Werne/Lippe (Nordrhein-Westfalen)
Werne ist eine Stadt mit derzeit ca. 30.000 Einwohnern im Kreis Unna – ca. 25 Kilometer nordöstlich von Dortmund bzw. westlich von Hamm gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1886 ohne Eintrag von Werne, aus: wikipedia.org, CCO und Kartenskizze 'Kreis Unna', TUBS 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Ansicht von Verne (Werne) - Stich M. Merian, um 1650 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Die Ansässigkeit einer jüdischen Familie in der Kleinstadt lässt sich erstmals für das Jahr 1554 archivarisch belegen: Der "Jude Jost" zahlte einen Taler für seine Aufenthaltsgenehmigung; er stand mit seiner Familie unter dem Schutz des Landesherrn, des Bischofs von Münster, dem er für sein „Geleide“ abgabenpflichtig war. Trotz des Beschluss der Landstände aus dem Jahre 1560, alle im Hochstift lebenden Juden auszuweisen, wohnten weiterhin wenige Juden im Amt Werne - ständig unter der Angst, ausgewiesen zu werden. Seit der ersten Niederlassung von Juden haben bis in die NS-Zeit hinein kontinuierlich Familien israelitischen Glaubens innerhalb der Werner Stadtgrenzen gelebt.
Eine Synagoge wurde zu Beginn des 19.Jahrhunderts von den damals sieben in Werne lebenden jüdischen Familien erbaut; das sehr schlichte Fachwerkgebäude stand am Markt. Auf Grund des sehr engen Innenraumes gab es hier keine Empore; so nahmen die Frauen auf separaten Bänken im Betraum Platz.
Da die meisten Juden des Kreisgebietes Lüdinghausen in Werne lebten, wurde 1848 vom Landrat verfügt, dass in Werne der einzige Synagogenbezirk im Kreisgebiet gebildet werden sollte. Wenige Jahre später wurde das Statut für die Synagogen-Gemeinde Werne erlassen. Weil ein eigenes Schulgebäude zunächst fehlte, erteilte ein jüdischer Privatlehrer seit 1808 in seiner Privatwohnung Hebräisch- und Religionsunterricht. Ab den 1830er Jahren besuchten die wenigen jüdischen Kinder die katholische Knaben- und Mädchenschule; zeitweilig bestand nach 1860 auch eine jüdische Elementarschule.
Mindestens seit Ende des 17.Jahrhunderts (möglicherweise aber schon eher) nutzte die Judenschaft ein Gelände zwischen der Stadtmauer und dem sog. Schüttenwall als Beerdigungsplatz, das um 1780 vergrößert wurde und in den Besitz der Gemeinde überging. Der älteste noch vorhandene Grabstein stammt aus dem Jahre 1703.
Die Synagogengemeinde Werne umfasste - laut Statut von 1856 - die Stadt Drensteinfurt sowie die Ortschaften Bockum, Herbern und Walstedde. Um 1890 löste sich die Judenschaft von Drensteinfurt von Werne und bildete eine autonome Kultusgemeinde.
Juden in Werne:
--- 1555 ........................... eine jüdische Familie,
--- 1667 ........................... 4 “ “ n,
--- 1739 ........................... 6 “ “ ,
--- 1763 ........................... 7 “ “ ,
--- 1784 ........................... 9 “ “ ,
--- 1812 ........................... 7 “ “ ,
--- 1843 ........................... 69 Juden,
--- um 1850 .................... ca. 80 “ (in 11 Familien),
--- 1871 ........................... 80 " ,
--- 1895 ........................... 38 " ,
--- 1925 ........................... 33 " ,
--- 1933 ....................... ca. 45 " ,
--- 1938 ........................... 40 “ ,
--- 1940 ........................... ?
Angaben aus: Heidelore Fertig-Möller, Juden in Werne
und Heidelore Fertig-Möller (Bearb.), Werne, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe, S. 805
Steinstraße in Werne, hist. Postkarte (aus: akpool.de)
Bohnenstraße mit Geschäft Cäcilie Gumpert (Abb. aus: Verwischte Spuren)
Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts waren die meisten Werner Juden Handels- und kleine Kaufleute, teilweise mit eigenen Läden; es gab aber auch einige Handwerker. Um 1930 lebten in Werne noch neun jüdische Familien.
