Zülpich/Voreifel (Nordrhein-Westfalen)
Die „Römerstadt“ Zülpich ("Tolpiacum“) im Kreis Euskirchen – ca. 35 Kilometer westlich von Bonn gelegen - zählt derzeit ca. 21.000 Einwohner, die sich auf die Kernstadt und mehr als 20 eingemeindete Ortschaften verteilen (hist. Karte des Kreises Euskirchen, aus: wikipedia.org, Bild-PD-alt und Kartenskizze 'Kreis Euskirchen', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Grundriss von Zülpich, um 1750 (aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Bereits vor den Pestpogromen 1348/1349 existierte in Zülpich - in einer der ältesten Städte des Rheinlandes - eine kleine jüdische Gemeinschaft, der auch ein Bethaus gehörte. Die Zülpicher Juden lebten vornehmlich vom Geldverleih und unterhielten wirtschaftliche Kontakte zu Köln und anderen Städten am Niederrhein.
Nach ihrer Vertreibung bzw. Ermordung im Zuge der Pestpogrome haben einige wenige jüdische Familien vermutlich zeitweilig wieder in Zülpich gelebt; aber erst ab dem 17.Jahrhundert ist eine dauerhafte Ansässigkeit von Juden in Zülpich belegt. Zwischen der Stadt und den hier lebenden Juden kam es mehrfach zu wirtschaftlich motivierten Differenzen; zudem führte der zeitweilige Aufenthalt von unvergleiteten Juden zu Konflikten, die von der Obrigkeit durch Kontrollen und Aufenthaltsverbote entschärft wurden.
Ansicht von Zülpich um 1830 (Abb. aus: Rheinischer Städteatlas, Institut für Landeskunde ...)
Die alte Synagoge in der Nähe der Marienkirche hinter dem Markt wurde 1848 durch einen neue Synagoge - einen massiven Backsteinbau - in der Normannengasse ersetzt. Der Innenraum verfügte über 70 Männer- und etwa 40 Frauenplätze.
Synagoge in Zülpich (Lithographie J.F.Steiner)
Über die Einweihung der neuen Synagoge berichtete die „Allgemeine Zeitung des Judenthums” am 28. August 1848:
... Dank den braven Mitbürgern von Zülpich, welche bei der am 12. d.M. stattgehabten Einweihung der neuen Synagoge unser glänzendes Fest verherrlichten. Dank der Bürgergarde, welche bewiesen hat, daß sie nicht in alten Vorurtheilen hängt, vielmehr nach den Grundsätzen der Humanität auch unsere Konfession mit Achtung behandelt. Wen mußte es nicht tief rühren, als die Bürgergarde beim Eintritt der heiligen Bücher in das neue Gotteshaus präsentierte ! Wir werden es nie vergessen, daß uns so freundschaftlich die Hand zur Liebe geboten wurde ! Von Nah und Ferne waren unsere Glaubensgenossen zu dem schönen Feste herbeigekommen, ... Jeder mußte sich gestehen: hier herrscht wahre Nächstenliebe, hier herrscht echter deutscher Biedersinn ! ...
Die jüdische Schule, seit 1866 als öffentliche Schule geführt, bestand bis in die NS-Zeit.
Bereits im 16. Jahrhundert muss in Zülpich ein jüdischer Begräbnisplatz angelegt worden sein. In den 1950er Jahren musste der Friedhof einem Braunkohlentagebau weichen; die mehr als 200 Grabstätten wurden daraufhin auf den jüdischen Friedhof in Köln-Ehrenfeld verlegt. Heute lassen sich aber nur noch 45 Grabsteine vom aufgelassenen Friedhof auffinden.
Der Synagogengemeinde Zülpich gehörten zeitweilig auch die Juden aus den Ortschaften Sinzenich, Enzen, Nemmenich und Kommern an.
Juden in Zülpich:
--- 1749 ............................ 14 jüdische Familien,
--- 1788 ............................ 69 Juden,
--- 1806/08 ......................... 53 “ ,
--- 1857 ............................ 74 “ ,
--- 1872 ............................ 107 “ ,
--- 1885 ............................ 113 “ ,
--- 1895 ............................ 111 " ,
--- 1900 ............................ 88 “ ,
--- 1911 ............................ 89 “ ,
--- 1932 ............................ 95 “ ,
--- 1933 ............................ 91 “ ,
--- 1939 (Mai) ...................... 87 “ ,
--- 1942 (Aug.) ..................... keine.
