Werther (Nordrhein-Westfalen)
Werther (Westf.) ist eine Kleinstadt im Kreis Gütersloh mit derzeit ca. 11.000 Einwohnern - nordwestlich von Bielefeld am Nordrand des Teutoburger Waldes gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Kreis Gütersloh', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die ersten urkundlichen Belege für wenige in Werther ansässige jüdische Familien stammen aus dem ausgehenden 17.Jahrhundert. Ihren zahlenmäßigen Höchststand erreichte die jüdische Gemeinde gegen Mitte des 19.Jahrhunderts. Seit etwa 1790 gab es einen Betraum bzw. seit 1820 eine Synagoge auf einem Privatgrundstück in der heutigen Ravensburger Straße; auf letzterem wurde 1840 auch das neue Synagogengebäude errichtet. Die Einweihungsfeierlichkeiten am 11./12.9.1840 wurden dadurch getrübt, dass der hiesige Ortsbürgermeister den Teilnehmern Reglementierungen auferlegte: So musste der Festumzug auf Fahnen und musikalische Begleitung verzichten, da die jüdische Gemeinde nur den Status einer „geduldeten Kirchengesellschaft” besäße und deshalb keine „öffentliche Feierlichkeit außerhalb der Mauern ihres Versammlungshauses” abhalten dürfte.
Synagoge in Werther (Aufn. um 1930, Archiv Werther)
Die Synagoge von Werther - ein schlichtes Gebäude aus Bruchsteinen - verfügte insgesamt über etwa 60 Sitzplätze und eine Frauenempore (mit 18 Plätzen). Um Streitereien über die Plätze in der Synagoge möglichst zu vermeiden, wurden alle drei Jahre diese meistbietend versteigert. Seit Beginn des 19.Jahrhunderts bestand am Ort für die wenigen Kinder eine Elementarschule, die in privaten Räumlichkeiten untergebracht war. Häufiger Wechsel der jüdischen Wanderlehrer war die Regel; der letzte jüdische Lehrer gab 1914 hier seine Stelle auf.
Ein eigener Friedhof wurde erst 1895 an der Bergstraße angelegt; das Grundstück war von den Gebrüdern Aron Bendix und Jordan Bendix Weinberg erworben worden. Vorher waren die verstorbenen Gemeindemitglieder in Halle/Westfalen oder in Bielefeld beerdigt worden.
Juden in Werther:
--- 1714 ........................... 3 jüdische Familien,
--- 1763 ........................... 6 “ “ (ca. 45 Pers.),
--- 1783 ........................... 46 Juden,
--- 1799 ........................... 52 " (in 6 Haushaltungen) ,
--- 1828 ........................... 88 “ (in 16 Familien),
--- 1840 ........................... 111 “ (ca. 6% d. Bevölk.),
--- 1849 ........................... 99 “ ,
--- 1858 ........................... 82 “ ,
--- 1871 ........................... 70 “ ,
--- 1885 ........................... 68 “ (ca. 3,5% d. Bevölk.),
--- 1905 ........................... 61 “ ,
--- 1913 ........................... 40 “ ,
--- 1933 ........................... 20 “ ,
--- 1939 ........................... 15 “ .
Angaben aus: Volker Beckmann, Juden in Werther (Westf.) Sozialgeschichte einer Minderheit ..., S. 9
Kirchstraße in Werther (Postkarte, um 1915)
Ende des 19.Jahrhunderts zählten die jüdischen Bewohner in Werther meist zur Mittelschicht; sie waren Eigentümer von wenigen Ladengeschäften oder als Viehhändler tätig; eine Zigarrenfabrik und eine Verzinkerei wurden ebenfalls am Ort von jüdischen Unternehmern betrieben. Anfang der 1930er Jahre lebten nur noch sehr wenige jüdische Familien in Werther.
Während des Novemberpogroms von 1938 wurde das Synagogengebäude zweimal geschändet: In der Nacht vom 9./10.11. brachen Ortsbewohner Türen und Fenster gewaltsam auf und demolierten teilweise die Inneneinrichtung, dabei konnten die Kultgegenstände noch in Sicherheit gebracht werden. In der Nacht des 11.November zerstörten SS-Angehörige aus Bielefeld und Halle den Innenraum der Synagoge dann völlig; eine Brandstiftung unterblieb wegen der Nähe anderer Gebäude.