Der reichsweit verordnete Boykott des 1.4.1933 stieß in Werne auf nur geringe Resonanz. Erst im Frühjahr 1938 ließ der hiesige Bürgermeister in einer Anordnung verlauten, dass Geschäftsleute und Handwerker, die mit Juden in Beziehung stehen, künftig von der Vergabe städtischer Aufträge unberücksichtigt bleiben würden.
Während des Novemberpogroms von 1938 drangen SS-Angehörige und NS-Sympathisanten in Wohnungen und Geschäfte jüdischer Bewohner ein, zerstörten dort Einrichtungen und versetzten die Menschen in Angst und Schrecken. Auch der Betraum wurde von ihnen demoliert. Ein Augenzeuge schilderte die „Aktion“ in Werne: „ ... Mitten in der Nacht, am 9.November 1938, wurden alle jüdischen Männer aus ihren Häusern gezerrt, zum Marktplatz gebracht und dort mißhandelt. Einer wurde vom Dach gestoßen, einem anderen ein Auge ausgeschlagen. Dann ging es zur Synagoge, wo ihnen befohlen wurde, die heilige Thora-Rolle zu bespucken und zu zertreten. Mein Vater ... war weltlicher Leiter der jüdischen Gemeinde. Er widersetzte sich unerschütterlich und alle Männer folgten seinem Beispiel. Es gelang ihm, blutüberströmt mit der Thora-Rolle zurück zu uns ins Haus zu kommen. Kurze Zeit vorher war bei uns ein örtlicher Pöbelhaufen eingebrochen. Sie hatten alle Tische umgeworfen, die Möbel kaputtgeschlagen und alle Bücher, Fotos und Bilder auf die Straße geworfen, wo sie verbrannt wurden. ...” (aus: Heidelore Fertig-Möller, Juden in Werne, S. 9/10)
Ein Teil der Werner Juden konnte noch vor 1940 emigrieren. In der Stadt gab es für die wenigen zurückgebliebenen jüdischen Einwohner zwei sog.‘Judenhäuser’; das eine war im Hause der Familie Simons (Roggenmarkt) eingerichtet worden, das andere befand sich in den Räumen der ehemaligen jüdischen Schule. Von hier aus erfolgte dann für die hier eingewiesenen Menschen alsbald die Deportation "in den Osten".
Heute erinnert nur noch der ca. 700 m² große gepflegte jüdische Friedhof mit seinen etwa 35 Grabsteinen – inmitten eines Wohngebietes gelegen - an die einstige jüdische Bevölkerung von Werne: Seit 1981 befindet sich eine Gedenktafel an der Friedhofsmauer. Wenige Jahre später wurde der jüdische Friedhof in die Denkmalsliste der Stadt Werne aufgenommen.
Eingangspforte und Grabstätten (Aufn. bubo, 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Gedenktafel am Friedhof (Aufn. sm. 2007, aus: commons.wikimedia.org, FAL)
An einem 1978/1979 errichteten Gebäude, das am bisher vermuteten Synagogenstandort steht, erinnern eine Gedenktafel und ein –stein; 2014 wurde eine neue Gedenktafel angebracht.
Gedenkstein und –tafel am ehemaligen Synagogenstandort, rechts: neue Gedenktafel (Abb. aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Nach neuesten Erkenntnissen konnte 2013 der einstige Synagogenstandort nun eindeutig festgestellt werden. Daran soll nun eine in den Gehweg eingelassene Bodenplatte erinnern.
HIER STAND DIE SYNAGOGE (erste Erwähnung 1816) DER JÜDISCHEN GEMEINDE WERNE
ZERSTÖRT IN DER POGROMNACHT 9./10. NOVEMBER 1938.
In den letzten Jahren wurden insgesamt ca. 50 sog. „Stolpersteine“ verlegt (Stand 2024), die an deportierte und ermordete Werner Jüdinnen/Juden und an politische Gegner des NS-Regimes erinnern.
verlegt in der Burgstraße (alle Aufn. Gmbo, 2015, aus: wikipedia.org, CCO)
... und am Roggenmarkt
Im benachbarten Herbern ist ab dem 18.Jahrhundert eine kleine jüdische Gemeinschaft nachweisbar. Gottesdienstliche Zusammenkünfte fanden in einem Betraum in der Südstraße statt. Verstorbene wurden auf einem eigenen Friedhof „Auf der Bült“ bzw. später „Im Südfeld“ begraben. 1856 schloss sich die kleine israelitische Gemeinschaft der Synagogenhauptgemeinde Werne an.
