Ulrichstein/Vogelsberg (Hessen)

Datei:Mittelhessen Vogelsberg Ulr.png Ulrichstein ist heute ein kleines Landstädtchen mit ca. 3.000 Einwohnern im hessischen Vogelsbergkreis – zwischen Fulda und Gießen gelegen (Kartenskizze 'Vogelsbergkreis', Andreas Trepte 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 2,5).

 

Vermutlich haben bereits im 14.Jahrhundert wenige jüdische Familien im kleinen Orte Ulrichstein gelebt; das Privileg zur Aufnahme von sechs Familien hatte Kaiser Ludwig der Bayer dem Stadtherrn, Heinrich von Eisenbach, im Zuge der Stadtrechteverleihung 1347 verbrieft.

"Topographia Hassiae" - M.Merian um 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, CCO)

Die Ulrichsteiner Juden standen jahrhundertelang unter dem Schutz der hessischen Landgrafen. Eine selbstständige Gemeinde bildete sich aber erst Ende des 18.Jahrhunderts. 1847 - oder erst in den 1860er Jahren - richtete die Gemeinde in einem zweigeschossigen Fachwerkgebäude in der Ludwigstraße, der heutigen Herrngartenstraße, einen Sakralraum ein.

 Haus, in dem sich der ehem. Betraum befand (Aufn. um 1970, aus P. Arnsberg)

Im gleichen Hause fand auch der Religionsunterricht für die jüdischen Kinder statt.

       Anzeigen von 1872 und 1884

In unmittelbarer Nähe befanden sich die Mikwe und das „Judenbackhaus“, das die Gemeinde 1849 hatte errichten lassen.

Ein eigenes Friedhofsgelände wurde vermutlich schon in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts angelegt; anderen Angaben zufolge soll dieses erst nach 1800 belegt worden sein, weil bis dato der jüdische Friedhof in Kestrich verstorbenen Juden Ulrichsteins zur Verfügung stand.

Die jüdische Gemeinde Ulrichstein gehörte zum Bezirksrabbinat Gießen.

Juden in Ulrichstein:

    --- um 1730 .......................   3 jüdische Familien,

--- 1770 ..........................   5     “       “    ,

--- 1808 ..........................  11     “       “    ,

    --- 1830 ..........................  82 Juden (ca. 10% d. Bevölk.),

    --- 1861 .......................... 107   “  ,

    --- 1880 ..........................  99   “  ,

    --- 1890 ..........................  81   “  ,

    --- 1905 ..........................  80   “  ,

    --- 1925 ..........................  75   “  ,

    --- 1933 ..........................  54   “   (ca. 15 Familien),

    --- 1939 ..........................   6   “  .

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 314

 

Ende des 19.Jahrhunderts sollen die Ulrichsteiner Juden zumeist in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen gelebt haben; ihren bescheidenen Wohlstand verdankten sie hauptsächlich dem Vieh- und Textilhandel; nebenbei betrieben einige auch eine kleine Landwirtschaft.

In den ersten fünf Jahren der NS-Herrschaft verließen die allermeisten jüdischen Bewohner Ulrichstein; während ein Teil nach Frankfurt/M. übersiedelte, ging der andere Teil in die Emigration, zumeist nach Übersee. Wochen vor dem Novemberpogrom 1938 lösten die letzten beiden männlichen Gemeindeangehörigen die Kultusgemeinde Ulrichstein auf; sie veräußerten das Synagogengebäude, das Judenbackhaus mit Mikwe und auch den jüdischen Friedhof. Die Ritualgegenstände aus der Synagoge wurden nach Frankfurt/M. ausgelagert; dort wurden sie beim Novemberpogrom vernichtet.

14 aus Ulrichstein stammende jüdische Bewohner fielen nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ der „Endlösung“ zum Opfer (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/ulrichstein_synagoge.htm).

 

Nach Kriegsende wurde die ehemalige Synagoge zu einem Wohn- und Wirtschaftshaus umgebaut. Am Gebäude in der Herrengartenstraße befinden sich zwei Informationstafeln mit Hinweisen auf das einstige jüdische Gotteshaus.

Ehem. Synagogengebäude (Aufn. U., 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Auf dem von einer Mauer umgebenen ca. 1.500 m² großen Friedhofsgelände erinnert auch eine Gedenktafel an sieben jüdische Gefallene des Ersten Weltkrieges.

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Jüdischer Friedhof in Ulrichstein (Aufn. U., 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

 

 

In Bobenhausen II, einem Ortsteil von Ulrichstein, existierte auch eine winzige jüdische Gemeinde, die sich um 1900 aus mehr als 50 Personen zusammensetzte.

  http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20191/Bobenhausen%20II%20Israelit%2016081900.jpghttp://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20244/Bobenhausen%20II%20Israelit%2008081901.jpg aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 16.8.1900 und 8.8.1901

Ihr Lebenserwerb war zumeist der Viehhandel. Neben einem Betraum besaß die winzige Gemeinde auch einen weit außerhalb des Dorfes liegenden Friedhof, dessen Anlage vermutlich um 1830 erfolgt sein muss; zuvor wurden Verstorbene in Schotten beerdigt.