Angaben aus: Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil I: Reg.bez. Köln, S. 385
und Klaus H.S. Schulte, Dokumentation zur Geschichte der Juden am linken Niederrhein ..., S. 252
Cölnstraße und Münstertor - Postkarten um 1910 (aus: akpool.de und zvab.com)
Innerhalb der Zülpicher Judenschaft gab es große soziale Unterschiede; zu den wohlhabenden Familien gehörten einige Pferde- und Viehhändler. Zu Beginn der 1930er Jahre lebten in Zülpich knapp 100 jüdische Bürger.
Nur wenige Stunden vor Beginn der „Aktionen“ des November 1938 versuchte der Zülpicher Bürgermeister das Synagogengebäude in den Besitz der Stadt zu bringen; der Vorsteher der jüdischen Gemeinde hatte bereits einem Kaufvertrag zugestimmt. Doch auswärtige SA-Angehörige steckten das Synagogengebäude in Brand. Die herausgeschleppten Kultgeräte und die Inneneinrichtung wurden zerschlagen und anschließend verbrannt. Nach der Zerstörung des Gebäudes war die Stadt nicht mehr an dessen Ankauf interessiert; das Gelände ging an einen Zülpicher Privatmann, der sich nur verpflichtete, die Synagogenruine abtragen zu lassen. Auch einige Wohnungen jüdischer Familien wurden während der Novembertage demoliert, teilweise geplündert und zerstört. Im Juli 1942 wurden die noch in Zülpich verbliebenen jüdischen Bewohner aus ihren Häusern geholt und im „Judenhaus“ in der Luntzenberger Strasse zusammengepfercht; von hier aus wurden sie wenig später deportiert.
Am ehemaligen Standort der Synagoge in der Normannengasse (im Ortszentrum Zülpichs) ist seit 1978 eine Gedenktafel (Abb. R. Juhl, 2010, aus: hans-dieter-arntz.de) mit dem folgenden kurzen Hinweis angebracht:
Hier stand die jüdische Synagoge
Zerstört am 9.November
Anm.: Allerdings wurde die Synagoge tatsächlich am 10. November 1938 zerstört.
Zehn Jahre später wurden an gleicher Stelle zwei Gedenktafeln in eine Ziegelsteinmauer eingelassen, die an die zerstörte Synagoge erinnern. Die Inschrift der linken Tafel, die eine stilisierte Ansicht der ehemaligen Synagoge zeigt, lautet: „Hier stand die jüdische Synagoge – zerstört am 08.11.1938“ , auf der rechten Tafel steht: „Erinnerung – Mahnung – Verpflichtung, Zülpich im November 1988“.
Am Zülpicher Weiertor erinnert ein Gedenkstein an den alten jüdischen Friedhof, der im Gefolge des Braunkohlenabbaus der Grube Victor aufgegeben wurde; etwa 250 Gräber wurden auf den jüdischen Friedhof Köln-Ehrenfeld transloziert. Die Inschrift auf der Gedenktafel lautet::„ Am 5.2.1958 – 22.2.1958 ist der ZÜLPICHER FRIEDHOF insgesamt 252 Gräber von 1800 – 1939 aus technischen Gründen umgebettet wurden. Die Bestattung fand unter Beteiligung der Mitglieder der Synagogen-Gemeinde Köln statt. Mögen eingehen in den Bund ewigen Lebens ruhen in Frieden und unsere Handlungen verzeihen.“
Dank der Initiative des lokalen Geschichtsvereins wurde 2015 mit der Verlegung der ersten sog. "Stolpersteine“ begonnen. Allein acht messingfarbene Gedenkquader erinnern an Angehörige der Familie Klaber.
Jüngst (2020) wurden bei Baumaßnahmen unter dem Straßenbelag in der Martinstraße Fragmente jüdischer Gebetbücher aufgefunden, die auf dem Grundstück des Viehhändlers Moritz Sommer vergraben worden waren bevor die Deportationen einsetzten. Die aufgefundenen Relikte waren allerdings in einem schlechten Erhaltungszustand. Forschungen des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) ergaben, dass es sich dabei um jüdische Gebetbücher aus dem Anfang des 20.Jahrhunderts handelt.
Aufn. J. Vogel, LVR-LandesMuseum Bonn.
