Zierenberg (Hessen)
Zierenberg ist heute eine Kleinstadt mit derzeit ca. 7.000 Einwohnern im nordhessischen Landkreis Kassel (Ausschnitt aus hist. Landkarte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Kassel', aus: ortsdienst.de/hessen/landkreis-kassel).
Ansicht von Zierenberg – Stich M. Merian, um 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Einzelne Juden siedelten sich bereits im 14.Jahrhundert in Zierenberg an; auch während des Dreißigjährigen Krieges sollen einige jüdische Familien hier gelebt haben. Im 18.Jahrhundert ist eine dauerhafte Ansässigkeit von bis zu zehn Familien belegt. Bis weit ins 19.Jahrhundert hinein war Vieh- und Kleinwarenhandel ihre Haupterwerbsquelle.
Eine Synagoge besaß die Judenschaft Zierenbergs in der Langen Straße. Als in den 1890er Jahren die baupolizeiliche Schließung des Gebäudes drohte, entschloss sich die jüdische Gemeinde zum Bau einer neuen Synagoge. Der Landrabbiner unterstützte die Gemeinde dabei durch einen persönlichen Spendenaufruf.
Im Spendenaufruf des Landrabbiners Dr. Prager (Kassel) zum Bau der neuen Synagoge hieß es:
Die israel. Gemeinde zu Zierenberg, Reg-Bez. Cassel, ist gezwungen, ein neues Gotteshaus zu errichten. Das bisherige, welches schon seit 30 Jahren baufällig ist, wurde bisher mühsam durch fortgesetzte Ausbesserungen erhalten, weil die Gemeinde die Kosten eines Neubaues scheute. Gegenwärtig aber, von den Behörden mit der polizeilichen Schließung ihres Bethauses bedroht, sieht sie sich vor die unabweisbare Notwendigkeit gestellt, ein neues, in Verbindung mit einem Frauenbade und Schullokale herzustellen.
Die anerkennenswerthe Opferwilligkeit der kleinen Gemeinde, sowie ihre Bereitwilligkeit, durch eine Anleihe neue Lasten zu übernehmen, ferner die von den dortigen Vereinen angesammelten Fonds, endlich eine durch Privatsammlung in der Gemeinde Cassel in Aussicht gestellte Unterstützung haben mehr als drei Viertel des Kostenanschlages gesichert. Noch aber fehlen etwa 3.000 Mark!
Im Vertrauen, dass dieses fromme Werk auch außerhalb unseres engeren Bezirks wohlwollende Förderung finden werde, verbindet der Unterzeichnete seine Bitte mit dieser Gemeinde, daß Alle, die eine so notwendige und hochwichtige gebotene Sache mit freundlichem Herzen und offener Hand unterstützen können, hilfreich durch größere oder kleine Beiträge das Zustandekommen des frommen Werkes ermöglichen und dadurch einer kleinen, aber opferwilligen Gemeinde zu Beschaffung ihrer unentbehrlichsten Einrichtungen verhelfen möchten.
Cassel. Der Landrabbiner: Dr. Prager.
(aus: „Der Israelit“ vom 5. Juni 1895)
Im Jahre 1899 konnte das neue Synagogengebäude in der Mittelstraße vom Landesrabbiner Dr. Prager aus Kassel eingeweiht werden; neben einer Frauenempore verfügte der Bau über einen Schulraum und eine Mikwe.