Aus dem Bericht des Landrates des Kreises Halle an die Staatspolizeistelle Bielefeld vom 18.11.1938:
„ ... Die Synagoge in Werther ist nicht abgebrannt. Ein Brand würde die Nachbarhäuser und die Apotheke in Brandgefahr gebracht haben. Die Inneneinrichtung ist demoliert worden. Es sind Leuchter, Schränke, Bänke, Altar und Kultusgegenstände stark beschädigt worden. Die Fensterscheiben wurden zertrümmert. Brennbare Gegenstände wie Läufer, Plüschdecken und Vorhänge sind vom Amtsbürgermeister aus der Synagoge entfernt worden, um eine Brandlegung zu verhindern. ... In Werther wurden das Manufakturwarengeschäft J.B. Weinberg und seine gewerblichen Räume stark beschädigt. Laden und Büro wurden stark demoliert. ... Außerdem sind in der Wohnung ...einige Fensterscheiben eingeworfen worden. ...”
Nach dem Pogrom wurden zwei jüdische Bewohner Werthers für einige Wochen ins KZ Buchenwald verschleppt. Zwischen 1938 und 1940 gelang noch etwa zehn jüdischen Bewohnern die Emigration; zurück blieben die Familien Alexander, Sachs und Weinberg. Die am Ort verbliebenen mussten anschließend Zwangsarbeit leisten. 1941/1942 erfolgte ihre Deportation. Von den insgesamt 38 in Werther lebenden Juden haben nur fünf den Holocaust überlebt.
verfallenes Synagogengebäude (Aufn. um 1950, Archiv Werther)
Das stark baufällige ehemalige Synagogengebäude wurde in den 1950er Jahren abgerissen. Seit November 1994 erinnert ein blockförmiger Gedenkstein in der Ravensberger Straße an das frühere jüdische Gotteshaus.
Nahe dieser Stelle stand seit 1837 die Synagoge.
Während der Nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde sie 1938 verwüstet und die jüdische Gemeinde ausgelöscht.
Die jüdischen Bürger der Stadt Werther wurden vertrieben, verschleppt und ermordet.
Gedenkstein (Aufn. privat, aus: arbeitskreis-spuren-werther.de)
Anm.: Das genannte Datum der Errichtung der Synagoge ist falsch.
Auf dem jüdischen Friedhof an der Bergstraße/An der Egge (Aufn. P., 2021, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0), auf dem auf einer Fläche von ca. 1.300 m² noch 22 Grabsteine stehen, erinnert ein Gedenkstein an die 18 NS-Opfer der jüdischen Gemeinden aus Werther und Halle mit den Worten:
Zum Gedächtnis an die Mitglieder der jüdischen Gemeinden Werther und Halle i.Westf.,
die ihr Leben in den Jahren 1933 - 1945 lassen mußten.
...
Auf die Verlegung von sog.“Stolpersteinen“ hat man in Werther bewusst verzichtet. Um die Spuren jüdischen Lebens in Werther sichtbar zu machen, plante der „Arbeitskreis Jüdisches Leben in Werther“ an zehn Standorten in der Stadt Info-Stelen aufzustellen (Stand 2020). Jüngst kam auch der Gedanke auf, anstatt sog. "Stolpersteine" Reliefs mit Schmetterlingen zu erstellen. Realisiert wurde das ‚Butterfly-Projekt', indem die Schmetterlinge an einer Wand der Peter-August-Böckstiegel Gesamtschule‘ einen Platz gefunden haben (2023).
In Werther wurde erstmals eine Frau jüdischen Glaubens mit einem Straßennamen bedacht: der Judith-Kerr-Weg* ist in einem Neubaugebiet zu finden sein (2024).
* JudithKerr (geb. 1923 in Berlin) flüchtete 1933 mit ihrer Familie nach England, wo sie bis zu ihrem Tod (2019) lebte. Ihre Jugendbücher – u.a. „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ -sind vielen Mensc hen bekannt.
Eine andere Straße ‚Am Blotenberg‘ wird an Alfred Weinberg erinnern; seine Familie führte bis in die NS-Zeit in Werther ein alteingesessenes Textilwarengeschäft. Die vierköpfige Familie Weinberg wurde 1942 nach Warschau deportiert und dann vermutlich in Treblinka ermordet.
