Zerbst (Sachsen-Anhalt)

Jüdische Gemeinde - Aschersleben (Sachsen-Anhalt)Bildergebnis für landkreis anhalt-bitterfeld Zerbst/Anhalt ist eine Stadt mit derzeit ca. 21.000 Einwohnern im nördlichen Teil des Landkreises Anhalt-Bitterfeld – ca. 40 Kilometer südöstlich der Landeshauptstadt Magdeburg gelegen (Kartenskizze vom hist. Herzogtum Anhalt, aus: wikipedia.org, gemeinfrei  und  Kartenskizze 'Landkreis Anhalt-Bitterfeld', aus: ortsdienst.de/sachsen-anhalt/anhalt-bitterfeld).

Ansicht von Zerbst – Stich M. Merian, um 1650 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

 

Bereits in der ersten Hälfte des 14.Jahrhunderts waren in Zerbst Juden im sog. „Judenwinkel“ - westlich des Marktes gelegen - ansässig. Die wenigen hier lebenden Juden unterstanden direkt dem Fürsten von Anhalt und waren ihm zur Zahlung von Steuern verpflichtet; gleichzeitig mussten sie aber auch Abgaben an die Stadt Zerbst leisten, die gelegentlich noch durch ‚Sondersteuern’ ergänzt wurden. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie hauptsächlich im Handel und mit Geldgeschäften. Ein Begräbnisgelände soll damals nördlich der Altstadt - nahe dem Ankuhnschen Tore - bestanden haben.

Ende des 15.Jahrhunderts schienen die Juden aus der Stadt vertrieben worden sein; erst im Anfang des 17.Jahrhunderts lebten wieder einige wenige jüdische Familien auf dem Gebiet des Fürstentums Anhalt-Zerbst. Die Ausstellung der Schutzbriefe, die den Besitzern dauerndes Wohnrecht, Schutz von Leben und Eigentum und freie Religionsausübung gewährten, ließ sich der Fürst Friedrich August gegen Entrichtung hoher Abgaben und Steuern bezahlen. Ein jüdischer Friedhof wurde 1769 - oder 1782 - am Stadtrand „Im Ankuhn“ (heute Grüne Straße) angelegt, dessen Nutzung durch Erbpacht-Zahlungen an die herzogliche Kammer geregelt war.

Wenige Jahre später erwarb die Gemeinde ein Grundstück in der Brüderstraße; in dem dortigen Gebäude wurde eine Synagoge, eine Schule und eine Mikwe eingerichtet.

Erst 1884 gründete sich offiziell die Israelitischen Kultusgemeinde Zerbst; zu ihr gehörten auch alle Juden im Umkreis von zwölf Kilometern. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts entschloss sich die Gemeinde, an der Stelle der alten Synagoge einen Neubau zu errichten. Dieser Plan konnte nur Dank des umfangreichen Nachlasses des aus Dessau stammenden Moritz von Cohn realisiert werden. Nach einem feierlichen Abschiedsgottesdienst im November 1904 in der vor dem Abriss stehenden alten Synagoge wurde nach einjähriger Bauzeit am 17.September 1905 das neue, im neoromanischen Stil gestaltete Synagogengebäude an der Wolfsbrücke - mit dem angrenzenden Gemeindehaus - eingeweiht werden. An den Feierlichkeiten nahmen zahlreiche Ehrengäste teil; die Festpredigt hielt der Rabbiner Dr. Isidor Walter, der die Zuhörer aufrief, das harmonische Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in der Stadt zu erhalten und weiter zu pflegen.

Synagoge, Ecke Brüderstraße/Wolfsbrücke (hist. Aufn., Stadtarchiv/Museum der Stadt Zerbst)

Juden in Zerbst:

         --- um 1780 .................... ca.  75 Juden,

    --- 1797 ....................... ca.  80   "  (in 16 Familien),

    --- 1818 ........................... 114   "  ,

    --- 1833 ........................... 122   “  ,

    --- 1867 ...........................  57   "  ,

    --- 1875 ...........................  68   "  ,

    --- 1884 ...........................  81   “   (ca. 20 Familien),

    --- 1890 ...........................  62   “  ,

    --- 1897 ...........................  88   “  ,

    --- 1909 ...........................  78   “  ,

    --- 1925 ...........................  92   “  ,

    --- 1933 ...........................  90   “  ,*      *andere Angabe: 155 Pers.

