Wetzlar (Hessen)
Wetzlar ist eine Stadt mit derzeit ca. 55.000 Einwohnern im hessischen Lahn-Dill-Kreis – ca. 15 Kilometer westlich von Gießen gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Lahn-Dill-Kreis', Andreas Trepte 2006, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 2.5).
Wetzlar – Stich von M. Merian, um 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Nachvollziehbare Spuren von Juden in Wetzlar gibt es ab der Mitte der 12. Jahrhunderts; sie hatten sich hier niedergelassen, um in der aufstrebenden Reichsstadt Handel zu treiben. Erstmals wird die Existenz von wenigen Juden in Wetzlar Mitte des 13.Jahrhunderts urkundlich erwähnt; so stammt die erste „Kaiserurkunde“ über die Wetzlarer „Kammerknechte“ aus dem Jahre 1277. Bereits aus dieser Zeit ist ein Judenviertel, zwischen Lahnstraße und Weißadlergasse innerhalb der Altstadt gelegen, nachweisbar; doch war es kein typisches Ghetto.
Nachdem auch in Wetzlar während der Pestjahre 1348/1349 Juden verfolgt und teilweise getötet wurden, erhielten sie Ende des 14.Jahrhunderts vom Wetzlarer Rat die Erlaubnis, sich erneut in der Stadt niederzulassen. Die meisten Juden wohnten im 15./16.Jahrhundert am Kornmarkt.
"Judenkonsole" am Wetzlarer Dom (Abb. Ph. Trümper, 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)*
* Das Steinrelief zeigt den Teufel in enger Umarmung mit einem Juden.
Um 1500 sollen etwa 30 Juden in Wetzlar ansässig gewesen sein; während des Dreißigjährigen Krieges hatte sich ihre Zahl in etwa verdoppelt. Die Bedeutung von Wetzlar wuchs, als die Stadt Ende des 17.Jahrhunderts Sitz des Reichskammergerichts wurde; obwohl die Judenschaft Wetzlars wohl auch eine besondere Zahlung an das Reichskammergericht leisten musste, verbesserte sich deren wirtschaftliche Situation. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt als Kaufleute und Händler. Allerdings wurde die Anzahl der in Wetzlar lebenden jüdischen Familien begrenzt. Mit Auflösung des Reichskammergerichts ging die Bevölkerungszahl Wetzlars, damit auch die der hier ansässigen Juden, zurück.
Die älteste bekannte, vermutlich gegen Ende des 13.Jahrhunderts gebaute Synagoge in Wetzlar befand sich bis zum 16.Jahrhundert an der Ecke Lahngasse/Steingasse im sog. „alten Judenviertel“. 1535 wurde eine neue „Judenschule“ am Kornmarkt eingerichtet.
Die Entstehung einer neuzeitlichen jüdischen Gemeinde geht bis in die erste Hälfte des 17.Jahrhunderts zurück. 1756 konnten die Wetzlarer Juden in einem umgebauten Wohnhaus in der Pfannstielgasse, dem ehemaligen Färberhaus, einen neuen Betsaal einweihen, der insgesamt über etwa 75 Plätze verfügte.
Synagoge Pfannenstielgasse (Gemälde W.Waldschmidt) * Pfeil markiert das Gebäude
Die älteste Wetzlarer Mikwe lag vermutlich in der unteren Altstadt am Eselsberg, nach 1756 in der Pfannenstielsgasse im Bereich der Synagoge.
Im Spätmittelalter wurden verstorbene Wetzlarer Juden auf dem jüdischen Friedhof in Frankfurt/M. beerdigt; danach soll ein Gelände nahe der Ortschaft Dalheim als „Judenkirchhof“ genutzt worden sein. Im Laufe des 17.Jahrhunderts wurde „Im Zwinger“ - unmittelbar vor der Stadtmauer Wetzlars am ehemaligen Silhöfer Tor/heute Steighausplatz - ein Friedhof angelegt; dieser wurde bis um 1890 benutzt. Danach stand ein Beerdigungsgelände an der Wollgrabenstraße, der heutigen Bergstraße, zur Verfügung.