Juden in Bobenhausen II:

--- um 1770 ..................  5 jüdische Familien,

--- 1828 ..................... 44 Juden,

--- 1861 ..................... 58   “  ,

--- 1880 ..................... 61   “   (ca. 10% d. Bev.),

--- 1900 ..................... 54   “  ,

--- 1910 ..................... 48   “  ,

--- 1925 ................. ca. 25   “  ,

--- 1933 ................. ca. 30   “   (in 12 Familien),

--- 1939 ....................   4   “  .

Angaben aus: Bobenhausen II, in: alemannia-judaica.de

Auf Grund der abnehmenden Zahl der Gemeindeangehörigen - Anfang der 1930er Jahre lebten noch zwölf jüdische Familien in der Ortschaft – konnten nach 1933 keine Gottesdienste mehr abgehalten werden. Einige Jahre später wurde das sich inzwischen in einem baufälligen Zustand befindliche Synagogengebäude verkauft; der neue Eigentümer ließ es zu einem Wohnhaus umbauen. Den meisten Juden aus Bobenhausen gelang ihre Emigration in die USA bzw. nach Palästina; vier wurden deportiert.

Insgesamt 18 aus Bobenhausen II stammende bzw. längere Zeit hier ansässig gewesene jüdische Bewohner fielen nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ der „Endlösung“ zum Opfer (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/bobenhausen_II_synagoge.htm).

Etwa 20 Gräber auf dem jüdischen Friedhof Bobenhausen haben die Zeiten überdauert.

File:Ulrichstein Bobenhausen II Juedischer Friedhof s.png

Jüdisches Begräbnisgelände in Bobenhausen (Aufn. aus: wikimedia.org, 2015)

Mehrere Ausstellungstafeln am sog. „Judenpfad“, auf dem im 18./19.Jahrhundert jüdische Klein- u. Viehhändler und Hausierer unterwegs waren, sollen an das mühselige Leben der Landjuden dieser Zeit erinnern.

Anm.: Der Wanderweg „Judenpfad“ soll die alten Handelswege der Vogelsberger Juden wiederbeleben und Orte miteinander verbinden, in denen einst jüdische Gemeinden existierten. Auf Initiative des 1999 gegründeten „Fördervereins zur Geschichte des Judentums im Vogelsberg“ soll der Wanderweg auf ca. 50 Kilometer Länge die Verbindung von Gedenk- und Dokumentationsstätten im Vogelsbergkreis fördern und mit ca. 50 Tafeln als ein „dezentrales Museum“ die jüdische Geschichte der ländlichen Region vermitteln. Im Frühjahr 2012 wurde die erste Etappe des „Judenpfades“ eingeweiht.

Auf Beschluss der Kommunalvertretung sollen künftig drei sog. „Stolpersteine“ in die Gegwegpflasterung der Hoherodskopfstraße eingelassen werden, die dem Angedenken von Angehörigen der jüdischen Familie Aaron gewidmet sind (Stand 2020); realisiert wurde das Vorhaben zwei Jahre später, das dann auch die Verlegung weiterer vier Steine umfasste.

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt 1971, Bd. 2, S. 314/315

Reinhard Thomas, Das hessische Judentum und die Judengemeinde Ulrichstein, in: "Ulrichstein - Burg und Stadt", Hrg. Stadt Ulrichstein, Ulrichstein 1989, S. 213 ff.

Heinrich Dittmar, Spuren ... Spurensuche im Vogelsberg - Wegweiser zu den jüdischen Stätten im Vogelsberg, Alsfeld 1994

A.Wiesemüller/M. Krauss, Jüdische Friedhöfe im Vogelsbergkreis, in: Kulturverein Lauterbach e.V. (Hrg.), Fragmente ... jüdischen Lebens im Vogelsberg, Lauterbach 1994, S. 86

Jüdisches Familienleben in Ulrichstein, in: www.judaica-vogelsberg.de

Ulrichstein, in: alemannia-judaica.de

Das hessische Judentum und die Judengemeinde Ulrichstein, in: "Heimatbuch Ulrichstein - Burg und Stadt", Ulrichstein o.J.

Katharina Jacob (Verein Landjudentum Vogelsberg), Jüdisches Familienleben in Ulrichstein. Allgemeines zur Geschichte der Ulrichsteiner Juden, 2011 (online abrufbar)

dgr (Red.), Drei „Stolpersteine“ für Bobenhausen, in: „Oberhessische Zeitung“ vom 2.6.2020

N.N. (Red.), Stolpern über das Schicksal der Famiilie Aaron aus Bobenhausen II, in: „Lauterbacher Anzeiger“ vom 28.6.2020

Joachim Legatis (Red.), An sieben Bobenhäuser erinnern, in: „Alsfelder Allgemeine“ vom 9.6.2021

Joachim Legatis (Red.), Sieben Stolpersteine als Erinnerung, in: „Gießener Allgemeine“ vom 29.4.2022/3.5.2022

Oliver Hack (Red.), Bitter-süßer Tag der Erinnerung in Bobenhausen, in: „Oberhessische Zeitung“ vom 12.5.2022 (betr. Verlegung von Stolpersteinen)