Tirschtiegel (Westpreußen)
Tirschtiegel im Kreis Meseritz (Karte Lukas Götz, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0 und Kartenskizze aus: wiki-de.genealogy.net/Kreis_Meseritz)
Die mit der 2.Teilung Polens (1793) an Preußen gefallene Stadt Tirschtiegel ist das heutige polnische Trzciel mit derzeit ca. 2.500 Einwohnern. 1888 waren Alt-Tirschtiegel und Neu-Tirschtiegel zusammengeschlossen worden und gehörten zum Kreis Meseritz (Prov. Posen); von 1922 bis 1939 war die Stadt zur Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen, danach zur Provinz Brandenburg.
Ansässigkeit von Juden in Tirschtiegel reicht vermutlich bis ins ausgehende 17.Jahrhundert zurück. Erstmals werden Juden in einem Dokument aus dem Jahre 1745 erwähnt. In der Zeit des Überganges an Preußen lebten in Tirschtiegel etwa 250 jüdische Bewohner, die allermeisten von ihnen in sehr ärmlichen Verhältnissen.
Aus den 1770er Jahren ist sowohl der Bau einer Synagoge als auch die Anlage eines eigenen Friedhofs überliefert. Das Begräbnisgelände befand sich auf einem Hügel am „Judensee“.
Am "Judensee" (hist. Illustration)
Wegen Baufälligkeit des aus Holz erstellten Synagogengebäudes errichtete man Mitte der 1870er Jahre an gleicher Stelle einen steinernen Nachfolgebau. Eine im 19.Jahrhundert eröffnete jüdische Elementarschule schloss infolge Schülermangels ihre Pforten kurz vor dem Ersten Weltkrieg.
Mit der Auflösung der jüdischen Gemeinde im benachbarten Brätz, auch Bratz (poln. Brójce) 1889 wurden deren Hinterlassenschaften von der Gemeinde Tirschtiegel übernommen.
Juden in Tischtiegel:
--- 1765 ......................... 223 Juden,
--- 1793 ......................... 253 “ (ca. 17% d. Bevölk.),
--- 1840 ......................... 305 “ ,
--- 1858 ......................... 270 “ ,
--- 1871 ..................... ca. 200 “ ,
--- 1880 ......................... 162 “ ,
--- 1890 ......................... 113 " ,
--- 1895 ......................... 90 “ ,
--- 1909 ......................... 54 “ ,
--- 1913 ......................... 46 “ ,
--- 1921 ......................... 22 " ,
--- 1932 ......................... 22 “ ,
--- 1939 ......................... 18 “ .
Angaben aus: Heppner/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden in den Posener Landen, Bromberg 1909, S. 990
und The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust, Vol. 3, S. 1309
Altstadt Tischtiegel - hist. Postkarte (Abb. aus: wikipedia.org, CCO)
Ab der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts setzte eine Abwanderung in größere Städte ein, die die Zahl der jüdischen Bewohner rasch sinken ließ. In den 1930er Jahren lebten nur noch sehr wenige Juden in Tirschtiegel, die in der „Kristallnacht“ miterleben mussten, wie ihre Häuser und die Synagoge demoliert bzw. in Brand gesetzt wurden.*
* Anderen Angaben zufolge war die Synagoge bereits in den 1920er Jahren aufgegeben und zu einem Feuerwehrgerätehaus umgebaut worden; deshalb kann demnach eine Zerstörung im Jahre 1938 nicht erfolgt sein.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde in der Stadt ein Zwangsarbeitslager für Juden eingerichtet.
Im Frühjahr 1940 wurden die verbliebenen Juden Tirschtiegels in einem Lager in der Nähe von Schneidemühl interniert; von hier aus wurden sie dann nach Ostpolen deportiert; hier verlieren sich ihre Spuren.
Das erhaltengebliebene Synagogengebäude dient heute weiterhin als Feuerwehr-Gerätehaus.
Originalmauerwerk der einstigen Synagoge (Aufn. Staszek, 2008, aus: wikipedia.org, GFDL)
Einige alte Grabsteine - sie stammen aus der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts - erinnern noch an die jüdische Geschichte des Ortes.