Die jüdische Gemeinde in Wetzlar unterstand Anfang des 19.Jahrhunderts dem Rabbinat Frankfurt/M. bzw. Friedberg; ab 1915 gehörte die Kultusgemeinde Wetzlar - zusammen mit den Gemeinden des Kreises - zum Provinzialrabbinat Marburg. Seit 1858 regelte eine aus 16 Artikeln bestehende Synagogenordnung das jüdische Gemeindeleben in Wetzlar.
Anzeigen von 1904/1911
Anzeigen verschiedenster Art (aufgegeben vom langjährigen in Wetzlar tätigen Lehrer/Kantor Regensburger):
aus: "Der Israelit" um 1890/1900
Juden in Wetzlar :
--- um 1550 ................... ca. 40 Juden,
--- um 1625 ................... ca. 60 “ ,
--- um 1750 ................... ca. 100 “ ,
--- 1810 .......................... 91 “ (ca. 2% d. Bevölk.),
--- 1823 .......................... 101 “ ,
--- 1835 ...................... ca. 700 “ ,* * im Kreis Wetzlar
--- 1857 .......................... 75 “ ,
--- 1871 .......................... 147 “ ,
--- 1880 .......................... 210 “ (ca. 3% d. Bevölk.)
--- 1895 .......................... 173 “ ,
--- 1910 .......................... 181 “ ,
--- 1925 .......................... 156 “ ,
--- 1933 .......................... 132 “ (0,7% d. Bevölk.),
--- 1938 (Nov.) ............... ca. 60 “ ,
--- 1942 (Aug.) ................... 10 " ,
(Dez.) ................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen, Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 365
und Karl Watz, Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wetzlar ...
Blick auf Wetzlar, um 1900 (aus: wikipedia.org, gemeinfrei) und zentraler Platz am Eisenmarkt (Abb. aus: akpool.de)
Vor der NS-Machtübernahme lebten in Wetzlar knapp 140 Juden; dies entsprach 0,7% der Gesamtbevölkerung der Stadt. Im Gegensatz zu anderen Städten in der Region wies die Judenschaft Wetzlars eine relativ homogene Struktur auf. Ihre Angehörigen gehörten überwiegend zum unteren und gehobenen Mittelstand; sie verdienten ihren Lebensunterhalt zumeist als Kaufleute und Kleinhändler; einige arbeiteten damals auch als Freiberufler in der Stadt.
In den ersten Jahren der NS-Herrschaft sind die meisten Familien entweder emigriert oder in andere Städte Deutschlands verzogen; 1938 sollen sich nur noch etwa 60 Juden in Wetzlar aufgehalten haben.
Während der Pogromnacht vom November 1938 wurde die Inneneinrichtung der Synagoge in der Pfannenstielgasse von SA-Angehörigen zerstört; wertvolle Gegenstände wurden beschlagnahmt. Von einer Brandlegung hatte man wegen der angrenzenden Gebäude jedoch Abstand genommen. (Anm.: Das Synagogengebäude blieb erhalten und wurde während des Krieges als Lager für französische Kriegsgefangene benutzt.) Auch der jüdische Friedhof Wetzlars an der Bergstraße wurde 1938 geschändet.
Jüdische Männer vor ihrem Abtransport nach Buchenwald (Aufn. aus: K. Porezag)
Im „Wetzlarer Anzeiger” fand sich nur eine Kurzmeldung zu den Vorgängen des 9.November: " ... In Wetzlar wurden im Laufe des Tages die männlichen jüdischen Einwohner in Schutzhaft genommen. Die jüdischen Geschäfte wurden geschlossen." Unmittelbar nach dem Pogrom verließen etwa 50 in Wetzlar gemeldete Juden die Stadt und verzogen nach Frankfurt/M.; von hier aus wurden die meisten von ihnen wenige Jahre später „in den Osten“ verschleppt. Deportationen direkt aus Wetzlar soll es nicht gegeben haben. Transportlisten mit Namen von 75 Personen aus der Umgebung von Wetzlar sind für die Juni-Deportation von 1942 erhalten geblieben; die zur Vernichtung bestimmten Juden hatten sich zunächst in der Garbenheimer Jahnstraße einzufinden, von wo sie in ein Sammellager im Frankfurter Ostend gebracht wurden. Von dort fuhr am 11. Juni ein Zug mit mehr als 1.200 Personen nach Majdanek ab. Ein zweiter Transport gleicher Größe - darunter auch 29 Menschen aus dem Kreis Wetzlar - verließ am 1. September 1942 Frankfurt in Richtung Theresienstadt, von wo aus die meisten in die Vernichtungslager weitergeleitet wurden. Von den 54 deportierten Wetzlarer Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens wurden 38 in den Vernichtungslagern des NS-Regimes ermordet; 16 Menschen gelten als "verschollen".