    --- 1938 ...........................  39   "  ,

    --- 1942 ...........................  30   “  .

Angaben aus: Geschichte jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt - Versuch einer Erinnerung, S. 288

und                  Dietrich Franke (Bearb.), Zerbst, in: Jüdisches Leben in Anhalt, S. 218

Marktplatz mit Rathaus (Aufn. um 1910, aus: wikipedia.org, PD-alt-100)

 

Bereits in der Endphase der Weimarer Republik verließen einige jüdische Bewohner die Stadt Zerbst und wanderten aus.

Zu Beginn des NS-Zeit lebten hier noch etwa 90 Juden, die verschiedenen Berufen nachgingen; so gab es Textilwarenhändler, einen Industriellen, mehrere Viehhändler und je einen Arzt und Rechtsanwalt.

Mit der in der Zerbster Tageszeitung vom 9.Nov. 1938 veröffentlichten Aufforderung „Wir rufen auf zur Abrechnung mit den Juden, der feindlichen Brut inmitten unter uns" und der namentlichen Auflistung aller jüdischer Bewohner wurde auch in Zerbst das gewaltsame Vorgehen gegen die hiesigen Juden vorbereitet. In der Pogromnacht vom November 1938 wurde die Synagoge geschändet, geplündert und die Inneneinrichtung weitgehend verwüstet; wegen der Nähe zu anderen Gebäuden setzte man die Synagoge nicht in Brand. „ ... Das Ausmaß der Verwüstung war jedoch auch ohne Feuersbrunst erschütternd. Die bleiverglasten Fenster waren zerschlagen. Die Scherben bedeckten den Fußboden des Innenraums und die Straße vor dem Gebäude. Das Gestühl war verhackt. Der Thoraschrein war leer, das Vorbeterpult zertrümmert. Die Thorarollen lagen aufgerollt, zerrissen und mit Teer und Kot besudelt zwischen Scherben und Bankteilen in der Synagoge verstreut. Der Thoravorhang lag in Fetzen und beschmutzt auf dem Boden. Der Kronleuchter war heruntergerissen und ebenfalls zerstört. ...” (aus: Walter Briedigkeit, Erinnerungen an die Zerbster Jüdische Gemeinde, S. 93)

Das an die Synagoge angrenzende Gemeindehaus wurde ebenfalls verwüstet und geplündert. Der Kantor der Zerbster Gemeinde soll die Reste der Thorarollen nach jüdischen Brauch beerdigt haben. Die Täter sollen stadtbekannte Rowdies und Schläger gewesen sein, die zumeist der SA angehörten. (Anm.: Das Synagogengebäude wurde später vom Roten Kreuz genutzt. Bei einem Bombenangriff Mitte April 1945 wurde es komplett zerstört.)  Auch jüdische Geschäfte und Wohnungen fielen während des Pogroms dem Mob zum Opfer. Der jüdische Friedhof dagegen blieb von Verwüstungen verschont - vermutlich deshalb, weil er abseits der Stadt gelegen war.

Als letzte Wohnstätte vor ihrer Deportation diente den etwa 30 – 40 Zerbster Juden das an die Synagoge angrenzende Gemeindehaus. In den Kriegsjahren wurden die hier verbliebenen teils nach Auschwitz, teils nach Theresienstadt deportiert.

Im Oktober 1944 war am Rande des Militärflugplatzes Zerbst ein Arbeitslager eingerichtet worden, in dem auf Befehl Heinrich Himmlers “Mischlinge 1.Grades” und “jüdisch Versippte” zum ‘geschlossenen Arbeitseinsatz’ zusammengezogen worden waren. Die zumeist aus Berlin kommenden Transporte umfassten etwa 700 Männer, die u.a. beim Straßenbau und bei Erweiterungsbaumaßnahmen des hiesigen Flugplatzes eingesetzt wurden.