Im Zülpicher Stadtteil Sinzenich lebten seit Mitte des 18.Jahrhunderts auch einige jüdische Familien, zu keiner Zeit aber mehr als 40 Personen. Die jüdische Gemeinschaft besaß hier zunächst einen Betraum (im Obergeschoss des Hauses der jüdischen Textilhändler-Familie Horn), später dann in einem winzigen Anbau des gleichen Gebäudes - und ein kleines Friedhofsgelände. Trotz Widerstände mussten sich die Sinzenicher Juden 1848 der Synagogengemeinde Zülpich anschließen; kurz nach dem Ersten Weltkrieg trennte sie sich wieder, um sich 1919 erneut mit Zülpich und Kommern zu verbinden. - Während des Novemberpogroms von 1938 kam es in Sinzenich zu Plünderungen größeren Ausmaßes. Mindestens sechs Sinzenicher Juden fielen dem Holocaust zum Opfer.
Die unscheinbare und bis in die Gegenwart völlig vergessene Landsynagoge von Sinzenich ist das einzige jüdische Gotteshaus im heutigen Kreis Euskirchen, das den Novemberpogrom 1938 unzerstört überstand und bis heute erhalten geblieben ist; das als Wohnhaus genutzte Gebäude steht aber nicht unter Denkmalschutz.
Der in der Gartenstraße, mitten in einem Neubaugebiet liegende jüdische Friedhof, der in der NS-Zeit schwer geschändet und nach 1945 wieder hergerichtet wurde, weist heute noch 16 Grabsteine auf.
Aufn. Reinhardhauke, 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0
Weitere Informationen:
Peter Simons, Beiträge zur Geschichte der Stadt Zülpich, Zülpich 1910
Germania Judaica, Band II/2, Tübingen 1968, S. 944/945
Klaus H.S. Schulte, Dokumentation zur Geschichte der Juden am linken Niederrhein seit dem 17.Jahrhundert, in: "Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein ...", Band 12, Verlag L.Schwann, Düsseldorf 1972, S. 195/196 und S. 224 - 231
Hans-Dieter Arntz, Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet Kreisgebiet Schleiden - Euskirchen - Monschau - Aachen - Eupen/Malmedy, Kümpel-Verlag Euskirchen 1990
Helmut Nagelschmitz, Die Zülpicher - eine Chronik, Bonn 1993, S. 17 ff.
Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil I: Regierungsbezirk Köln, J.P.Bachem Verlag, Köln 1997, S. 385 - 390
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 499 und S. 579/580
Joachim Sprothen (Red.), In Zülpich lebten mehr Juden als Protestanten, in: „Kölner Stadt-Anzeiger" vom 11.11.2001
David Jung, Juden in Sinzenich, insbesondere zur Zeit des Nationalsozialismus (Zeitzeugenbefragung, Schülerfacharbeit Franken Gymnasium Zülpich 2004 (überarbeitet 2012)
Hans-Dieter Arntz, „Reichskristallnacht“. Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande - Gerichtsakten und Zeugenaussagen am Beispiel der Eifel und Voreifel, Helios-Verlag, Aachen 2008
Rafi Juhl, Auf den Spuren der jüdischen Familie Juhl aus Zülpich, Israel 2010 (in dt. Übersetzung von H.-D. Arntz)
Hans-Dieter Arntz, Auf den letzten Spuren jüdischen Betens in der Voreifel – Die vergessenen Landsynagogen von Lommersum und Sinzenich, in: "Jahrbuch des Kreises Euskirchen 2012", S. 37 - 42
Franz-Josef Knöchel (Hrg.), Synagoge Zülpich, in: KuLaDig, Kultur.Landschaft.Digital
Petra Grebe (Red.), Erinnerung an jüdische Bürger: Stolpersteine in Zülpich, in: eifelon.de vom 24.12.2015
Auflistung der in Zülpich verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter. wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Zülpich
Ausstellung: „Die Klabers - Geschichte einer jüdischen Familie aus dem Rheinland“, erstellt von der Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus, Bonn (gezeigt in Zülpich 2015/2016)
Bernhard Wißmann, Neue Beiträge zur Geschichte Zülpichs von der Römerzeit bis Ende des Kurstaates, hrg. vom Kreis-Geschichtsverein, Band 38, Zülpich 2020
Tom Steinicke (Red.), Spektakulärer Fund. Jüdische Gebetbücher bei Straßenarbeiten in Zülpich entdeckt, in: „Kölnische Rundschau“ vom 9.12.2021
Stadtverwaltung Zülipch (Red.), Stille Zeugnisse des Holocausts – Fragmente jüdischer Gebetbücher aus Zülpich, online abrufbar unter: zuelpich.de/aktuelles/meldungen/stille-zeugnisse-des-holocausts.php (2021)
Rita Reibold, Jüdisches Leben in Zülpich (Publikation in Vorbereitung)