Insgesamt mehr als 100 gebürtige bzw. längere Zeit in Wetzlar ansässig gewesene jüdische Bürger wurden nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/wetzlar_synagoge.htm).
Nur zwei Wetzlarer Juden kehrten nach dem Krieg in ihre Heimatstadt zurück.
Im Sommer 1945 wurde die Synagoge in der Pfannenstielgasse - auf Veranlassung der amerikanischen Militärregierung - wiederhergerichtet; sie diente in der Folgezeit den in den umliegenden DP-Camps lebenden Juden als Gotteshaus. Nach Abwanderung der DPs wurde das Synagogengebäude zunächst als Lagerraum einer Brauerei genutzt, 1958 wurde es abgerissen.
Von September 1946 bis ins Frühjahr 1949 gab es in einer ehemaligen Kasernenanlage Wetzlars ein DP-Camp, das zeitweise mehr als 4.000 jüdische Lagerbewohner beherbergte; die ersten Bewohner kamen aus Berlin und Cham hierher. Nachdem dann die allermeisten DPs nach Nordamerika bzw. Palästina/Israel abgewandert waren, wurde das Lager geschlossen.
Am Gebäude der Pfannenstielgasse 8 – hier befinden sich heute Seniorenwohnungen - hängt eine Gedenktafel mit folgender Inschrift:
Gedenktafel (Aufn. J. Hahn, 2009)
Mauer mit Gedenktafel u. Relief der Synagoge, Pfannenstielgasse (Aufn. Ph. Trümper, 2009, aus: wikipedia.org, CC BY 3.0)
Der alte jüdische Friedhof an der Stadtmauer am Steighausplatz, der bei seiner Schließung (um 1880) etwa 300 Grabstätten besaß, weist derzeit noch 52 Grabsteine bzw. –fragmente auf; der älteste noch lesbare Stein datiert von 1714.
Hinweis auf den alten jüdischen Friedhof (Tourist-Information Wetzlar) und Begräbnisgelände (Aufn. Ph. Trümper, 2009, aus: wikipedia.org CC BY 3.0)
Auf dem neuen jüdischen Friedhof an der Bergstraße (früher Wohlgrabenstr.) wurde 1989/1990 ein Denkmal errichtet, der namentlich an die 55 einstigen jüdischen Einwohner Wetzlars erinnert, die vertrieben, ermordet oder verschollen sind.
Denkmal mit Namenstafeln (Aufn. aus: wetzlar-erinnert.de/gedenkstein/)
Am Hauptportal des Wetzlarer Doms ist eine bronzene Tafel angebracht, die Bezug nimmt auf die dort in Stein gehauene sog. "Judenkonsole" (sie zeigt den Teufel in enger Umarmung mit einem Juden, siehe: Abb. oben) und von der sich die beiden christlichen Kirchen öffentlich distanzieren.
Abb. W., 2016, aus: wikipedia.org CC BY-SA 3.0
Seit 2009 wurden in der Altstadt die ersten sog. „Stolpersteine“ verlegt, allerdings mussten dabei erst erhebliche Widerstände überwunden werden.
„Stolperstein“ für Salomon Moses, der mit seiner nicht-jüdischen Frau und sieben Kindern in der Pfannenstielgasse wohnte. Im Nov. 1938 wurde er ins KZ Buchenwald verschleppt, wo er einen Monat später starb. Salomon Moses gilt als das erste jüdische Mordopfer von Wetzlar.
2015 wurden in Gehwegen in der Altstadt weitere 19 „Stolpersteine“ verlegt, davon allein sieben in der Langgasse für Angehörige der Familie Isidor u. Berta Moses.
(Aufn. Gmbo, 2022, aus: commons.wikimedia.org, CCO)
verlegt Karl-Kellner-Ring (Aufn. M. Hofmann, 2018, aus: wetzlar-erinnert.de/gedenken/)
Derzeit werden Überlegungen angestellt, in der Stadt Wetzlar ein jüdisches Museum einzurichten (2024).