Weitere Informationen:
Robert A. Weinberg, The Descendants of Aron Heineman Levi in Werther near Bielefeld. Genealogical Tables, Boston 1974
Paul Lütgemeyer, Die jüdische Familie Weinberg prägte die Geschichte Werthers, in: "Haller Kreisblatt" vom 10.8.1987
J.Kindler/W.Lewe, 9./10.November 1938 - 24 Stunden in der Geschichte einer Stadt, in: "Heimat-Jahrbuch Kreis Gütersloh 1988", S. 76 - 79
H.Heinze/A.Vormbrock, Die jüdischen Gemeinden in Werther und Halle seit 1933, VHS Ravensberg, Halle 1988
Erika Stieghorst, Tausend Jahre - von ‘wartera’ bis Werther. Eine Heimatchronik mit Berichten aus der Geschichte von Ereignissen mit Bildern und Karten, hrg. vom Heimatverein Werther, Werther 1992
Volker Beckmann, Juden in Werther (Westf.). Sozialgeschichte einer Minderheit im 19. und 20.Jahrhundert, Hrg. Stadt Werther, Werther i.W. 1998
Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Regierungsbezirk Detmold, J.P. Bachem Verlag, Köln 1998, S. 83 - 86
G. Birkmann/H. Stratmann, Bedenke vor wem du stehst - 300 Synagogen und ihre Geschichte in Westfalen u. Lippe, Klartext Verlag, Essen 1998, S. 142
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 559/560
Volker Beckmann, Die jüdische Bevölkerung der Landkreise Lübbecke und Halle i.W. - Vom Vormärz bis zur Befreiung vom Faschismus (1815 - 1945), Dissertation Universität Bielefeld, 2000/20001 (überarb. 2015, als PDF-Datei vorl., S. 99 - 109 u.a.)
Landesarchiv NRW (Hrg.), 9.11.1938 Reichspogromnacht in Ostwestfalen-Lippe. Broschüre zur gleichnamigen Ausstellung, Detmold 2008
Spuren. Jüdisches Leben in Werther – Ausstellung im Rahmen der Wanderausstellung „Reichspogromnacht in Ostwestfalen-Lippe“, 2010
Malte Krammenschneider (Red.), Vom Kotten zur Synagoge zur Ruine, in: „Zeitung für Werther – Westfalenblatt“ vom 23.9.2010
Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens in Werther“ (Hrg.), Spuren jüdischen Lebens in Werther, Selbstverlag Werther 2013 (erw. Neuauflage 2020)
Volker Beckmann (Bearb.), Werther, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Detmold, Ardey-Verlag, Münster 2013, S. 779 - 787
Heimat- u. Kulturverein Werther (Hrg.), Jüdischer Friedhof Werther, online abrufbar unter: heimatverein-werther.de/stadtgeschichte
Margit Brand (Red.), Lebenswerk in London verdient Achtung in Werther – Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens“ würdigt Kurt W. Weinberg, in: „Westfalen-Blatt“ vom 24.6.2014
Katrin Hentschel (Red.), Spuren sichtbar gemacht. Jüdisches Leben in Werther: Arbeitskreis besteht seit zehn Jahren, in: „Westfalen-Blatt“ vom 7.10.2018
Birgit Nolte (Red.), Jüdisches Leben wird sichtbar, in: “Haller Kreisblatt” vom 7.10.2018
Margit Brand (Red.), Ein Schrank und seine Geheimnisse. Nachlass in Holland offenbart das Schicksal der jüdischen Familie Sachs aus Werther, in: “Westfalen-Blatt” vom 25.12.2018
Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens in Werther“ (Hrg.), Spuren jüdischen Lebens in Werther, erw. Neuauflage Werther (Westf.) 2020
Ute u. Ulrich Dausendschön-Gay, Die Familien Böckstiegel und Weinberg. Die Zeit von 1928 bis 1980 in Briefdokumenten, in: “Ravensburger Blätter”, Heft 1/2021, S. 11 - 21
Christina Geis (Red.), 267 Jahre jüdisches Leben in Werther, in: “Westfalen-Blatt” vom 30.8.2021 (mit Ortskarte und Einträgen der Wohnhäuser jüdischer Familien)
Johannes Gerhards (Red.), In Werther sollen Schmetterlinge statt Stolpersteinen erinnern, in: “Westfalen-Blatt” vom 3.5.2023
Margit Brand (Red.), Als in Werther Steine in jüdische Schaufenster flogen, in: “Westfalen-Blatt” vom 8.11.2023
Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens in Werther“ (Hrg.), Butterfly Projekt, online abrufbar unter: arbeitskreis-spuren-werther.de (2023)
Silke Derkum-Homburg (Red.), Werther bekommt eine neue Straße – und deren Name ist ein Novum, in: “Haller Kreisblatt” vom 8.3.2024
Anja Hanneforth (Red.), Diese Filme aus Werther rütteln auf: Ein Mahnmal wiwder das Vergessen, in: “Haller Kreisblatt” vom 26.3.2024
Silke Derkum-Homburg (Red.), Name für neue Straße in Werther erinnert an schreckliches Schicksal, in: “Haller Kreisblatt” vom 1.5.2024