Mit Beginn der NS-Herrschaft löste sich die winzige Gemeinde auf; 1938 lebten noch zwei Familien israelitischen Glaubens im Ort.
Auf dem von 1800 bis 1927 belegten jüdischen Friedhof von Herbern am Watervorwinkel - das Areal war während der NS-Zeit teilzerstört und nach Kriegsende wieder hergerichtet worden - sind heute noch 16 Grabsteine vorhanden.
Jüdischer Friedhof in Herbern (Aufn. aus: juedische-friedhoefe/info)
Ein Denkmal erinnert an die jüdischen Opfer des NS-Regimes (Abb. aus WA vom 1.4.2014)
In Rünthe – heute ein Stadtteil von Bergkamen - wurden 2024 mehrere „Stolpersteine“ verlegt, die an nicht-jüdische Opfer der NS-Herrschaft erinnern. Bereits 2021 und 2023 waren in Bergkamen auf Initiative hiesiger Schulen messingfarbene Steinquader in die Pflasterung eingelassen worden - vornehmlich gewidmet Opfern der NS-“Euthanasie“ und politisch Verfolgten; vier der Steinquader erinnern an Angehörige der emigrierten jüdischen Familie Hertz.
Aufn. MGHI, 2021, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
Weitere Informationen:
Heidelore Fertig-Möller, Bin nicht umsonst ein Jud genannt - Das Schicksal der Juden in Werne und im Oberstift Münster, in: "Westfälischer Heimatkalender", Jg. 37, Münster 1982, S. 38 - 43
Diethard Aschoff, Geschichte der Juden in Werne bis 1800, in: "Auf roter Erde - Monatblätter für Landeskunde und Volkstum Westfalens", Jg. 38, No. 238/1982
Heidelore Fertig-Möller, Juden seit 1554 in Werne. Zu einer Sonderausstellung im Stadtmuseum, in: "Heimatbuch Kreis Unna", 4/1983
Heidelore Fertig-Möller, Juden in Werne, in: "Westfälische Kulturgeschichte", Heft 4, Hrg. Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Landesbildstelle Westfalen, Münster 1985
Josef Farwick, Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Herbern, Herbern 1988
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 557/558
Heidelore Fertig-Möller, ‘Stätten des Lebens’ unter Schatten spendendem Grün. Der jüdische Friedhof in Werne, in: "Jahrbuch des Kreises Unna 2002", S. 58 - 61
Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen - Regierungsbezirk Arnsberg, J.P.Bachem Verlag, Köln 2005, S. 666 – 669
Josef Farwick (Bearb.), Ascheberg-Herbern, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XLV, Ardey-Verlag, München 2008, S. 167 - 174
Auflistung der Stolpersteine in Werne, in: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Werne (mit Abbildungen)
gh (Red.), Spuren jüdischen Lebens in Herbern, in: „WA – Westdeutsche Allgemeine“ vom 1.4.2014
Sylvia vom Hofe (Red.), Die Geschichte der letzten Jüdin aus Werne, in: „Ruhr Nachrichten“ vom 10.11.2015
Heidelore Fertig-Möller (Bearb.), Werne, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe – Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Ardey-Verlag Münster 2016, S. 801 - 808
Jürgen Menke (Red.), Sieben neue Stolpersteine. Politisch verfolgt und getötet: Für diese Werner kommen neue Stolpersteine, in: „WAZ - Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ vom 15.5.2019
Felix Püschner (Red.), Gasse am Werner Marktplatz bekommt bald besondere Bodenplattem, in: „Ruhr Nachrichten“ vom 7.9.2020
Verwischte Spuren (Red.), Jüdisches Leben in Werne, online abrufbar unter: verwischte-spuren.de/juedisches-leben-in-werne/
Heidelore Fertig-Möller (Red.), Juden in Werne: Der erste wird namentlich vor fast 500 Jahren erwähnt, in: „Ruhr Nachrichten“ vom 20.11.2021
Auflstung der Stolpersteine in Bergkamen, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Bergkamen
N.N. (Red.), Sieben neue Stolpersteine in Rünthe sind eine Mahnung: „Nie wieder ist jetzt“, in: "Bergkamener Infoblog“ vom 30.1.2024
Eva-Maria Spiller (Red.), Erniedrigt und entblößt auf dem Marktplatz – Das Schicksal der jüdischen Familie Marcus, in: „Ruhr Nachrichten“ vom 2.11.2024