Jüdischer Friedhof von Tirschtiegel/Trzciel (Aufn. pl., 2014, in: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)
Ende der 1730er Jahre sind erstmals Juden in Brätz, auch Bratz (poln. Brójce, derzeit ca. 1.000 Einw.) genannt; eine festgelegte Zahl von Familien erhielt hier das Privileg, mit Gewürzen, Tabak, Wolle und Tuchen zu handeln. Dazu äußerte sich der hiesige evangelische Pfarrer (1739): „Ich denke mit Bedauern daran, dass die Juden Ende 1738 und Anfang 1739 in die Stadt gelassen wurden und sie jetzt königliche Privilegien haben! Daher kommt jetzt ein Unglück auf uns zu. Gott erbarme Dich unserer guten Stadt und gib uns viele fleißige Gläubige, die das Unglück aufhalten werden, und sie werden um Frieden beten“. Für die den zugezogenen Juden gewährten Zugeständnisse waren jeweils bestimmte Gebühren und Abgaben zu entrichten.
Bis Anfang des 19.Jahrhunderts lebten die jüdischen Familien ghettoartig am Rande des Ortes, ehe ihnen dann erlaubt worden war, auch im Ortskern zu leben. Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts betätigten sich die Juden aus Brätz hauptsächlich mit dem Handel von Wolle; später gab es hier zahlreiche Schneider und Kürschner.
Bereits vor 1800 hatte die jüdische Gemeinschaft eine Synagoge eingerichtet; eine kleine Schule entstand wohl erst in den 1830er Jahren. Zu Beginn ihrer Ansiedlung hatten die Juden ein Stück Land zur Anlage eines Friedhofs erhalten; es lag ca. einen Kilometer vom Ortsrand (an der Landstraße nach Altenhof) entfernt.
Juden in Brätz:
--- 1765 ........................ 55 Juden,
--- 1793 ........................ 85 “ ,
--- 1840 ........................ 209 “ (ca. 12% d. Bevölk.),
--- 1857 ........................ 150 “ ,
--- 1871 ........................ 81 “ ,
--- 1890 ........................ 46 “ ,
--- 1895 ........................ 5 “ ,
--- 1900 ........................ eine Jüdin.
Angaben aus: Brojce, in: sztetl.org.pl
Die Brätzer Gemeinde erreichte Mitte des 19. Jahrhunderts ihren zahlenmäßigen Höhepunkt; ihre Angehörigen machten damals ca. 12% der Bevölkerung aus. Die Abwanderung in größere städtische Zentren führte schließlich 1889 zur Auflösung der jüdischen Gemeinde. Die Nachbargemeinde in Tirschtiegel übernahm die gemeindlichen Einrichtungen.
Nur wenige Grabsteinrelikte erinnern heute noch an die jüdische Geschichte des Ortes. Seit allerjüngster Zeit befindet sich ein kleiner Gedenkstein am fast schon verschwundenen Begräbnisgelände.
Grabsteinrelikte (Aufn. C. 2008, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und Tomasz Nowak, 2014, aus: kirkuty.xip.pl)
vgl. Brätz (Westpreußen)
Weitere Informationen:
Heppner/Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden in den Posener Landen, Bromberg 1909, S. 321 f. (Brätz) und S. 989 ff. (Tirschtiegel)
Norbert Diering, Tirschtiegel in alten Ansichten, Europäische Bibliothek, Zaltbommel/Niederlande 1995
The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 3), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 1309
Joachim Schmidt, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Tirschtiegel, o.O. 2007
Der jüdische Friedhof in Tirschtiegel, in: Luckauer Juden – Versuch einer Spurensuche (online abrufbar unter: luckauer-juden.de)
Stadtamt u. Stadt u. Gemeindebibliothek Trzciel (Hrg.) Spotkania z historia. Treffen mit der Geschichte. Trzciel / Tirschtiegel“, Trzciel 2011
Trzciel und Brojce, in: sztetl.org,pl
K. Bielawski (Red.), Jewish cemetery of Trzciel, in: kirkuty.xip.pl
Anke Geisler-Grünberg (Bearb.), Geschichte der Jüdischen Gemeinde Trzciel (Tirschtiegel) und des Friedhofs, in: Universität Potsdam – Institut für jüdische Studien und Religionswissenschaft (Hrg.), Jüdische Friedhöfe in Polen auf den Gebieten der ehemaligen Provinz Brandenburg, online abrufbar unter: uni-potsdam.de/ (2021)
Isabelle Schlüter (Bearb.), Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Brätz (Brójce) und des Friedhofs, in: Universität Potsdam – Institut für jüdische Studien und Religionswissenschaft (Hrg.), Jüdische Friedhöfe in Polen auf den Gebieten der ehemaligen Provinz Brandenburg, online abrufbar unter: uni-potsdam.de/ (2021)