In Hermannstein – seit 1977 ein Stadtteil von Wetzlar – sind Juden erstmals im Jahre 1668 genannnt. Die sich hier gebildete Gemeinde setzte sich in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts aus maximal 15 Familien zusammen; um 1855 waren im Dorf knapp 60 Personen mosaischen Glaubens gemeldet.
Ein an der Dill liegender jüdischer Friedhof wurde bis in die 1840er Jahre genutzt; danach stand ein neues Areal gegenüber dem evangelischen Friedhof zur Verfügung.
Als sich infolge Abwanderung die Zahl der jüdischen Familien in Hermannstein deutlich reduziert hatte, schlossen sich die verbliebenen Familien der jüdischen Gemeinde in Aßlar an. Zu Beginn der 1930er Jahre lebten nur noch zwei Familien und die Inhaberin eines Lebensmittelgeschäftes (Berta Goldschmidt) im Dorf. Während des Novemberpogroms wurden die beiden jüdischen Familienväter Sigmund Isaak und David Simon inhaftiert, auch misshandelt und anschließend ins KZ Buchenwald verbracht. Nach ihrer Freilassung gelang es beiden mit ihren Famiien zu emigrieren.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ wurden sechs gebürtige Juden aus Hermannstein Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/asslar_synagoge.htm)
Der (jüngere) jüdische Friedhof von Hermannstein (Friedensstraße) - angrenzend an den kommunalen Friedhof - weist auf einer Fläche von ca. 600 m² mit seinen ca. 35 Grabsteinen heute noch darauf hin, dass am Ort ehemals eine jüdische Gemeinde bestanden hat.
Die kleine Kultusgemeinde Ehringshausen, die sich zu Beginn der 1930er Jahre aus etwa 40 Angehörigen zusammensetzte, war 1933 der Kultusgemeinde Wetzlar angeschlossen. In einem Hause in der Bahnhofstraße befand sich ihr schlichter Betraum. Die bereits seit der Zeit des Ersten Weltkrieges begonnene Abwanderung (1910 lebten noch 18 jüdische Familien im Ort) setzte sich nach der NS-Machtübernahme fort; die letzten elf jüdischen Bewohner Ehringshausens wurden 1942 deportiert.
1988 wurde auf dem Grundstück der ehemaligen Synagoge in der Bahnhofstraße ein Gedenkstein für die früheren jüdischen Bewohner des Ortes gesetzt; der Text lautet: „Zum Gedenken an die jüdischen Bürger, die 1942 Opfer des Nationalsozialismus wurden. Hier war der Standort der ehemaligen Synagoge.“
[vgl. Ehringshausen (Hessen)]
In Katzenfurt – heute Ortsteil von Ehringshausen – existierte bis Anfang der 1930er Jahre auch eine kleine jüdische Gemeinschaft.
[vgl. Aßlar (Hessen)]
In Münchholzhausen – seit 1979 ein Stadtteil von Wetzlar – gab es bis Anfang der 1930er Jahre eine kleine jüdische Gemeinde. Erstmals werden Juden hier 1519 urkundlich erwähnt. Als 1773 Münchholzhausen an die Grafen Solms in Braunfels fiel, waren in einer Auflistung zwölf jüdische Familien mit etwa 60 Personen verzeichnet. Mit bis zu 50 Angehörigen erreichte die Gemeinde vor Mitte des 19.Jahrhunderts ihren zahlenmäßigen Höchststand und stellte damals damit ca. 10% der Ortsbewohner. Neben einer in einer alten Scheune eingerichteten Synagoge (Kirchstraße) waren eine Mikwe und ein Begräbnisgelände vorhanden.
Auf Grund der NS-Politik verließen ein Teil der jüdischen Familien alsbald seinen Wohnort; die Kultusgemeinde löste sich auf und die im Dorf verbliebenen Juden wurden der israelitischen Gemeinde in Wetzlar angeschlossen. Bei Kriegsbeginn gab es noch 16, im Oktober 1940 noch zwölf jüdische Einwohner. Insgesamt 27 gebürtige bzw. längere Zeit in Münchholzhausen wohnhaft gewesene jüdische Bewohner wurden nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: .alemannia-judaica.de/muenchholzhausen_synagoge.htm).