 

Der von einer Mauer umgebene jüdische Friedhof an der Grünen Straße, auf dem sich auf einer Fläche von ca. 1.000 m² heute noch etwa 40 - 50 erhaltene Grabstellen finden, war jahrzehntelang in einen verwahrlosten Zustand, bis er nach 1980 wieder hergerichtet wurde.

Jüdischer Friedhof (Aufn. M_H.De, 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Seit 1993 erinnert an der Ecke Brüderstraße/Wolfsbrücke eine Gedenk- u. Informationstafel an die ehemalige Synagoge - sie wurde durch einen Luftangriff im April 1945 völlig zerstört -  und die jüdischen Bewohner der Stadt.

Seit 2010 werden in Zerbst sog. „Stolpersteine“ verlegt; inzwischen zählt man mehr als 40 dieser in die Gehwege eingelassenen messingfarbenen Gedenktäfelchen, die an Opfer der NS-Gewaltherrschaft erinnern (Stand 2023).

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"Stolpersteine" für die Ehepaare Kariel (Aufn. A.Savin, 2023, aus: wikipedia.org, FAL) und Rosenstiel (aus: wortwellen.blogspot.com)

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verlegt Alte Brücke und in der Brüderstraße (Aufn. A.Savin, 2023, aus: wikipedia.org, FAL)

 An der Ruine der St.Nikolaikirche zeigt ein aus dem 15.Jahrhundert stammendes Steinrelief eine sog. „Judensau“, an deren Zitzen zwei an ihren spitzen Hüten erkennbare Juden saugen (Aufn. M., 2017, aus wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).

Die aus dem späten Mittelalter stammende Schmäh-Plastik wurde jüngst durch eine "Gegenskulptur" - geschaffen vom Bildhauer Hans-Joachim Prager - ergänzt (Stand 2023).

 Modell eines Gegendenkmals zur antijüdischen Sau in Zerbst
 / © Karin Wollschläger (KNA) Am Freitag wurde das Gegendenkmal nach dem Entwurf des Bildhauers Hans-Joachim Prager in der Nikolaikirche in Zerbst eingeweiht.

Modell der 'Gegenskulptur' (Aufn. Karin Wollschläger) und Realisierung vor der St. Nikolaikirche (Aufn. Nikolaus Bernau, 2023)

Von einem Gebäude am Markt haben sich zwei Holzbalken erhalten, die als Schnitzerei ebenfalls eine „Judensau“ zeigen; diese befinden sich heute im Stadtmuseum.

 

Der Großindustrielle Samuel Heinrich Kunheim (ursprünglich Samuel Hirsch) wurde 1781 in Zerbst geboren. Zusammen mit dem Bankier Samuel Bacher Behrend gründete er 1826 eine der ersten chemischen Fabriken in Berlin; das Unternehmen Kunheim & Co erlangte danach eine bedeutende Stellung in der chemischen Industrie Deutschlands. Heinrich Kunheim starb 1848 in Berlin.

 

 

 

Weitere Informationen:

Germania Judaica, Band II/2, Tübingen 1968, S. 939/940 und Band III/2, Tübingen 1995, S. 1718/1719

Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Dresden 1990, Band III, S. 1265 f.

Zeugnisse jüdischer Kultur - Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Tourist Verlag GmbH, Berlin 1992, S. 212

Gymnasium Francisceum (Hrg.), Die Juden in Anhalt - eine geschichtliche Stoffsammlung, Zerbst 1994

M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 679/680

Zerbst- Anhalt, ein Stadtführer, Zerbst 1996, S. 67

Geschichte jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt - Versuch einer Erinnerung, Hrg. Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt, Oemler-Verlag Wernigerode 1997, S. 286 - 289

Holger Brülls, Synagogen in Sachsen-Anhalt, Arbeitsberichte des Landesamtes für Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 3, Verlag für Bauwesen, Berlin 1998, S. 212

Die jüdische Gemeinde in Zerbst, in: "Zerbster Heimatkalender 1998", S. 26 f.

