Tilsit.
Ein jüdischer Friedhof war hier 1825 angelegt worden.
Juden in Tilsit:
--- 1811 ........................... 13 Juden,
--- 1843 ........................... 265 “ ,
--- 1895 ........................... 780 “ ,
--- 1910 ........................... 650 “ ,
--- 1928 ....................... ca. 800 “ ,
--- 1933 ....................... ca. 640 “ ,
--- 1939 (Mai) ..................... 298 “ ,
--- 1944 ........................... 31 “ .* * in ‘Mischehe’ lebende Juden
Angaben aus: The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 3), S. 1307
Als in den 1850er Jahren - als Folge des Krimkrieges - der Grenzhandel zwischen Preußen und Russland liberalisiert wurde, profitierte besonders Tilsit auf Grund seiner Grenzlage. Die „goldenen Jahre“ der Region führten auch zu einem enormen Wachstum der jüdischen Bevölkerung in der Stadt; vor allem litauische Juden („Litvaks“) ließen sich in Tilsit nieder; sie waren vor allem als Kaufleute bekannt und vermittelten die Handelsgeschäfte mit dem Osten. Andere waren stark im Holzhandel vertreten, betrieben Sägewerke, Geschäfte und Kaufhäuser sowie die Brauerei Hirschfeld und stellten Ärzte, Rechtsanwälte und Verleger.
Blick über Tilsit (Aufn. um 1910, aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Markt mit Rathaus in Tilsit (Aufn. um 1930, Bundesarchiv, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 de)
Die Stadt Tilsit war in den letzten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts Transitstation für Zehntausende litauischer und russischer Juden, die vor Pogromen aus dem Zarenreich geflüchtet waren und in Nordamerika, Südafrika oder in Palästina einen Neuanfang wagen wollten.
Aus der „Königsberger Hartung’schen Zeitung” vom 19.8.1887:
Provinzielles.
Tilsit, 18.Aug. Die Judenauswanderungen aus Rußland haben zwar von dem Umfange, welchen sie zur Zeit der großen russischen Judenverfolgung hatten, schon viel verloren, jedoch dauern sie auch jetzt noch regelmäßig fort. Schon seit Jahren ... hat man auf unserem Bahnhof Gelegenheit, die Scharen der über Tauroggen tief aus dem innern Rußland kommenden und von der Kultur vernachlässigten Juden zu erblicken. Es entwickeln sich dort fast allabendlich Scenen des jüdischen Volkslebens, wie man sie sonst nur in russischen Judendörfern anzutreffen gewohnt ist. In vier großen Planwagen war auch gestern eine große Auswanderungskarawane, bestehend aus über 100 Personen, aus Rußland hierhergekommen, um mit dem Abendzuge über Insterburg, Königsberg usw. zunächst nach Bremen oder Hamburg zu gelangen. Von dort fahren sie nach Amerika. Die Zahl der nach und nach durch Tilsit gekommenen jüdischen Auswanderer läßt sich nicht nach Hunderten, auch nicht nach Tausenden, sondern nur nach Zehntausenden berechnen. Man hört oft irrig sagen, daß diese Auswanderer von der russischen Regierung ausgewiesen seien. Die meisten dieser Juden wandern, wie sie selbst angeben, freiwillig aus, da ihnen das Leben in der alten Heimat durch Verfolgungen und Zurücksetzung unerträglich gemacht werde.
Zwischen 1872 und 1905 erhielten etwa 130 Juden städtische Rechte zuerkannt, davon war ein Teil bereits in Tilsit geboren, die meisten waren aber zugewandert. Nach 1880 waren die Einreisebestimmungen für jüdische Kaufleute aus Russland verschärft worden, um einen ungeregelten Zuzug zu verhindern.
Vorstand der Kultusgemeinde Tilsit, um 1920 (Aufn. aus: haGalil.com)
In den 1920er Jahren erreichte die israelitische Gemeinde im ostpreußischen Tilsit mit etwa 800 Angehörigen ihren personellen Höchststand; danach begann - verstärkt durch das Aufkommen des Nationalsozialismus - die Ab- und Auswanderung. Vor allem die jüdische Jugend verließ in den 1930er Jahren die Stadt, um zumeist ins überseeische Ausland zu emigrieren - so nach Südafrika, nach Nordamerika, Palästina und anderswo. Gemeinsam bemühten sich die Gemeinde und eine Außenstelle der deutschen Zionisten um die Organisation einer „geregelten“ Emigration nach Palästina. So wurden u.a. Sprachkurse und eine landwirtschaftliche Ausbildung für Auswanderungswillige angeboten.
In der „Kristallnacht“ vom 9. November 1938 war auch Tilsit Schauplatz nationalsozialistischer Gewaltakte: Die Synagoge wurde in Brand gesetzt und einige jüdische Geschäfte demoliert.