Auf dem Friedhof in der Herrenweise erinnert neben 15 Grabsteinen heute ein Gedenkstein namentlich an die 17 ermordeten bzw. als verschollen geltenden jüdischen Bewohner.
Gedenkstein (Aufn. Stadt Wetzlar)
In der nordöstlich von Wetzlar gelegenen Ortschaft Vetzberg - heute ein Ortsteil der Kommune Biebertal - war bis Mitte des 19.Jahrhunderts eine winzige jüdische Gemeinde beheimatet, deren Wurzeln im 17.Jahrhundert liegen. 1671 sollen sieben jüdische Familien im Dorf gelebt haben. Zur jüdischen Gemeinde zählten auch die in den umliegenden Dörfern Krofdorf, Atzbach und Rodheim lebenden Juden. Die enge Beziehung zwischen Vetzberg und Atzbach führte dazu, dass bei der Neueinteilung des Kreises Wetzlar in acht Synagogenbezirke (1853) „Atzbach und Vetzberg“ als einer der acht Bezirke der Synagogengemeinde Wetzlar bestimmt wurden. Neben einem Betraum war auch ein kleines Friedhofsgelände (in Atzbach) vorhanden, das um 1670 angelegt und bis Anfang des 20.Jahrhunderts genutzt wurde; hier fanden auch Verstorbene aus Gleiberg, Krofdorf, Wißmar und anderen Orten ihre letzte Ruhestätte. Nachdem sich um 1880/1890 die Gemeinde aufgelöst hatte, schlossen sich die noch verbliebenen jüdischen Dorfbewohner der Rodheimer Kultusgemeinde an.
Jüdischer Friedhof in Vetzberg (Aufn. GR., 2016, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)
Zur jüdischen Gemeinde Vetzberg gehörten auch die wenigen jüdischen Familien aus Atzbach; möglicherweise gab es im Dorf einen eigenen Betraum, ansonsten suchte man die Gottesdienste in Vetzberg auf. Verstorbene wurden auf dem kleinen jüdischen Friedhof in Atzbach beerdigt. Um 1900 hatten alle jüdischen Ortsbewohner ihr Heimatdorf verlassen, die Gemeinde aufgelöst. Der jüdische Friedhof in Atzbach existiert heute nicht mehr; einzelne Grabsteine wurden auf den jüdischen Friedhof nach Wetzlar transloziert.
In Rodheim – heute Gemeinde Biebertal im Kreis Gießen – existierte von ca. 1880/1890 bis gegen Ende des Ersten Weltkrieges eine kleine israelitische Gemeinde; ihre Entstehung stand mit der Auflösung der Gemeinde in Vetzberg in engem Zusammenhang. Das Ende der 1890er Jahre eingeweihte Bethaus wurde nach knapp drei jahrzehntelanger Nutzung an einen Privatmann veräußert, der zum Wohnhaus umbaute.
Bethaus in Rodheim (Rekonstruktionsskizze, Heimatverein Rodheim-Bieber)
Die winzige Gemeinde Rodheim-Vetzberg löste sich Ende der 1920er Jahre völlig auf.
Auch in Waldgirmes - einem Ortsteil der Großgemeinde Lahnau, zwischen Wetzlar und Gießen gelegen - lebten seit Beginn des 19.Jahrhunderts nachweislich einige jüdische Familien, die ihren Lebensunterhalt zumeist mit Viehhandel bestritten. Ob diese allerdings jemals eine eigenständige Gemeinde bildeten, ist unbekannt. Eine Synagoge gab es hier nicht; gottesdienstliche Zusammenkünfte fanden in einem Privathaus Ecke Rodheimer Straße/Ludwigsstraße statt. Doch ein eigenes Begräbnisgelände war vorhanden. - Zu Beginn der 1930er Jahre hielten sich im Ort noch etwa 20 Juden auf, die aber zumeist bald das Dorf verließen. Die letzten jüdischen Einwohner von Waldgirmes wurden im Juni 1942 nach Wetzlar gebracht und von dort aus deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ wurden 13 gebürtige bzw. längere Zeit in Waldgirmes wohnhaft gewesene Juden Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/waldgirmes_synagoge.htm)
Den seit Beginn des 19.Jahrhunderts bestehenden jüdischen Friedhof in Waldgirmes nutzten auch die Juden Rodheims.