Werner Grossert, Die Jüdische Gemeinde in Zerbst, in: www.geocities.com

Walter Briedigkeit, Erinnerungen an die Zerbster Jüdische Gemeinde, in: Anhalt, deine Juden ... Dessauer Herbstseminar 2000 zur Geschichte der Juden in Deutschland, hrg. von der Moses-Mendelssohn-Gesellschaft Dessau e.V., Heft 13/ 2002, S. 89 - 97

Bernd Gerhard Ulbrich, Nationalsozialismus und Antisemitismus in Anhalt. Skizzen zu den Jahren 1932 - 1942, edition RK, Dessau 2005

Bernd Gerhard Ulbrich (Bearb.), Die Zerstörung der Synagogen in Anhalt, November 1938, online abrufbar unter: mendelssohn-dessau.de/wp-content/uploads/ulbrich_zerstoerung_synagogen_1938.pdf

Marianne Büning, „Nur wie Fremdlinge in unserm eignen Wohnorte betrachtet“ – Geschichte der jüdischen Gemeinde in Zerbst, Hrg. Moses Mendelssohn-Gesellschaft Dessau, 2007

Daniela Apel (Red.), "Stolpersteine" bewahren jüdische Schicksale, in: „Volksstimme“ vom 30.3.2010

Daniela Apel (Red.), 40 "Stolpersteine" erinnern an die Ermordung , in: „Volksstimme“ vom 15.10.2011

Daniela Apel (Red.), Skulptur: Judensau erzählt von Ausgrenzung, in: "Volksstimme" vom 13.10.2016

Auflistung der in Zerbst verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Zerbst/Anhalt

Agnes-Almuth Griesbach (Red.), „ der Treue hält ewiglich“ Psalm 146,6 – Zum Gedenken an das Pogrom am 10.November in Zerbst, in: "Zerbster Heimatkalender", Band 59/2018, S. 38/39

Thomas Drechsel (Red.), Gedenken an Zerbster Pogromopfer, in: "Volksstimme" vom 11.11.2018

Lothar Jeschke (Bearb.), 80 Jahre nach der Pogromnacht, hrg. vom Verein für Anhaltinische Landeskunde vom 26.9.2019

Dietrich Franke (Bearb.), Zerbst, in: D. Bungeroth/J.Killyen/W.-E- Widdel (Bearb.), Jüdisches Leben in Anhalt - „Suche den Frieden und jage ihm nach“ (Psalm 34, 15), Hrg. Kirchengeschichtliche Kammer der Ev. Landeskirche Anhalts, Dessau-Roßlau 2020, S. 210 - 219 (in 3.Aufl. von 2023, S. 214 - 229)

dp (Red.), Gedenktafel zeugt von Synagoge in Zerbst: Die Pogromnacht überstand das Gebäude, den Bombenangriff nicht, in: „Volksstimme“ vom 30.7.2021

Daniela Apel (Red.), Über das wechsellhafte jüdische Leben in Zerbst: von der Vernichtung einer Gemeinde bis zu den heutigen Spuren, in: „Volksstimme“ vom 31.7.2021

Karin Wollschläger (Red.), Künstlerischer Signal – Zerbster Kirche setzt „Gegendenkmal“ zu antijüdischen „Sau“, in: Domradio.de vom 4.10.2022

Daniela Apel (Red.), Antijüdische Plastik in Zerbst - "Judensau“: Zerbst entscheidet sich für Gegendenkmal, in: „Volksstimme“ vom 5.10.2022

Larissa Kunert (Red.), ‚Judensau' in Zerbst. Kampf der Botschaften, in: "nd – Journalismus von links" vom 5.10.2022

Deutschlandfunk (Red.), Gegendenkmal zur Zerbster „Judensau“enthüllt, in: deutschlandfunk.de vom 1.6.2023

Markus Geiler (Red.), Zerbst. Gegendenkmal zur „Judensau“ enthüllt, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 2.6.2023

Nikolaus Bernau (Red.), Umgang mit Schmähskulpturen - Wir müssen uns der Geschichte stellen, in: „Frankfurter Allgemeine“ vom 4.6.2023 (betr: 'Gegenskulptur' zur 'Judensau')