Synagoge in Zierenberg (hist. Aufn., Archiv)
In der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 26. Januar 1899 wurde über die Einweihung wie folgt berichtet:
Zierenberg (R.Bez. Cassel). Ein sehr schönes Fest feierte am vergangenen Mittwoch unsere Gemeinde. Es galt die Einweihung der neuen Synagoge. Schon am Schabbat zuvor fand in dem seitherigen Gotteshaus die Abschiedsfeier durch unseren Lehrer Herrn Rosenbaum statt, ... Die ganze Gemeinde war angesichts des Scheidens von der Stätte, in der sie seit Jahrhunderten ihre Andacht verrichtet, sichtlich tief ergriffen. Am Tage der Einweihung versammelte sich die Gemeinde nochmals im alten Gotteshause, wo auch Sr. Ehrwürden Herr Landrabbiner Dr. Prager aus Cassel Abschied von den altehrwürdigen Räumen nahm, wurden unter Gesang die Thorarollen hinausgetragen und in einem sehr großen imposanten Zuge, woran auch die Spitzen der städtischen Behörden theilnahmen, ging es nach der neuen Synagoge, daselbst wurde von einem Musikchor zunächst das Beethoven'sche Lied: Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre, in feierlicher Weise vorgetragen. Alsdann überreichte eine hiesige junge Dame unter einer poetischen Ansprache dem Herrn Landrabbiner die Schlüssel, welcher unter ergreifenden Worten die Pforte zum Gotteshause öffnete. ... unter Leitung ihres Lehrers Herrn Gutkind wurden die Thorarollen in den Thoraschrein gebracht und nach einem Choralgesang hielt Herr Dr. Prager die alle Anwesenden begeisternde Einweihungsrede, die ihren Höhepunkt in dem äußerst gefühlvollen Gebete erreichte. Nach dem Anzünden des Ner tamid (= ewigen Lichts) und einem Schlußgesang war die officielle Feier beendet, ... Ein gemeinschaftliches Festmahl, bei welchem Herr Dr. Prager den Kaisertoast ausbrachte, schloß die überaus würdige und erhebende Feier. Am folgenden Tage wurde in ebenfalls feierlicher Weise das Lokal für die israelitische Volksschule seiner Bestimmung übergeben ... „
Eine eigene jüdische Elementarschule war um 1840 etabliert worden; als die Zahl der Schüler deutlich geringer geworden war, wurde mit der Pensionierung des hier mehr als 40 Jahre hier tätigen letzten Lehrers Siegmund Rosenbaum die Schule 1922 geschlossen.
aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 12.8.1926
Ab der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts besaß die jüdische Gemeinde an der Ehlener Straße eine eigene kleine Beerdigungsstätte vor Ort; in den Zeiten zuvor waren die Verstorbenen auf dem Friedhof in Meimbressen beerdigt worden.
Juden in Zierenberg:
--- 1646 ............................ 4 jüdische Familien,
--- um 1745 ......................... 6 “ “ ,
--- um 1790 ......................... 44 Juden (in 10 Familien),
--- 1801 ............................ 61 “ ,
--- 1835 ............................ 85 “ ,
--- 1858 ............................ 136 “ (ca. 7% d. Bevölk.),
--- 1870 ........................ ca. 100 “ ,
--- 1885 ............................ 106 “ ,
--- 1905 ............................ 73 “ (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1924 ............................ 62 “ ,
--- 1933 ............................ 57 “ ,
--- 1939 (Jan.) ..................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 444
Von den gewalttätigen Ausschreitungen im Revolutionsjahr 1848 waren auch die jüdischen Bewohner von Zierenberg betroffen; ihr Eigentum wurde erheblich beschädigt. Die Zierenberger jüdische Gemeinde erreichte Mitte des 19.Jahrhunderts mit etwa 140 Angehörigen ihren Höchststand. In dieser Zeit lebten die meisten Zierenberger Juden vom Kleinhandel und Handwerk; erst Ende des Jahrhunderts entstanden am Ort größere Geschäfte, deren Besitzer es zu gewissen Wohlstand brachten.
Gewerbliche Anzeige der Metzgerei Levi Heß von 1927
Innerhalb der kleinstädtischen Gesellschaft genossen die jüdischen Bürger Ansehen; dies dokumentierte sich auch in zahlreichen Mitgliedschaften in lokalen Vereinen und ihrer Teilnahme am öffentlichen Leben. Trotzdem waren weiterhin latente Animositäten vorhanden, die mit den Wahlerfolgen der NSDAP offen zu Tage traten. Nach der NS-Machtübernahme 1933 wurde auch in Zierenberg der reichsweit angeordnete Boykott jüdischer Geschäfte durchgeführt; zudem kam es bereits 1933 auch zu Ausschreitungen.
Während des Novemberpogroms von 1938 zerstörten fanatische NSDAP-Angehörige die hiesige Synagoge, demolierten Wohnungen jüdischer Bewohner und machten auch vor dem jüdischen Friedhof nicht halt. Die Zerstörungen sollen in Zierenberg bereits am 7. November begonnen haben. Das Friedhofsgelände wurde 1939 größtenteils eingeebnet, die Synagogenruine nach 1945 niedergelegt. Die meisten jüdischen Einwohner Zierenbergs wanderten noch vor Kriegsbeginn ab und zogen nach Kassel; die letzte Abmeldung stammt vom 28.12.1939. Wem die Emigration nicht gelang, der wurde vermutlich deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem sind nachweislich 27 gebürtige bzw. über einen längeren Zeitraum hinweg am Ort ansässig gewesene jüdische Bürger Zierenbergs dem Holocaust zum Opfer gefallen (namentliche Nennung der Opfer siehe: alemannia-judaica.de/zierenberg_synagoge.htm).