Jüdischer Friedhof in Waldgirmes (Aufn. J. Hahn, 2009)
Im Jahre 2013 wurden an drei Standorten von Waldgirmes fünf sog. „Stolpersteine“ verlegt, von denen drei an Angehöríge jüdischer Familien erinnern, die deportiert und in Sobibor ermordet wurden.
In Leun - einer Kleinstadt mit derzeit ca. 5.800 Einwohnern - existierte eine kleine jüdische Gemeinde (Filialgemeinde von Wetzlar) bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts; zu ihr zählten auch die Juden in Biskirchen. In Leun soll das vermutlich älteste jüdische Bethaus in der Region gestanden haben; wegen Baufälligkeit wurde diese bereits Anfang des 19.Jahrhunderts geschlossen.
Ab ca. 1850 war Biskirchen dann Sitz der Gemeinde, nachdem aus Leun fast alle jüdischen Familien verzogen waren. Doch bereits seit ca. 1810 gab es hier eine eigene Synagoge, deren Einrichtung bei den Leuner Juden auf Widerstand gestoßen war; doch trotz aller Proteste wurde Biskirchen bald regionales Synagogenzentrum. Bis zu welchem Zeitpunkt hier gottesdienstliche Zusammenkünfte stattgefunden haben, ist bislang nicht bekannt. Zur jüdischen Gemeinde von Biskirchen gehörten damals auch die in Daubhausen, Edingen und Greifenstein lebenden jüdischen Familien.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind 19 gebürtige bzw. längere Zeit in Biskirchen ansässig gewesene Bewohner mosaischen Glaubens Opfer des Holocaust geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/leun_synagoge.htm)
Jüdischer Friedhof Biskirchen (Aufn. M., 2008, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
2015 wurden im Stadtgebiet von Leun - und zwar ausschließlich in Biskirchen - an sechs Standorten 18 sog. „Stolpersteine“ verlegt, die an Angehörige jüdischer Familien erinnern, die Opfer des Nationalsozialismus geworden sind.
verlegt in der Weilburger Straße in Biskirchen (Aufn. M., 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Im Kreis Wetzlar bestanden noch Anfang des 20.Jahrhunderts vier weitere Synagogen, so in Aßlar, Braunfels, Katzenfurt und Werdorf.
[vgl. Aßlar (Hessen)]
[vgl. Braunfels (Hessen)]
Weitere Informationen:
Karl Watz, Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wetzlar von ihren Anfängen bis zur Mitte des 19.Jahrhunderts (1200 - 1850), in: "Veröffentlichungen des Wetzlarer Geschichtsvereins", Heft 22, Wetzlar 1966 (als Sonderausgabe 1988)
Germania Judaica, Band II/2, Tübingen 1968, S. 882 – 885 und Band III/2, Tübingen 1995, S. 1593 - 1596
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 150/151 (Ehringshausen) und Bd. 2, S. 320/321 (Vetzberg) , S. 336/337 (Waldgirmes) und S. 365 – 380 (Wetzlar)
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 198 - 200
Gerhard Wilhelm Daniel Mühlinghaus, Der Synagogenbau des 17. u. 18.Jahrhunderts im aschkenasischen Raum, Dissertation, Philosophische Fakultät Marburg/Lahn, 1986, Band 2, S. 351
Faltblatt: Dokumente zur Geschichte der Juden in Wetzlar, Bearb. Historisches Archiv Wetzlar (Irene Jung), Hrg. Magistrat der Stadt Wetzlar, 1988
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II: Regierungsbezirke Gießen und Kassel, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 123/124
Karsten Porezag, Zwangsarbeit in Wetzlar – Der „Ausländer-Einsatz“ 1939 – 1945. Die Ausländerlager 1945 – 1949, Wetzlar 2002, S. 436 ff. (Kap. „Die jüdischen Lager“)
Wetzlar, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Rodheim-Bieber, in: alemannia-judaica.de
Münchholzhausen, in: alemannia-judaica.de
Leun und Biskirchen, in: alemannia-judaica.de