Die letzte große Deportation fand im August 1942 statt, als die hier noch verbliebenen etwa 250 bis 300 Frauen, Männer und Kinder Tilsit verlassen mussten und in den Tod geschickt wurden. Nur etwa 30 „in Mischehe“ verheiratete Juden sollen 1944 noch in Tilsit gelebt haben.
Anmerkungen: Das sog. „Einsatzkommando Tilsit“ war eine Gruppe innerhalb der SS - gebildet aus Kräften der Staatspolizeistelle Tilsit und der Ordnungspolizei Memel. Unter Leitung von Hans-Joachim Böhme - er stand der Staatspolizeistelle Tilsit vor - hatte sich das Kommando in der Vorbereitung der Massenerschießungen in Gargzdai (Juni 1941) gebildet. In dem Zeitraum von Juni bis September 1941 wurden mehr als 5.500 Menschen - Juden, mutmaßliche Kommunisten und sowjetische Kriegsgefangene - ermordet. An den Massakern sollen auch Angehörige des SD, der Wehrmacht und der Waffen-SS beteiligt gewesen sein.
Die meisten Dokumente zur Stadtgeschichte und zur Historie der Tilsiter Juden sind während des Zweiten Weltkrieges verlorengegangen.
Nach 1945 wurde die ehemalige Synagoge in eine russisch-orthodoxe Kirche umgewandelt.
hist. Ansichtskarte Kaukehmen (Abb. B. Waldmann, 2011, aus: common.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)
Die jüdischen Familien in Kaukehmen (russ. Yasnoye) - der Ort liegt nordwestlich von Tilsit - bildeten keine autonome Gemeinde; sie waren der Kultusgemeinde in Tilsit angeschlossen. Trotzdem gab es im Ort eine Synagoge, die sich in der Sandstraße befand.
Im Jahre 1925 lebten etwa 75 Juden in Kaukehmen. Über ihr weiteres Schicksal in der NS-Zeit ist kaum etwas bekannt.
Anm. In den Jahren 1938 bis 1946 lautete der offizielle Ortsname „Kuckerneese“.
In der Ortschaft Groß-Kakschen (russ. Sadowo) existierte in der zweiten Häfte des 19.Jahrhunderts eine relativ große jüdische Gemeinschaft, die um die Wende zum 20.Jahrhundert mehr als 200 Angehörige besaß; die Gemeinde setzte sich aus Familien aus Groß Kakschen, Klein Kakschen, Abschruten, Lengeninken und Untereisseln zusammen. Obwohl die dortige Judenschaft über kein eigenes Synagogengebäude verfügte, soll hier „normales“ religiöses Leben stattgefunden haben; dazu trug bis zu seiner Ausweisung ein jüdischer Lehrer mit russischer Staatsbürgerschaft bei. Infolge Abwanderung verminderte sich die Zahl der in den Dörfern lebenden Juden; bereits bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges setzte sich die israelitische Gemeinschaft nur noch aus ca. 120 Personen zusammen. Anfang der 1930er Jahre lebten dann hier nur noch wenige jüdische Familien. Über ihr weiteres Schicksal ist kaum etwas bekannt.
Anm.: In Folge der deutschen "Germanisierungspolitik" wurde der Ort 1938 in Birkenhain (Ostpr.) umbenannt. Das russische Sadowo ist heute ein Dorf, das zusammen mit anderen umliegenden kleinen Siedlungen zur Landgemeinde Alexejewskoje (mit Sitz sich in Timofejewo) zusammengeschlossen ist.
Weitere Informationen:
Ronny Kabus, Juden in Ostpreußen, Husum 1998
The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust, New York University Press, Washington Square, New York 2001, Vol. 1, S. 462 (Groß-Kakschen), Vol. 2, S. 604 (Kaukehmen) und Vol. 3, S. 1307 (Tilsit)
Ruth Leisorowitz (Red.), Deutsch-jüdische Spuren im Memelland, online abrufbar unter: via-regia.org/bibliothek/pdf/heft70_71
Juden in Tilsit – Ausstellung, organisiert vom Verein “Juden in Ostpreußen”, 2009 (Anm.: Ausstellung wurde 2011 in Kiel gezeigt)
Jüdische Geschichte in Tilsit, online abrufbar unter: ostpreussen.net
Ruth Leiserowitz (Red.), Tilsit und seine Juden, online abrufbar in englischer Sprache unter: kehilalinks.jewishgen.org/sovetsk/Tilsit
Ruth Leiserowitz, Deutsch-jüdische Spuren im Memelland, online unter: via-regia.org
Hans Dzieran, Es begann in Tilsit - Das Schicksal der Familie Silberstein, hrg. von der Stadtgemeinschaft Tilsit e.V., 2010
Hans Dzieran, Auch sie gehörten zu Tilsit. Zur Geschichte der Tilsiter Juden, hrg. von der Stadtgemeinschaft Tilsit, 2014
Alina Gromova (Übers.), Tilsit 1938, in: Jews in East Prussia. History and Culture Society, online abrufbar unter: judeninostpreussen.de