Aufn. B., 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0
Nur elf originale Grabsteine und drei Grabplatten haben die NS-Zeit überdauert.
Jüdischer "Restfriedhof" (Aufn. Bubo, 2013, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Ein 1946 errichteter Gedenkstein auf dem eingeebneten Friedhofsgelände in der Ehlener Straße trägt die folgende Inschrift:
Hier ruhen die Gebeine der Juden Zierenbergs.
Zeuge sei dieser Gedenkstein für alle Grabsteine, die einst an diesem Ort standen und durch Naziterror vernichtet wurden.
1938 - 1946
Im November 1988 wurde am ehemaligen Standort der Synagoge eine Gedenktafel angebracht (Aufn. J. Hahn, 2008).
Auf Grundlage von Recherchen der AG "Erinnerungskultur Zierenberg" wurden 2016 in Zierenberg an fünf Stellen insgesamt 22 sog. „Stolpersteine“ in die Gehwegpflasterung verlegt, die jüdischen Opfern der NS-Gewaltherrschaft gewidmet sind. Ein Jahr später kamen weitere zwölf Steine hinzu. Mit der Verlegung von fünf weiteren "Stolpersteinen" (2019) und einer letzten Aktion (Frühjahr 2020) wurde das Projekt der „AG Erinnerungskultur Zierenberg“ abgeschlossen; danach sind nun insgesamt ca. 50 messingfarbene Gedenkquader in den Gehwegen im Stadtgebiet aufzufinden.
verlegt für Fam. Lamm, Marktplatz (Aufn. A., 2017, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)
in der Poststraße
in der Burgstraße für Familie Kaiser (Aufn. G., 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 444 - 446
Verbrannte Geschichte. Schrifttumsverzeichnis zur Kultur- und Sozialgeschichte der Juden in den alten Kreis Hofgeismar, Kassel, Wolfhagen und in der Stadt Kassel, in: Schriftenreihe "Die Geschichte unserer Heimat", Bd. 5, Hofgeismar/Kassel 1989
Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - Eine Dokumentation, Hrg. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995, S. 367
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II: Regierungsbezirke Gießen und Kassel, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 88
Zierenberg, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen, zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Wilfried Wicke, „Wir lernen nur, wenn wir nicht vergessen“, in: "kibuz – kirchliche Informationen Burghasungen und Zierenberg", Okt. 2008
Antje Thon, Auf dem jüdischen Friedhof in Zierenberg sind Sepharden bestattet, in: „Hessische Allgemeine“ vom 11.10.2013
Norbert Müller (Red.), Steine bringen die Namen zurück, in: "HNA - Hessische-Niedersächsische Allgemeine" vom 15.9.2016
Karsten Engel (Red.), Elisabeth-Selbert-Schule Zierenberg: Schüler der G9A bei der Verlegung „ihrer“ Stolpersteine, Artikel vom 5.9.2017
Bea Ricken (Red.), Vertriebene jüdische Familie sucht ihre Wurzeln in Zierenberg, in: „HNA - Hessische-Niedersächsische Allgemeine“ vom 6.11.2018
N.N. (Red.), Gegen das Vergessen – Nachfahren jüdischer Bürger in Zierenberg, in: lokalo24.de/lokales/landkreis-kassel/
AG Erinnerungskultur (Hrg.), Jüdisches Leben in Zierenberg bis 1938 – Broschüre, Zierenberg 2018
Lasse Deppe (Red.), Stolpersteine erinnern in Zierenberg an Opfer des Holocaust, in: „HNA – Hessische-Niedersächsische Allgemeine“ vom 10.5.2019
Auflistung der in Zierenberg verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Zierenberg
Stadt Zierenberg (Hrg.), Biografien der jüdischen Familien, online abrufbar unter: stadt-zierenberg.de/stadt-buergerservice/stadtportraet/stolpersteine-erinnerungskultur/biografien/
AG Erinnerungskultur Zierenberg (Hrg,), Erinnerungen – Jüdische Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart, 2020
Johannes Siebert (Red.), Jüdischer Friedhof in Zierenberg kategorisiert und in Lageplan aufgenommen, in: „HNA – Hesissche-Niedersächsische Allgemeine“ vom 6.5.2024