Herrmannstein siehe: Aslar mit (Wetzlar)-Herrmannstein, in: alemannia-judaica.de
Monica Kingreen, Die gewaltsame Verschleppung der Juden aus den Dörfern des Kreises Wetzlar und der Stadt Wetzlar, in: "Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins", Bd. 41/2003, S. 167 – 199
Vortragsveranstaltung „Die gewaltsame Verschleppung der Juden aus Wetzlar und den Dörfern des Altkreises Wetzlar im Jahre 1942“ (am 22.9.2004 im Hessenkolleg)
Simon Becker/Marco Pfeiffer/Laura Triller, Geschichte der Juden in Wetzlar, 2004 (online abrufbar)
Karsten Porezag, ‘ ... dann müssen die Steine reden !’ - Die Wetzlarer Synagoge, die Mikwe und die jüdischen Friedhöfe in neuerer Zeit, Hrg. Magistrat der Stadt Wetzlar, Schriften zur Stadtgeschichte (Sonderausgabe), Wetzlar 2004 (2. Aufl. 2007)
Klaus Krumbach, Münchholzhäuser Juden. Im Zeitabschnitt des 19. und 20.Jahrhunderts, 2005
Karsten Porezag, Als aus Nachbarn Juden wurden. Die Deportation und Ermordung der letzten Wetzlarer Juden 1938 - 1943/45, Hrg. Magistrat der Stadt Wetzlar, Schriften zur Stadtgeschichte (Sonderausgabe), Wetzlar 2006
Karsten Porezag, Ernst Leitz aus Wetzlar und die Juden – Mythos und Fakten. Zur Emigration deutscher Juden 1933 – 1941, Metropol Verlag, Berlin 2009
Susanne Meinl, „Eine Fahrkarte nach Palästina können Sie haben ...“ Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wetzlar 1918 bis zu ihrem Ende, hrg. vom Wetzlarer Geschichtsverein, Wetzlar 2010
„Die jüdische Bevölkerung Wetzlars im 20.Jahrhundert“ – Ausstellung im Stadt- und Industriemuseum, in Kooperation mit dem Wetzlarer Geschichtsverein, 2010
Doris und Walter Ebertz, Die jüdischen Familien in Wetzlar – ein Gedenkbuch, hrg. vom Wetzlarer Geschichtsverein e.V., Wetzlar 2010
Marianne Peter, Das Projekt „Jüdische Gemeinde in Wetzlar“ – eine Dokumentation, in: Wetzlarer Geschichtsverein e.V. (Hrg.), "Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins", Band 45/2011, S. 327 – 386
Stolpersteine in Wetzlar – Erinnerungsblätter mit den Biografien der Betroffenen, in: stadt-wetzlar.de
N.N. (Red.), Fünf „Stolpersteine“ in Waldgirmes verlegt, in: „Gießener Anzeiger“ vom 15.6.2013
Jim G.Tobias, Eine jüdische Stadt in Wetzlar, in: haGalil.com, Jan. 2014
Verein Wetzlar erinnert e.V., Begleitung von Stolpersteinverlegungen in Wetzlar, online abrufbar unter: wetzlar-erinnert.de
Klaus Petri (Bearb.), Stolpersteinverlegungen in Wetzlar, online abrufbar unter: wetzlar-erinnert.de/gedenken/juedisches-leben/stolpersteine/stolpersteinverlegung-am-08-09-2015/
Auflistung aller Stolpersteine in Wetzlar, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Wetzlar
Auflistung der in Leun (OT Biskirchen) verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Leun
jem (Red.), Biedertaler SPD stellt Antrag für Verlegung von „Stolpersteinen“, in: „Gießener Anzeiger“ vom 5.1.2020
Ith (Red.), Stolpersteine in Biebertal verlegt, in: „Gießener Anzeiger“ vom 14.9.2021
Franz Ewert (Red.), Als jüdische Mitbürger Teil der Waldgirmeser Gemeinschaft waren, in: mittelhesen.de vom 30.1.2023
Pascal Reeber (Red.), Koalition fordert jüdisches Museum für Wetzlar, in: mittelhessen.de vom 2.2.2024
Olivia Heß (Red.), Karsten Porezag: Zeit reif für jüdisches Museum in Wetzlar, in: mittelhessen.de vom 4.4.2024
Sebastian Reh (Red.), Münchholzhäuser nachen jüdische Geschichte des Ortes sichtbar, in: mittelhessen.de vom 3.6.2024
Pascal Reeber (Red.), Wetzlars Weg zu einem Jüdischen Museum: Der aktuelle Stand, in: mittelhessen.de vom 31.10.2024